Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahnprothetische Versorgung als notwendige Vorbedingung für eine Operation
Leitsatz (amtlich)
Die zahnprothetische Versorgung, die Teil der Gesamtbehandlung der Gesichtsspalte eines Kindes und notwendige Vorbedingung für die operative Vorverlagerung des Oberkiefers ist, stellt sich zusammen mit den anderen Einzelmaßnahmen als eine ärztliche und zahnärztliche Behandlung dar; sie ist von der KK als Sachleistung zu gewähren.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-07-27; RAMErl 1943-11-02 Abschn. 2 Nr. 1 Buchst. d Fassung: 1943-11-02
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Juli 1974 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Träger der Krankenversicherung (KrV) verpflichtet ist, die Kosten für eine zahnprothetische Versorgung, die im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff erfolgt und notwendige Vorbedingung für diesen Eingriff ist, voll zu übernehmen.
Der Beigeladene ist Mitglied der beklagten Krankenkasse. Sein im Jahre 1957 geborenes Kind M leidet an einem Zustand nach angeborener, voroperierter Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und wird deshalb von Zahnärzten der Kieferklinik der Universität D behandelt. Im Juni 1972 wurde bei ihm eine temporäre defektprothetische Versorgung in Form der Überkronung von neuen Zähnen mit Überbrückung der von Geburt an im Oberkiefer fehlenden fünf Frontzähne vorgenommen. Diese Maßnahme, die nach der Ansicht des Berufungsgerichts eine zahnprothetische Versorgung im Sinne der Positionen 91 c und 98 h der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOÄ-Z) vom 18. März 1965 (BGBl I 123), nämlich Versorgung eines Lückengebisses durch eine Brücke, Verblendkrone, Stufenkrone, Dreiviertelkrone u.ä., Fingerhutkrone (91 c) und Verwendung von komplizierten Halte- und Stützvorrichtungen (98 h) war, hatte den Zweck, die operativ angestrebte Bißlage vorweg festzulegen, und war nach der Ansicht der behandelnden Zahnärzte für die erfolgreiche Durchführung eines kieferchirurgischen Eingriffs unbedingt notwendig. Nach einem Bericht des Direktors der Kieferklinik vom Februar 1972 an die Beklagte "ist vorgesehen, im Rahmen einer stationären kieferchirurgischen Behandlung den Oberkiefer insgesamt operativ vorzuverlagern. Dazu ist es notwendig, vor der eigentlichen Operation alle vorhandenen Zähne im Oberkiefer zu überkronen, so daß ein Gerüst entsteht, welches die Zähne starr miteinander verbindet und gleichzeitig als Brücke im Frontzahnbereich den Ersatz der fehlenden Frontzähne ermöglichst". Die endgültige prothetische Versorgung wird voraussichtlich erst fünf Jahre später erfolgen.
Zu den Kosten in Höhe von 3.180 DM leistete die beklagte Krankenkasse entsprechend einer Bestimmung ihrer Satzung einen Zuschuß von 900 DM. Die klagende Stadt übernahm zunächst als Sozialhilfeträger die übrigen Kosten. Sie verlangte - erfolglos - von der Beklagten Ersatz und erhob dann Klage.
Das Sozialgericht (SG) Köln hat antragsgemäß die Beklagte zur Zahlung von 2.280 DM verurteilt, weil die Überkronung der Zähne als unmittelbare Vorbereitung für die Operation (Vorverlagerung des Oberkiefers) anzusehen sei und von dem geplanten Eingriff nicht getrennt werden könne (Urteil vom 17. Dezember 1973). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat u.a. ausgeführt: Der Anspruch der Klägerin, der allein auf § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützt werden könne, sei unbegründet, da Zahnersatz keine Sachleistung, sondern eine Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung an den Versicherten sei. Das gelte auch dann, wenn die Überkronung für eine in Aussicht genommene kieferchirurgische Behandlung unabdingbar sei und in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dieser erfolge.
Mit der zugelassenen Revision trägt die klagende Stadt vor, das Berufungsgericht habe den Verbesserungserlaß unrichtig angewendet und zu Unrecht § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO außer acht gelassen. Sie beantragt,
das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der klagenden Stadt ist begründet. Diese hat, wie mit dem SG, aber im Gegensatz zu dem Berufungsgericht festzustellen ist, einen Anspruch gegen die Beklagte auf vollen Ersatz der Kosten, die für die temporäre defektprothetische Versorgung der Tochter des Beigeladenen im Juni 1972 entstanden sind.
Der Anspruch ergibt sich aus den §§ 1531, 1533 Nr. 2 RVO. Nach diesen Vorschriften hat der Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht den Angehörigen eines Hilfsbedürftigen unterstützt hat, einen Ersatzanspruch gegen den Träger der Sozialversicherung, der dem Hilfsbedürftigen mit Rücksicht auf diesen Angehörigen leistungspflichtig ist.
Die Klägerin hat die Tochter des Beigeladenen nach gesetzlicher Pflicht (§ 37 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -) durch die zahnprothetische Versorgung unterstützt. Der Beigeladene hat nach den §§ 182 Abs. 1, 205 RVO gegen die Beklagte einen Anspruch auf die kostenlose Gewährung der in dieser Versorgung liegenden zahnärztlichen Behandlung.
§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der am 1. Januar 1970 in Kraft getretenen und am 30. September 1974 durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) - Reha AnglG - aufgehobenen Fassung des Krankenversicherungsänderungsgesetzes (KrVÄndG) vom 27. Juli 1969 (BGBl I 946) bestimmte in Verbindung mit § 205 RVO, daß der Träger der Krankenversicherung vom Beginn der Krankheit an Krankenpflege zu gewähren hatte; diese umfaßte ärztliche und zahnärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei sowie Brillen, Bruchbändern und anderen kleineren Heilmitteln. Nach § 187 Nr. 3 RVO in der bis zum 30. September 1974 geltenden Fassung konnte die Satzung Hilfsmittel gegen die Verunstaltung und Verkrüppelung zubilligen, die nach beendigtem Heilverfahren nötig sind, um die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Nach § 187 Nr. 4 RVO kann die Satzung mit Zustimmung des Oberversicherungsamtes (OVA) Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen der einzelnen Kassenmitglieder vorsehen. Der Reichsarbeitsminister hatte mit Abschnitt I Nr. 4 sowie Abschnitt II Nr. 1 Buchst. d des Erlasses vom 2. November 1943 (AN II 485) betr. Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (Verbesserungserlaß) zu den §§ 182, 187 Nrn. 3 und 4 und 193 RVO angeordnet, daß die Kasse zu den Kosten für Zahnersatz, Zahnkronen und Stiftzähne Zuschüsse gewähren oder die gesamten Kosten übernehmen kann. Der Erlaß, der insoweit durch das Reha AnglG aufgehoben worden ist, war mit gesetzesgleicher Wirkung ergangen und weiterhin gültig (BSG 22, 67, 68; 35, 105, 107). Der erkennende Senat hat demgemäß in ständiger Rechtsprechung (35, 105, 107; Urteil vom 4. Oktober 1973 - 3 RK 37/72, FEVS 22, 472; ebenso auch der 6. Senat des Bundessozialgerichts (BSG), BSG 25, 116, 119; 37, 74, 77) die Versorgung mit Zahnersatz nicht als Sachleistung, sondern als Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung an den Versicherten bezeichnet, wenn er auch nicht verkennt (BSG 35, 15, 19), daß hier noch "Leistungslücken" bestehen. In den Urteilen BSG 35, 105 und vom 4. Oktober 1973 hat er jeweils eine Krankheit festgestellt, die den Zahnersatz erforderlich machte; er hat aus diesem Umstand jedoch keine volle Kostenpflicht des Krankenversicherungsträgers abgeleitet.
Von den in den genannten Entscheidungen behandelten Streitfällen, bei denen es darum ging, ob der unter bestimmten Voraussetzungen der Zahnlosigkeit als solcher anhaftende Krankheitswert der Versorgung mit Zahnersatz den Charakter einer Sachleistung verleiht, ist jedoch der vorliegende Sachverhalt zu unterscheiden. Die im Juni 1972 erfolgte Behandlung des Kindes stellte - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - bei der hier erforderlichen Gesamtschau keine isolierte Maßnahme des Zahnersatzes, sondern einen Teil der ärztlich-zahnärztlich-kieferchirurgischen Generalbehandlung der Gesichtsspalte dar. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Das Kind ist mit einer schweren Gesichtsmißbildung geboren worden. Die moderne Medizin bekämpft einen solchen Zustand mit einer langjährigen, komplexen Rehabilitation, an der Kiefer- und Gesichtschirurgen, Kieferorthopäden, Hals-Nasen-Ohrenärzte, Psychiater, Kinderärzte und andere Fachärzte aufgrund spezieller Absprachen und Therapieplanungen mitwirken (Bethmann, Die Bedeutung der Komplexität bei der Rehabilitation der Spaltträger, in: Rehabilitation, Organisation und medizinische Praxis, Band IV, herausgegeben von Karl-Heinz Renker, Leipzig 1969, S. 417). Dazu gehört auch die Ergänzung fehlender Frontzähne, die zunächst - aus psychischen und sprachtherapeutischen Gründen - an kieferorthopädischen Apparaten, aber auch schon bald durch Brückenersatz erfolgen muß (Flath, Kieferorthopädische Behandlung des Spaltträgers, aaO, S. 426). Eine solche Generaltherapie kann sinnvoll nur als eine Einheit angesehen werden, die zwar in mehreren, zeitlich und fachlich getrennten Teilabschnitten erfolgt, aber nach ihrem Anlaß, dem angeborenen, krankhaften Zustand, ihrem auf einem umfassenden Therapieplan beruhenden Verfahren und ihrem Ziel, nämlich der vollwertigen Eingliederung des Spaltträgers in die menschliche Gesellschaft (dazu Bethmann, aaO), eine ärztliche und zahnärztliche Behandlung darstellt.
Der Senat hat bereits vor längerer Zeit (BSG 19, 270, 271) ausgesprochen, daß im Rahmen einer Behandlung, bei der von vornherein zu erwarten ist, daß sie sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken wird, die einzelnen Leistungen der Krankenpflege - wie auch der Krankenhauspflege (vgl. BSG 2, 135, 136 ff) - nicht jede für sich als einmalige Leistungen angesehen werden können, sondern unselbständige Teilleistungen sind, die auf den ihre Gestaltung im einzelnen bestimmenden Gesamtzweck der Behandlung ausgerichtet sind und in ihrer Zusammenfassung ein geschlossenes Ganzes bilden (ähnlich auch der 4. Senat in SozR Nr. 29 zu § 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Daß auch im Fall der Tochter des Beigeladenen eine solche komplexe Behandlung stattgefunden hat und noch weiterhin erfolgen wird, ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts. Die Therapie der Universitäts-Kieferklinik umfaßt eine Reihe von Einzelmaßnahmen über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren hinweg.
Der Fall liegt deshalb wesentlich anders als die vom Senat bisher entschiedenen Fälle, bei denen die Krankheit schon in dem Fehlen von Zähnen und der sich daraus ergebenden nicht unerheblichen Störung der natürlichen Körperfunktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens bestand, woraus sich u.U. in der Folge weitere Krankheiten ergeben konnten. Hier liegt eine vom Fehlen der Zähne an sich unabhängige Krankheit vor, nämlich die Gesichtsspalte, die nicht durch das Fehlen der Zähne verursacht worden ist, sondern ihrerseits das Entstehen der Frontzähne verhindert hat.
Ob die Therapie allgemein als ärztlich-zahnärztliche Behandlung oder im besonderen als Kieferorthopädie zu bezeichnen ist, kann dahinstehen. Denn auch eine erforderliche kieferorthopädische Behandlung ist vollständig als Sachleistung zu gewähren, wie der Senat entschieden hat (BSG 35, 10, 13). Als unterstützende Erwägung dafür, daß die defektprothetische Versorgung im vorliegenden Fall nicht isoliert, sondern nur im Rahmen des Gesamtbehandlungsvorgangs beurteilt werden darf, ist schließlich darauf hinzuweisen, daß auch eine "Vorleistung", ohne die die vom Träger der Krankenversicherung geschuldete Leistung nicht erbracht werden könnte (vgl. BSG SozR Nr. 15 zu § 184 RVO; Nr. 8 zu § 19 BVG; BSG 28, 253, 254; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II/1, Anm. 6 a zu § 182 RVO, S. 17/290), wie die Hauptleistung uneingeschränkt zu gewähren ist. Was schon für die ihrer Natur nach deutlich von der Hauptleistung der ärztlichen Behandlung oder Krankenhauspflege zu unterscheidende "Vor- oder Nebenleistung" (BSG 28, 253) gilt, muß erst recht auf eine Leistung wie die defektprothetische Versorgung Anwendung finden, die ihrem Wesen nach von dem ihr innewohnenden Element der zahnärztlichen Behandlung geprägt und deshalb ein wesensgleicher Teil der Gesamtbehandlung ist.
Auf die Revision der Klägerin war daher das Urteil des LSG aufzuheben; die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen