Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 1993 abgeändert.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11. Juli 1991 wird zurückgewiesen.
Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin trägt seit 1981 rechts und seit 1986 links ein künstliches Hüftgelenk. Das Versorgungsamt stellte aufgrund dessen und anderer Gesundheitsstörungen einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G) fest. Auf einen Verschlimmerungsantrag erkannte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 7. Juni 1988 als wesentliche Behinderung die Auswirkungen einer „Lockerung der rechten Keramikpfanne” sowie die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen aG) an und erhöhte den GdB auf 90. Nach einer schon damals empfohlenen Operation am rechten Hüftgelenk strich das Versorgungsamt durch Bescheid vom 5. Januar 1990 (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1990) den Zusatz „Lockerung der rechten Keramikpfanne” und entzog das Merkzeichen „aG”. Die Klägerin machte geltend, es sei hinsichtlich der Gehfähigkeit keine Änderung eingetreten.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und festgestellt, die Gelenkpfanne sitze fest, die Klägerin könne wieder besser gehen als zur Zeit der Entscheidung vom 7. Oktober 1987 und die Voraussetzungen für „aG” lägen nicht mehr vor (Urteil des SG Würzburg vom 11. Juli 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat hingegen der Klage stattgegeben und festgestellt, es sei zwar richtig, daß heute die tatsächlichen Voraussetzungen für „aG” fehlten; die Entziehung setze aber den Nachweis voraus, daß diese Voraussetzungen zur Zeit des Bescheids vom 7. Juni 1988 vorgelegen hätten. Davon könne sich das Gericht nicht überzeugen. Es fehlten in dem damaligen Bescheid und auch in dem damaligen Gutachten Angaben darüber, wie sich die Lockerung auf die Bewegungsfähigkeit ausgewirkt habe. Aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Februar 1983 (SozR 3-1300 § 48 Nr 25) folge zwar, daß in einem solchen Fall davon ausgegangen werden müsse, daß der bindend gewordene Bescheid zutreffend gewesen sei. Dieser Rechtsauffassung sei aber nicht zu folgen, weil sie nicht überzeuge und eine Auseinandersetzung mit anderer Rechtsmeinung auch des BSG selbst (BSGE 7, 295) fehle.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG war abzuändern und das Urteil des SG wiederherzustellen. Das SG hat die angefochtenen Bescheide des Beklagten zu Recht bestätigt.
Der Klägerin wurde durch diese Bescheide das Merkzeichen „aG” zu Recht entzogen. Die Entziehung ist auf § 48 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) gestützt. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Daß die Voraussetzungen für „aG” zur Zeit des Entziehungsbescheides nicht vorlagen, was unstreitig ist, beruht auf einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die zur Zeit des Bescheides vom 7. Juni 1988 (Vergleichsbescheid) vorlagen und mit denen die späteren Verhältnisse verglichen werden müssen. Entgegen der Meinung des LSG besteht keine rechtliche Möglichkeit anzunehmen, die tatsächlichen Voraussetzungen für „aG” hätten schon zur Zeit des Vergleichsbescheids nicht vorgelegen.
Eine solche Annahme wäre möglicherweise dann zu erwägen, wenn in dem Vergleichsbescheid für die Erteilung von „aG” keine Begründung gegeben worden wäre oder wenn die gegebene Begründung sich als falsch herausgestellt hätte. In solchen Fällen ist es zweifelhaft, ob sich das Gericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung davon überzeugen kann, daß der relativ gute Zustand des Behinderten zur Zeit des Entziehungsbescheids auf eine Änderung zurückzuführen ist. Aber auch dann ist der Nachweis der Änderung jedenfalls bei klarer Aktenlage möglich (vgl Urteil des Senats vom 11. Oktober 1994, 9 RVs 2/93 „Heilungsbewährungsfall”). Der Nachweis kann aber auch dann gelingen, wenn bei der Beweiswürdigung die allgemeine Erfahrung beachtet wird, daß die Verwaltung die wirklichen Auswirkungen eines regelwidrigen körperlichen Zustands auch dann zutreffend mißt und bewertet, wenn sie die Ursache der Krankheit falsch beurteilt (vgl BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 25 „Bechterew-Fall”). Im vorliegenden Fall besteht aber für solche Erwägungen zur Beweislast oder zu Beweiswürdigungsregeln aufgrund der eigenen Feststellungen des LSG kein Grund. Es steht fest, daß eine Änderung stattgefunden hat, und zwar gerade in Bezug auf die Behinderung, die Anlaß war, „aG” zu gewähren, dh in Bezug auf die Bewegungsschwierigkeit durch Lockerung der rechten künstlichen Gelenkpfanne, die inzwischen durch eine erfolgreiche Operation behoben worden ist. Ob diese Änderung wesentlich war, muß allerdings entschieden werden. Insoweit handelt es sich aber um eine Rechtsfrage, die unter Anwendung des Schwerbehindertenrechts und des Verwaltungsverfahrensrechts beantwortet werden muß.
Die Änderung war wesentlich. Wesentlich wäre sie nur dann nicht, wenn die Entscheidung im Vergleichsbescheid unrichtig gewesen wäre, die Klägerin also schon damals keinen Anspruch auf das Merkzeichen „aG” gehabt hätte. Zu einem solchen Ergebnis kann das Gericht aufgrund der festgestellten und unbestrittenen Tatsachen nicht kommen. Der Anspruch der Klägerin richtete sich nach § 4 Abs 4 des Schwerbehindertengesetzes iVm § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz, § 3 Abs 1 Nr 1 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz und der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO). Nach dieser Vorschrift, die in den Anhaltspunkten 1983 (S 125) auszugsweise wiedergegeben und kurz erläutert wird (S 129), erfüllen die gesundheitlichen Merkmale für „aG” Personen, die an bestimmten Gesundheitsstörungen (zB Gliedmaßenverlusten) leiden. An einer der dort ausdrücklich genannten Krankheiten leidet die Klägerin zwar nicht. Nach Nr 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO zählen zu den Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung aber auch „andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind”.
Die danach zu treffende Entscheidung der Verwaltung enthält eine Wertung, die selbst dann nicht in vollem Umfang gerichtlich zu überprüfen gewesen wäre, wenn sie die Klägerin belastet hätte und mit einer Anfechtungsklage angegriffen worden wäre. Hier ist die Entscheidung aber sogar positiv gewesen und bindend geworden. Bei einer die Behinderte begünstigenden Entscheidung müßten schon gravierende Fehler vorliegen, um entgegen ihrem damaligen Interesse und entgegen ihrer damaligen Beschwerdenschilderung feststellen zu können, die Verwaltung habe ihren Wertungsspielraum überschritten. Ohne Anlaß für die Annahme, daß ein solcher Wertungsfehler vorliegt, ist eine volle Tatsachenermittlung jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn sich die Entscheidung im Rahmen der Anhaltspunkte hält (vgl BSG SozR 3870 § 4 Nr 3 S 13). Das ist hier der Fall. Zwar kann bezweifelt werden, ob die Klägerin im Streitfall gerichtlich hätte durchsetzen können, so behandelt zu werden wie die in der oben genannten Verwaltungsvorschrift ausdrücklich genannten Kranken. Ebensowenig kann sie aber jetzt ihre Ansicht durchsetzen, sie hätte damals keinen Anspruch gehabt, „aG” sei ihr unrichtigerweise erteilt worden und müsse ihr deshalb nach § 45 SGB X ihr Leben lang verbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen