Leitsatz (amtlich)

1. Der Begriff des Zeugen in RVO § 539 Abs 1 Nr 13 bestimmt sich nach der Norm, aufgrund derer jemand von einer berechtigten Stelle zur Beweiserhebung herangezogen wird.

2. Wird jemand als Beschuldigter herangezogen, so besteht insoweit kein Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 13, selbst wenn diese Person im weiteren Verlauf des Strafverfahrens als Zeuge behandelt wird.

3. Wird jemand nach einem Verkehrsunfall von der Polizeibehörde als Unfallbeteiligter zu weiteren Ermittlungen vorgeladen, ist er im allgemeinen Beschuldigter und nicht Zeuge.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 13 Fassung: 1963-04-30; StPO § 163

 

Tenor

Die Urteile des Sozialgerichts Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 7. Mai 1968 und des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Mai 1969 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

 

Gründe

I

Der pensionierte Polizeibeamte E Sch (Sch.) war im Jahre 1963 als Kraftfahrer bei der Kraftfahrzeugreparaturwerkstätte A in F beschäftigt. Am 8. Oktober 1963 stieß er, als er mit einem Firmenwagen unterwegs war, in F mit einem von dem Expedienten H (H.) gesteuerten Pkw zusammen. Beide Fahrzeuge wurden nicht unerheblich beschädigt. Der Polizeihauptwachtmeister M und der Polizeimeister G beobachteten von einem Funkstreifenwagen aus den Unfall.

In der von diesen beiden Polizeibeamten am 9. Oktober 1963 gefertigten Übertretungsanzeige wurden Sch. und H. als Unfallbeteiligte und die beiden Polizeibeamten als Zeugen bezeichnet; sie enthält den Vermerk: "Die Unfallbeteiligten gaben keine Erklärung zur Schuldfrage ab". Die beiden Polizeibeamten äußerten sich am 16. Oktober 1963 dienstlich zu dem Unfall. Sch. und H. wurden vom Verkehrsunfallkommando F zum 22. Oktober 1963 als "Unfallbeteiligte" vorgeladen. Ihre Angaben zur Person und zur Sache wurden protokolliert. Auf den Schlußbericht des Verkehrsunfallkommandos vom 25. Oktober 1963 hin, in welchem H. als Beschuldigter bezeichnet wurde, erhob die Amtsanwaltschaft Frankfurt (Main) gegen H. Anklage wegen Übertretung von Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung und des Straßenverkehrsgesetzes. In den mündlichen Verhandlungen vor dem Amtsgericht (AG) Frankfurt (Main) am 21. und 26. Februar 1964 wurden Sch., M und G als Zeugen vernommen. Das AG sprach durch Urteil vom 26. Februar 1964 H. wegen erwiesener Unschuld frei; Sch. trage die Schuld an dem Unfall.

Sch. hatte am 22. Oktober 1963 während der Arbeitszeit mit Erlaubnis seines Arbeitgebers die Polizeibehörde aufgesucht. Auf dem Rückweg zur Arbeitsstätte wurde er beim Überschreiten der Straße von einem Pkw angefahren; er brach das rechte Schienbein. Die Firma A meldete am 31. Oktober 1963 den Unfall vom 22. Oktober 1963 der Klägerin, deren Mitglied sie ist, als Arbeitsunfall. Diese übernahm zunächst die Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 1.054,60 DM.

Wegen der Erstattung dieser Aufwendungen wandte sich die Klägerin an die - später beigeladene - Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) W. Diese lehnte eine Kostenerstattung mit der Begründung ab, Sch. habe nach § 539 Abs. 1 Nr. 13 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden.

Die in diesem Fall zuständige Eigenunfallversicherung (EUV) der Stadt F versagte sich dem Begehren der Klägerin, weil Sch. von der Polizei nicht als Zeuge, sondern zwecks Klärung vernommen worden sei, ob er als Fahrer eines Kraftfahrzeugs einen Verkehrsunfall verschuldet habe; Sch. falle somit nicht unter den Personenkreis des § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO.

Hierauf hat die Klägerin gegen die Stadt Frankfurt (Main) Klage mit dem Antrag erhoben festzustellen, daß die Entschädigung für den Unfall vom 22. Oktober 1963 die Beklagte treffe. Das Sozialgericht (SG) Speyer, Zweigstelle Mainz, hat auf Antrag der Klägerin die AOK beigeladen, weil deren Interessen durch den Rechtsstreit berührt würden.

Das SG hat durch Urteil vom 7. Mai 1968 festgestellt, daß die Beklagte der zuständige Versicherungsträger sei. Es ist der Auffassung, daß Sch. von der Polizeibehörde nicht als Zeuge zum Zweck der Beweiserhebung, sondern als Unfallbeteiligter vorgeladen worden sei. Er sei aber auch nicht als Beschuldigter vernommen, sondern wie ein Zeuge herangezogen worden. Deshalb habe Sch. auch auf dem Rückweg von der Polizeidienststelle nach § 539 Abs. 2 RVO iVm Abs. 1 Nr. 13 dieser Vorschrift unter Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) gestanden.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 14. Mai 1969 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Sch. sei von der Polizeibehörde als Zeuge zu Beweiserhebungszwecken herangezogen worden. Die Beamten der Verkehrsstreife, welche den Unfall am 8. Oktober 1963 aufgenommen hätten, hätten in den Verkehrsunfallaufnahmeformularen lediglich die Personalien der beiden Fahrzeuglenker, den Unfallort, die Art der Fahrzeuge und die Unfallschäden notiert. Die am folgenden Tag angefertigte Übertretungsanzeige äußere sich ebenfalls nicht dazu, wer von den Unfallbeteiligten als Beschuldigter in Frage komme. Mit deren Vorladung zum 22. Oktober 1963 habe die Polizei ihre Aufklärungstätigkeit über den Hergang des Unfalls fortsetzen wollen. Bis zu diesem Zeitpunkt sei keiner der beiden Kraftfahrer als Beschuldigter bezeichnet gewesen. Ihre Vernehmung sei sonach zu Beweiszwecken erfolgt. Sie seien daher als Zeugen vernommen worden. Erst später sei den Unfallbeteiligte H. als Beschuldigter angesehen und gegen ihn Anklage erhoben worden. Wer nach § 142 des Strafgesetzbuchs (StGB) verpflichtet sei, die Art seiner Beteiligung an einem Verkehrsunfall feststellen zu lassen, handele insoweit als Zeuge; diese Verpflichtung treffe auch Verkehrsteilnehmer, welche schuldlos in ein Unfallgeschehen hineingezogen worden seien. Sch. sei deshalb nach § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO versichert gewesen, als er am 22. Oktober 1963 überfahren worden sei. Ob diese Vorschrift angesichts ihres Ausnahmecharakters nur hilfsweise anzuwenden sei, brauche nicht entschieden zu werden, weil Sch. im Zeitpunkt seines Unfalls nicht nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO unter UV-Schutz gestanden habe. Er habe seine nach dieser Vorschrift versicherte Tätigkeit unterbrochen, um die Polizeibehörde aufzusuchen. Seine Vernehmung als Zeuge sei, obwohl durch den Unfall vom 8. Oktober 1963 der damals von ihm gefahrene Firmenwagen beschädigt worden sei, aufgrund seiner Verpflichtung nach § 142 StGB erfolgt; sie habe seinen persönlichen Lebensbereich betroffen und die Interessen der Firma A nur unwesentlich berührt. Versicherungsschutz sei daher weder nach § 548 noch nach § 550 RVO gegeben.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie hat es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Auffassung des LSG würde in der Praxis bedeuten, daß im Rahmen der vorbereitenden Ermittlungen der Polizeibehörde zur Aufklärung einer Straftat jeder mutmaßliche Täter oder Mittäter, welcher über den Tathergang vernommen werde, solange UV-Schutz genieße, bis er in den Ermittlungsakten ausdrücklich als Beschuldigter bezeichnet werde. Eine solche Auslegung des § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO widerspreche dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Dieses habe in weiterem Umfang als bisher Personen in den UV-Schutz einbeziehen wollen, welche für öffentlich-rechtliche Einrichtungen ehrenamtlich tätig seien, also im Interesse der Allgemeinheit sich zur Verfügung stellten. Gleiches gelte für Personen, welche als außenstehende Dritte zu Beweiserhebungen herangezogen würden. Nur solche Personen erbrächten ein Sonderopfer, welche ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zur Zeugenaussage nachkämen. Einem zur Vernehmung geladenen Unfallbeteiligten gehe es indessen darum, den Ermittlungsbehörden den Tathergang aus seiner Sicht darzustellen, um nach Möglichkeit zu vermeiden, daß er Beschuldigter eines Strafverfahrens werde. Die Beteiligung einer Person an einer Straftat stehe zwar ihrer Vernehmung als Zeuge nicht schlechthin entgegen. Dem Willen des Gesetzgebers, einem an einer Straftat Beteiligten den Versicherungsschutz nicht zukommen zu lassen, könne dadurch Rechnung getragen werden, daß der Versicherungsschutz erst eintrete, wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft einen Tatbeteiligten als Beschuldigten bezeichneten und einen anderen Tatbeteiligten ausdrücklich als Zeugen zu Beweiszwecken heranzögen. Von diesem Zeitpunkt an werde dieser Tatbeteiligte vorrangig im Interesse der Allgemeinheit tätig; er sehe sich zumindest nicht mehr ausschließlich in der Rolle eines an der Tat Beteiligten, der vor allem aussage, um einer Anklage zu entgehen. Sch. sei jedoch lediglich als Unfallbeteiligter, nicht als Zeuge geladen und vernommen worden. Er habe damals damit rechnen müssen, selbst beschuldigt zu werden. Der vom LSG für rechtserheblich gehaltene Zweck der polizeilichen Vernehmung sei kein brauchbares Kriterium für die Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs.1 Nr. 13 RVO, weil im Rahmen eines Strafverfahrens die Vernehmung aller irgendwie Beteiligter der Aufklärung der Tat diene, gleichgültig, ob sie als Zeuge, Beschuldigter, Angeschuldigter oder Angeklagter vernommen würden. Versicherungsschutz bestehe auch nicht nach § 539 Abs. 2 RVO, weil dem Sinn und Zweck des § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO entgegenstünden. Ein Unfallbeteiligter, der in eigener Sache zur Vernehmung bei der Polizei erscheine, werde gerade nicht wie ein zur Beweiserhebung zugezogener Zeuge tätig, da das Motiv seiner Tätigkeit nicht die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten im Interesse der Allgemeinheit sei. Der Unfall, den Sch. am 22. Oktober 1963 erlitten habe, sei vielmehr als Arbeitsunfall im Betrieb der Firma A. anzusehen, so daß ihn die Klägerin nach den §§ 539 Abs. 1 Nr. 1, 548, 550 RVO zu entschädigen habe. Gegenstand der Vernehmung sei ein Verkehrsunfall gewesen, den Sch. in Ausübung seiner Berufstätigkeit verursacht habe und bei dem ein Fahrzeug seines Arbeitgebers beschädigt worden sei. Das Unternehmen habe somit im Hinblick auf die Klärung der persönlichen Zuverlässigkeit ihres Kraftfahrers Sch. ein Interesse an der Aufklärung des Unfallhergangs gehabt. Dies sei ferner gegeben gewesen, weil es gegen den anderen Unfallbeteiligten bzw. dessen Haftpflichtversicherer Schadensersatzansprüche erheben konnte, wenn durch die Vernehmung ihres Arbeitnehmers klargestellt war, daß der andere Kraftfahrer den Unfall verschuldet habe. Ein betrieblicher Zusammenhang ergebe sich schließlich daraus, daß das Unternehmen es Sch. gestattet habe, während seiner Arbeitszeit die Polizeibehörde aufzusuchen. Aber selbst wenn sowohl die Voraussetzungen der Nr. 1 als auch der Nr. 13 des § 539 Abs. 1 RVO gegeben seien, sei allein die Klägerin leistungspflichtig, weil diese Vorschrift nur hilfsweise anzuwenden sei; § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO wolle nur den Personen UV-Schutz gewähren, welche nach den bisher geltenden Vorschriften nicht ausreichend geschützt gewesen seien.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie festzustellen, daß ein Unfall im Sinne von § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO nicht vorliege.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise für den Fall der Abweisung der Klage festzustellen, daß die Beigeladene der zuständige Versicherungsträger sei,

ferner hilfsweise für den Fall der Unzulässigkeit dieses Hilfsantrags das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Zur Begründung ihrer Anträge hat die Klägerin ausgeführt:

Sie sei auf keinen Fall zur Leistung verpflichtet. Falls keine Träger der gesetzlichen UV zuständig sei, müßten die aufgewendeten Kosten der Heilbehandlung von der Beigeladenen getragen werden, da Sch. bei dieser gegen Krankheit versichert gewesen sei. Ihre Entschädigungspflicht nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO entfalle, weil die polizeiliche Vernehmung von Sch. über dessen Unfall in keinem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit dessen versicherter Tätigkeit bei der Firma Astehe. Dieses Unternehmen sei zwar an der Aufklärung des Unfalls, durch den eines ihrer Fahrzeuge beschädigt worden sei, interessiert gewesen. Sch. sei aber wie jeder andere Unfallbeteiligte im Zuge der allgemeinen Verkehrsordnung zur Polizei vorgeladen worden und in Ausübung dieser öffentlich-rechtlichen Pflicht verunglückt. Selbst wenn jedoch der UV-Schutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO iVm § 548 RVO - keinesfalls iVm § 550 RVO - zu bejahen sei, sei die Beklagte entschädigungspflichtig, weil Sch. im Zeitpunkt des Unfalls nach § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO unter UV-Schutz gestanden habe und diese Vorschrift nach ihrem Charakter, Zweck und Inhalt gegenüber § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO als Sondervorschrift anzusehen sei. Der Begriff des Zeugen in § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO dürfe nicht eng ausgelegt werden. Er beziehe sich auf jede Person, welche über einen gerichtlicher, staatsanwaltschaftlicher, polizeilicher oder sonst behördlicher Erhebung unterliegenden Vorgang vor dessen endgültiger Aufklärung Auskunft geben sollte. Solange jemand nicht eindeutig Beschuldigter sei, sei er als Zeuge im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.

Die Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Die nach § 657 Abs. 1 Nr. 1 RVO gegebene Zuständigkeit der Beklagten (Lauterbach, Gesetzliche UV, 3. Aufl., Stand: Februar 1971, Anm. 82 c - am Ende - zu § 539 RVO) zur Übernahme der von der Klägerin vorläufig übernommenen Entschädigungsleistungen setzt voraus, daß Sch. von der Polizeibehörde als Zeuge zu Beweiserhebungszwecken herangezogen worden ist. Der Begriff des Zeugen in § 539 Abs.1 Nr. 13 RVO kann, da in dieser Vorschrift als anordnende Stellen Gerichte, Staatsanwaltschaften oder sonst dazu berechtigte Stellen aufgeführt sind, nicht anders ausgelegt werden als aufgrund der einer solchen Anordnung zugrunde liegenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahrensvorschrift. Dies ergibt sich ferner aus der amtlichen Begründung zu § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO (abgedruckt bei Lauterbach, aaO, Anm. 79), wonach durch diese Vorschrift ehrenamtlich tätigen Personen und Zeugen UV-Schutz gewährt werden soll, weil sie für Rechtspflege oder Verwaltung öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen.

Sch. ist von der Polizeibehörde nicht als Zeuge vorgeladen worden. Er war in einen Verkehrsunfall verwickelt und hatte sich ebenso wie H. am Unfallort geweigert, sich zur Schuldfrage zu äußern; der Verdacht eines strafbaren Verhaltens richtete sich sowohl gegen ihn als auch gegen H. In der Übertretungsanzeige sind als Zeugen lediglich die beiden Beamten der Verkehrsstreife benannt, welche zufällig den Verkehrsunfall beobachtet hatten. Zwar sind Sch. und H. in dieser Strafanzeige nicht ausdrücklich als Beschuldigte, sondern als Unfallbeteiligte bezeichnet. Beschuldigter ist aber schon derjenige, gegen den wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung Strafverfolgungsmaßnahmen durchgeführt werden (Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 169; Peters, Strafprozeß, 2. Aufl., 1966, S. 173; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und GVG, Nachträge und Ergänzungen zu Teil II, Nachtragsband I, 1967, S. 274 oben). Das Strafverfahren beginnt bereits mit einer - hier vorliegenden - Strafanzeige gegen die einer Straftat verdächtige Person (Henkel, aaO, Anm. 1 auf S. 169). § 163 StPO weist den Polizeibehörden Ermittlungsaufgaben zu; sie sind befugt, Beschuldigte und Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. Eine Erscheinungs- und Aussagepflicht dieser Personen besteht allerdings nicht (Löwe/Rosenberg, Kommentar zur StPO, 21. Aufl., Anm. 2 zu § 163). Aufgrund dieser Vorschrift - und nicht etwa des § 142 StGB (Fahrerflucht), wie das LSG meint - hat das Verkehrsunfallkommando Sch. und H. vorgeladen. Eine Belehrungspflicht nach § 163 a Abs. 4 StPO war damals noch nicht vorgeschrieben; diese Vorschrift ist erst mit Wirkung vom 1. April 1965 durch Art. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung der StPO und des GVG vom 19. Dezember 1964 (BGBl I S. 1067) in die StPO eingefügt worden. Der Umstand, daß sowohl Sch. als auch H. sich möglicherweise verkehrswidrig verhalten haben, aber auch nur einer von ihnen als Straftäter in Frage kam, schloß nicht aus, daß sie zunächst beide von der Polizei als Beschuldigte behandelt worden sind (Löwe/Rosenberg, aaO, Ergänzungsband 1967, Anm. 11 zu § 163 a). Die Auffassung des Berufungsgerichts, durch die Vernehmung von Sch. und H. habe zunächst aufgeklärt werden sollen, ob eine strafbare Handlung vorliege, somit sei ihre Vorladung als Zeugen zu Beweiszwecken erfolgt, verkennt, daß aufgrund der Unfallörtlichkeit und des Unfallhergangs beide einer Straftat verdächtig erschienen und auch die Angaben des Beschuldigten für die Wahrheits- und Rechtsfindung von wesentlicher Bedeutung sind (Henkel, aaO, S. 172). Zeuge kann nur eine Person sein, die in einem nicht gegen sie selbst gerichteten Strafverfahren über Wahrnehmungen tatsächlicher Art aussagen soll (Müller/Sachs, Kommentar zur StPO, 6. Aufl., Vorbemerkung 3 a vor § 48). Sch. und H. waren von der Polizeibehörde nicht als Zeugen zu Beweiserhebungszwecken herangezogen, sondern als Beschuldigte vorgeladen. Darauf stellt indessen § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO für die Gewährung des Versicherungsschutzes ab (Lauterbach, aaO, Anm. 82 a zu § 539 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1.7.1971, Band II S. 474 q). Es ist daher ohne versicherungsrechtliche Bedeutung, daß Sch. in dem gegen H. nach Abschluß der polizeilichen Ermittlungen eingeleiteten Gerichtsverfahren als Zeuge zugezogen, H. aber mit der Begründung freigesprochen wurde, daß Sch. die Schuld an dem Verkehrsunfall vom 8. Oktober 1963 trage. Sch. stand deshalb nicht nach § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO unter UV-Schutz, als er auf dem Rückweg vom Verkehrsunfallkommando durch einen Verkehrsunfall verletzt wurde.

Ob ein - vom SG bejahter - Anwendungsfall des § 539 Abs.2 RVO iVm Abs. 1 Nr. 13 dieser Vorschrift in der Praxis überhaupt auftreten kann (s. Lauterbach, aaO, Anm. 99 zu § 539 RVO; Brackmann, aaO, S. 474 y ff), kann angesichts des in der vorliegenden Sache gewonnenen Ergebnisses dahinstehen.

Die von den beiden am Rechtsstreit beteiligten UV-Trägern erwogene Frage, ob die Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO gegeben sind, bedarf keiner Entscheidung, weil die Ersatzpflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin bereits aus einem anderen Grund entfällt. Diese - vom LSG verneinte - Frage könnte nur noch zwischen der Klägerin und der Beigeladenen rechtlich bedeutsam sein. Insoweit handelt es sich jedoch um einen anderen auf § 1509 a RVO beruhenden prozessualen Anspruch, welcher nicht mehr zum Gegenstand dieses Rechtsstreits gemacht werden kann (§ 168 SGG). Das SG hat die AOK mit Recht nach § 75 Abs. 1 SGG und nicht aufgrund des Abs. 2 dieser Vorschrift beigeladen, da der vorliegende Rechtsstreit auf die zwischen der Beigeladenen und der Klägerin gegebenen Rechtsbeziehungen nicht unmittelbar einwirkt, was nicht ausschließt, daß die Beigeladene an einem Ergebnis dieses Prozesses interessiert ist, welches die Klägerin veranlassen würde, von ihrer Ersatzforderung gegen die Beigeladene Abstand zu nehmen. Die Hilfsanträge der Klägerin sind daher nicht zulässig. Dies gilt auch für den Antrag der Beklagten, außer der Abweisung der Klage festzustellen, daß ein Unfall im Sinne von § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO nicht vorliege. Es bedarf keiner Entscheidung, ob diese Frage Gegenstand einer besonderen Feststellung im Sinne von § 55 Abs. 1 SGG sein kann. In der vorliegenden Sache fehlt es jedenfalls an dem erforderlichen berechtigten Interesse an einer baldigen Feststellung, weil diese Frage ohnehin den Hauptstreitpunkt des auf eine Leistung gerichteten Rechtsstreits bildet und künftig zwischen den beteiligten UV-Trägern keine Rolle mehr spielen wird.

Auf die Revision der Beklagten waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Klage als unbegründet abzuweisen.

Eine Kostenentscheidung war in dieser Sache nicht zu treffen (§ 193 Abs. 4 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1670056

BSGE, 191

NJW 1972, 550

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?