Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage. Hilflosigkeit
Orientierungssatz
Die Hilflosigkeit erfordert, daß der Beschädigte für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder mindestens in erheblichem Umfang dauernd auf fremde Hilfe angewiesen ist. Es kommt hiernach nicht nur auf das Erfordernis fremder Hilfe, sondern vor allem auf den Umfang der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens an, die der Beschädigte ohne fremde Hilfe nicht ausführen kann. Dieser Umfang richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne Hilfe noch bewältigen kann.
Normenkette
BVG § 35 Fassung: 1960-06-27
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.08.1966) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. August 1966 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht wegen "Schlottergelenk des rechten Ellenbogens und völlige Versteifung des linken Ellenbogengelenks, verbunden mit mäßiger Schwäche beider Arme und Hände" eine Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), die zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 v. H. festgesetzt worden war. Den Antrag auf Gewährung einer Pflegezulage lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 7. Mai 1962 ab, weil der Kläger nach dem Ergebnis einer versorgungsärztlichen Untersuchung durch Dr. G nicht als hilflos im Sinne des § 35 BVG anzusehen sei. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 30. Juli 1963 zurückgewiesen, nachdem insbesondere Dr. W die Hilflosigkeit ebenfalls verneint hatte. Das Sozialgericht (SG) sprach dem Kläger mit Urteil vom 10. März 1965 die Pflegezulage nach Stufe I vom 1. September 1964 an zu.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 11. August 1966 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG verneint. Der Gesundheitszustand des Klägers sei nicht derart, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedürfe. Nach den mit seinen Angaben übereinstimmenden Beurteilungen sowohl der Versorgungsärzte Dr. G und Dr. W als auch der ärztlichen Sachverständigen Dr. S und Dr. M sei der Kläger nur bei einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfeleistungen angewiesen, insbesondere bei den Mahlzeiten, der Rasur und der körperlichen Reinigung. Dr. B, der auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehört worden war, habe ausgeführt, der Kläger bedürfe nur einzelner Hilfeleistungen bei der Zerkleinerung der Speisen, beim An- und Auskleiden sowie bei der Reinigung des Körpers, könne aber den größten Teil der täglich vorkommenden Verrichtungen allein erledigen. Diese Beurteilung entspräche auch den Feststellungen von Dr. G und Dr. W und werde außerdem durch die Tatsache erhärtet, daß der Kläger seinen Dienst als Pförtner einer Wach- und Schließgesellschaft versehen, den Weg zu seiner Arbeitsstelle und zurück allein zurücklegen und 12 Stunden hintereinander, wenn auch in dreistündigem Wechsel zwischen Wach- und Bereitschaftsdienst, tätig sein könne. Nach der übereinstimmenden Beurteilung der genannten ärztlichen Sachverständigen könne der Kläger "die meisten" regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe ausführen und könne daher nicht als hilflos im Sinne des § 35 BVG gelten. Daran ändere es auch nichts, daß er die Gefahr eines Sturzes mit einer völligen Hilflosigkeit fürchte. Nach den ärztlichen Feststellungen liege keine Gehbehinderung vor. Abgesehen davon könne fremde Hilfe nur zur Abwendung etwa drohender Hilflosigkeit nicht eine bestehende Hilflosigkeit begründen (vgl. BSG 20, 207). Das LSG hat die Revision zugelassen, weil der Frage, ob in diesem Fall Hilflosigkeit im Sinne des BVG vorliege, grundsätzliche Bedeutung zukomme.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 12. September 1966, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 14. September 1966, Revision eingelegt und diese auch gleichzeitig begründet.
Er beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11. August 1966 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Duisburg vom 10. März 1965 zurückzuweisen.
In seiner Revisionsbegründung rügt der Kläger eine unrichtige Anwendung des § 35 BVG. Er greift nicht die tatsächlichen Feststellungen des LSG an, meint jedoch, das LSG habe den Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG verkannt. Diese könne nicht mit der Begründung verneint werden, daß der Kläger die "meisten" regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe ausführen könne. Nach § 35 BVG richte sich die Hilflosigkeit nicht nach der Anzahl oder dem Anteil der dem Beschädigten unmöglichen Verrichtungen, sondern erfordere nur, daß der Beschädigte fremder Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens bedarf. Dazu genüge, daß diese Hilfe für zahlreiche Verrichtungen nötig sei, was schon dann der Fall sei, wenn Hilfeleistungen nur für eine Reihe von Verrichtungen benötigt würden, die häufig und regelmäßig wiederkehren. Die Hilflosigkeit des Klägers könne auch nicht wegen seines Dienstes als Pförtner verneint werden, der nach den Feststellungen des LSG im wesentlichen nur in einer Ausweiskontrolle bestehe. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG in SozR BVG § 35 Nr. 7) könne Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG auch dann vorliegen, wenn der Beschädigte einer Beschäftigung nachgehe.
Der Beklagte hat in der Revisionsverhandlung den Antrag in seinem Schriftsatz vom 12. September 1966 geändert und beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11. August 1966 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hat seine Bedenken gegen die Zulassung der Revision fallen gelassen und ausgeführt, das LSG habe den Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG richtig ausgelegt.
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist daher zulässig; sie ist aber nicht begründet, weil das LSG den Begriff der Hilflosigkeit nicht verkannt hat.
Grundlage für die Entscheidung über die im September 1961 beantragte Pflegezulage ist § 35 BVG i. d. F. des Ersten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453 - 1. NOG -), das vom 1. Juni 1960 an gegolten hat. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift wird dem Beschädigten eine Pflegezulage nach Stufe I gewährt, solange er infolge seiner Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Die Hilflosigkeit erfordert demnach, daß der Beschädigte für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder mindestens in erheblichem Umfang dauernd auf fremde Hilfe angewiesen ist. Es kommt hiernach nicht nur auf das Erfordernis fremder Hilfe, sondern vor allem auf den Umfang der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens an, die der Beschädigte ohne fremde Hilfe nicht ausführen kann. Dieser Umfang richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne Hilfe noch bewältigen kann. Die Zahl der Verrichtungen, die fremde Hilfe erfordern, muß mindestens einen Umfang erreichen, der als erheblich anzusehen ist. Das ist aber nicht der Fall, solange der Beschädigte in der Lage ist, die meisten regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe zu erledigen. Das Gesetz spricht zwar nicht von den "meisten" Verrichtungen. Mit der Verwendung dieses Wortes hat das LSG aber nur zum Ausdruck bringen wollen, daß in einem solchen Falle fremde Hilfe jedenfalls nicht in erheblichem Umfang erforderlich ist.
Diese vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegte Auslegung des Begriffs der Hilflosigkeit folgt auch der Entwicklung des § 35 BVG. Nach der Fassung bis zum 31. Mai 1960 hatte der Beschädigte Anspruch auf eine Pflegezulage, solange er infolge der Schädigung so hilflos war, daß er nicht ohne fremde Hilfe und Wartung bestehen konnte. Zur Auslegung dieser am Grade der Hilflosigkeit gemessenen Voraussetzung hat das BSG in Übereinstimmung mit Entscheidungen des Reichsversicherungsamts und des Reichsversorgungsgerichts zu weitgehend gleichlautenden Vorschriften des Reichsversorgungsgesetzes und der Reichsversicherungsordnung ausgeführt, daß hilflos im Sinne des § 35 BVG a. F. nur derjenige Beschädigte sei, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl. BSG 8, 97; BSG in SozR BVG § 35 Nr. 7). Dieser Begriff der Hilflosigkeit ist wörtlich in die Neufassung des § 35 Abs. 1 BVG durch das 1. NOG übernommen worden. Die Hilflosigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist demnach nicht nur von dem Erfordernis fremder Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens abhängig, sondern vor allem von dem Umfang der dauernd notwendigen Hilfeleistungen, der mindestens einen erheblichen Grad erreichen muß. Das LSG hat dies nicht verkannt, wenn es diese Voraussetzung nicht als erfüllt angesehen hat, weil der Kläger die meisten Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe ausführen könne. Es hat somit § 35 BVG richtig angewendet.
Nach den Feststellungen des LSG, die von dem Kläger nicht angegriffen und daher für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), braucht der Kläger nur in einzelnen Fällen fremde Hilfe, vor allem bei der Zerkleinerung der Speisen, beim An- und Auskleiden und bei der körperlichen Reinigung, kann aber im übrigen den größten Teil der täglich vorkommenden Verrichtungen allein erledigen. Der Kläger bedarf somit nicht in erheblichem Umfang dauernd fremder Hilfe, so daß die Voraussetzungen der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht erfüllt sind. Seine Revision ist somit nicht begründet und war daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen