Leitsatz (amtlich)

Stellt eine KK für einen Rentenbezieher bindend fest, daß er nicht nach RVO § 165 Abs 1 Nr 3 krankenversicherungspflichtig ist, so steht damit für den Rentenversicherungsträger bei seiner Entscheidung über den Antrag auf den Beitragszuschuß nach RVO § 381 Abs 4 fest, daß der Rentner "nicht zu den in § 165 Abs 1 Nr 3 bezeichneten Personen" gehört.

 

Leitsatz (redaktionell)

Beitragszuschuß nach RVO § 381 Abs 4:

Ist in einem Verfahren vor dem SG oder LSG über die Zulässigkeit einer Befreiung von der Versicherungspflicht in der KVdR nach RVO § 173a rechtskräftig entschieden worden, so hat der Rentner beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen auch dann Anspruch auf den Beitragszuschuß des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 381 Abs 4, wenn die Befreiung - unter Berücksichtigung der später ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung - nicht hätte ausgesprochen werden dürfen; dem steht nicht entgegen, daß der Rentenversicherungsträger zu dem Sozialgerichtsverfahren, in dem über die Befreiung von der Versicherungspflicht entschieden wurde, nicht beigeladen war.

 

Normenkette

RVO § 381 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1967-12-21, § 165 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Juli 1974 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die rechtskräftig - aber zu Unrecht - von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) freigestellte Klägerin Anspruch auf den Beitragszuschuß zu ihrer privaten Krankenversicherung nach § 381 Abs. 4 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die Klägerin ist Beamtin auf Lebenszeit bei der Bundespost und privat gegen Krankheit bei der Postbeamtenkrankenkasse versichert. Seit Anfang 1969 bezieht sie Witwenrente von dem beklagten Rentenversicherungsträger. Ihren Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der KVdR lehnte die Bundespostbetriebskrankenkasse - bei der die Klägerin vor ihrer Übernahme in das Beamtenverhältnis pflichtversichert war - mit dem Hinweis darauf ab, daß ihr verstorbener Ehemann im Zeitpunkt des Todes versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (§ 173 a Abs. 1 Satz 2 RVO, zweite Alternative, Bescheid vom 12. Mai 1969 und Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1969). Das Sozialgericht - SG - (Urteil vom 31. August 1970) hob die Ablehnungsbescheide auf und sprach im Verfügungssatz seines Urteils weiter aus: "Die Klägerin wird von der Krankenversicherungspflicht der Rentner befreit." In den Gründen führte das SG allerdings aus, die Versicherungsfreiheit der Klägerin als Beamtin nach § 169 RVO erstrecke sich auch auf die KVdR.

Die Berufung der damals beklagten Krankenkasse wies das Hessische Landessozialgericht (LSG) mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 16. Dezember 1971 mit derselben Begründung zurück. Durch Bescheid vom 16. Mai 1972 wies die Bundespostbetriebskrankenkasse den Befreiungsantrag mit neuer Begründung wieder ab: Die Klägerin sei nach dem Urteil des LSG bereits nach § 169 RVO versicherungsfrei.

Den Antrag auf Beitragszuschuß hat die in dem vorliegenden Verfahren beklagte Landesversicherungsanstalt mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin sei nicht nach § 173 a RVO von der Versicherungspflicht befreit worden (Bescheid vom 30. August 1972). Das SG (Urteil vom 10. Dezember 1973) hat die Beklagte zur Zahlung des Beitragszuschusses verurteilt, weil § 381 Abs. 4 RVO den Anspruch auf Beitragszuschuß nicht davon abhängig mache, aus welchen Gründen der betroffene Rentner in der KVdR versicherungsfrei sei. Das LSG hingegen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juli 1974): In dem vorliegenden Verfahren gegen den beklagten Rentenversicherungsträger sei nicht ohne weitere Prüfung davon auszugehen, daß die Klägerin gemäß § 169 RVO in der KVdR versicherungsfrei sei. Das Urteil des LSG vom 16. Dezember 1971, das die Klägerin gegen die Betriebskrankenkasse erstritten habe, binde die Beklagte, die damals nicht beigeladen gewesen sei, nicht. Inzwischen habe das Bundessozialgericht, dem sich der Senat anschließe, entschieden, daß die Versicherungsfreiheit nach § 169 RVO sich nicht auf die KVdR erstrecke (Urteil vom 4. Oktober 1973 in SozR Nr. 76 zu § 165 RVO). Die Nachteile, die sich aus der somit gesetzwidrigen Freistellung von der Versicherungspflicht und der trotzdem erforderlichen Versagung des an sich für versicherungsfreie Rentner vorgesehenen finanziellen Ausgleichs nach § 381 Abs. 4 RVO ergäben, seien nicht zu übersehen; der Senat sehe jedoch keine Möglichkeit, diese Lücke aus dem Gesetz heraus zu schließen.

Die Klägerin erstrebt mit der zugelassenen Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Sie meint, sie sei aufgrund eines von dem LSG bestätigten Gestaltungsurteils des SG rechtskräftig befreit worden. Diesen Befreiungsakt müsse jedermann, also auch der Rentenversicherungsträger, beachten.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie ist der Auffassung, die Freistellung der Klägerin sei nicht durch einen rechtsgestaltenden Akt erfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Der Klägerin steht, wie das SG richtig entschieden hat, der Anspruch auf den Beitragszuschuß nach § 381 Abs. 4 Satz 2 RVO zu.

Der Anspruch gegen den beklagten Versicherungsträger kann entgegen der Meinung des LSG nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das die Versicherungsfreiheit aussprechende Urteil des LSG vom 16. Dezember 1971 binde die Beklagte nicht mit der Folge, daß die Klägerin im Verhältnis zu ihr als versicherungsfrei in der KVdR anzusehen sei. Das LSG mußte im anhängigen Verfahren davon ausgehen, daß über die Anspruchsvoraussetzung: Nichtzugehörigkeit zu den in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personen eine auch den Rentenversicherungsträger bindende Entscheidung vorliegt.

Richtig ist zwar, daß das nur zwischen der Klägerin und der in ihrem Fall für die KVdR zuständigen (§ 257 a Abs. 1 RVO) Postbetriebskrankenkasse ergangene Urteil vom 16. Dezember 1971 gegenüber dem jetzt beklagten Rentenversicherungsträger keine Rechtskraftwirkung äußert. Der Rentenversicherungsträger ist damals nicht beigeladen worden; er war auch nicht notwendigerweise (§ 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) beizuladen, weil die damals zu entscheidende Rechtsfrage für den Anspruch auf den Beitragszuschuß nur Vorfrage ist.

Richtig ist auch, wovon das LSG unausgesprochen ausgegangen ist, daß die Freistellung der Klägerin von der KVdR nicht aufgrund eines gestaltenden Urteils ergangen ist, das schon seinem Wesen nach von jedermann, also auch von dem Rentenversicherungsträger, zu beachten wäre.

Die Formulierung des vom LSG bestätigten Urteils des SG vom 31. August 1970 in dem abgeschlossenen Verfahren ("die Klägerin wird von der Krankenversicherungspflicht der Rentner befreit"), deutet zwar auf eine Gestaltungswirkung hin. Da aber im Hinblick auf die Klagearten nach dem SGG und dem Grundsatz der Gewaltenteilung feststeht, daß die damals beklagte Krankenkasse zu der ausgesprochenen Befreiung allenfalls hätte verpflichtet werden dürfen, drängt sich die Auslegungsbedürftigkeit der Urteilsformel auf. Sie ist von den Beteiligten des damaligen und des jetzigen Verfahrens zu Recht im Hinblick auf die Entscheidungsgründe des SG und des LSG übereinstimmend in dem Sinn verstanden worden, daß die Versicherungsfreiheit im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage festgestellt werden sollte. Auch die Klägerin ist im Gegensatz zu ihrem Vortrag in der Revisionsbegründung von der Feststellungsnatur des Urteils ausgegangen. Sie hat gegen den Bescheid der Kasse vom 16. Mai 1972, in dem die Befreiung deshalb abgelehnt wurde, weil nach dem rechtskräftigen Urteil Versicherungsfreiheit nach § 169 RVO vorliege, kein Rechtsmittel eingelegt.

Trotzdem ist der Rentenversicherungsträger an die im Verhältnis Klägerin-Krankenkasse getroffene Feststellung der Versicherungsfreiheit ebenso gebunden, wie er an eine der Klägerin gegenüber ausgesprochene Befreiung gebunden wäre. Bei der einen Gestaltungsakt darstellenden Befreiung ist die über die Beteiligten des Befreiungsverfahrens hinausreichende Bindungswirkung offensichtlich, weil hierdurch eine rechtliche Veränderung ohne Rücksicht darauf eingetreten ist, ob diese Veränderung auch rechtmäßig erfolgt ist. Diese Veränderung ist als Tatbestand, an den sich weitere Rechtsfolgen knüpfen können, in einem späteren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ohne weitere Prüfung hinzunehmen (Tatbestandswirkung oder auch Drittbindungswirkung genannt). Indessen ist diese Tatbestandswirkung nicht auf Gestaltungsakte beschränkt.

Auch feststellende Verwaltungsakte, die eine Rechtslage fixieren (vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10. Aufl., S. 105), sind regelmäßig auch von anderen Behörden im Sinne der Tatbestandswirkung zu beachten und in Gerichtsverfahren der Entscheidung zugrunde zu legen. Tatbestandswirkung äußern insbesondere solche feststellenden Akte, von denen das Gesetz, das diese Feststellungen regelt, bestimmt, daß damit andere Behörden gebunden sind (vgl. z.B. § 15 Abs. 5 des Bundesvertriebenengesetzes - BVFG -). Tatbestandswirkung wird auch solchen feststellenden Entscheidungen zugesprochen, die das Gesetz als Grundlage weiterer Ansprüche nur dann anerkennt, wenn sie in bestimmter Form - als Beurkundungen oder Zeugnisse - ergangen sind (vgl. z.B. § 1259 Abs. 1 Nr. 1 bis 2a RVO - Bescheinigungen als Voraussetzung der Anerkennung von Ausfallzeiten). Tatbestandswirkung muß aber auch dann anerkannt werden, wenn das Gesetz zwar nicht ausdrücklich, aber seinem Sinn nach anordnet, daß ein Tatbestandsmerkmal so hinzunehmen ist, wie es durch den Verwaltungsakt eines anderen Rechtsträgers festgestellt worden ist (vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. § 50 I c, S. 415).

Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Der Anspruch auf Beitragszuschuß hängt nach § 381 Abs. 4 RVO davon ab, ob die Klägerin zu den Personen zu zählen ist, die zwar Rentner sind, aber "nicht zu den in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personen gehören". Da nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO alle Bezieher von Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten versicherungspflichtig sind, sind die Fälle, in denen Rentner nicht versicherungspflichtig sind, als Sonderfälle anzusehen, über die jedenfalls dann besonders zu entscheiden ist, wenn der Anspruch auf den Beitragszuschuß nach § 381 Abs. 4 RVO davon abhängt. Zwar sind die Wege, die dazu führen, daß ein Rentner trotz Rentenbezugs nicht zu den in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personen gehört - Befreiung von der Versicherungspflicht (§ 173 a RVO), Feststellung der Versicherungsfreiheit -, systematisch voneinander zu unterscheiden. Bei positiver Entscheidung ist das Ergebnis in beiden Fällen aber das gleiche, nämlich die Nichtzugehörigkeit zu dem in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personenkreis, für den als Anspruchsvoraussetzung nach § 381 Abs. 4 RVO, wie der Senat mehrfach entschieden hat (vgl. BSG 14, 181; 23, 211, 212; SozR Nr. 20 zu § 381 RVO), nur die Tatsache des Nichtversichertseins entscheidend ist.

An der Entscheidung der Frage, ob die Beteiligter eines streitigen Krankenversicherungsverhältnisses zu Recht oder zu Unrecht von der Tatsache des Nichtversichertseins ausgehen, hat der Rentenversicherungsträger regelmäßig kein wirtschaftliches Interesse. Er hat in der Regel ohne Rücksicht darauf, wie diese Frage beantwortet wird, Zahlungen zu leisten, die dieselbe Größenordnung haben: Entweder hat er den nach § 381 Abs. 2 RVO i.V.m. § 385 Abs. 2 RVO berechneten Betrag zu zahlen oder er muß - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen - an den Versicherten einen Durchschnittsbetrag zahlen, wie er nach § 381 Abs. 4 Satz 1 RVO zu errechnen ist. Deshalb ist die Frage, aus welchem Grunde ein Rentenbezieher nicht zu den in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personen gehört, für den Rentenversicherungsträger vom Standpunkt seiner wirtschaftlichen Belastung aus gesehen ohne wesentliche Bedeutung.

Aus anderen Gründen besteht jedoch an der Vermeidung widersprechender Entscheidungen im Rahmen der Regelung des Versicherungsschutzes für Rentenbezieher in ihren zwei alternativen Erscheinungsformen: Pflichtversicherung oder Finanzierung einer privaten oder freiwilligen Versicherung ein gewichtiges Interesse. Die unterschiedliche Beurteilung der Frage der Zugehörigkeit zu dem Personenkreis des § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO würde dazu führen, daß entweder - wie hier - beide Möglichkeiten der Sicherung im Krankheitsfall genommen oder beide Möglichkeiten kumulativ gegeben werden. Solche nach dem Sinn der Gesamtregelung zu vermeidenden Folgen werden dadurch von vornherein ausgeschlossen, daß der Rentenversicherungsträger bei Entscheidung über einen Antrag nach § 381 Abs. 4 RVO an eine Vorentscheidung im Verhältnis Rentner-Krankenkasse über die Frage der Zugehörigkeit des Rentners zur Kasse gebunden ist.

Demnach steht für den beklagten Rentenversicherungsträger fest, daß die Klägerin nicht zu den in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Personen gehört.

Da die Versicherung der Klägerin bei der Postbeamtenkrankenkasse sowohl nach ihrer Rechtsform wie auch im Hinblick auf die versicherten Risiken die Voraussetzung einer privaten Krankenversicherung im Sinne des § 381 Abs. 4 Satz 2 RVO erfüllt, ist der Anspruch auf Beitragszuschuß begründet.

Das zutreffende Urteil des SG war somit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG wiederherzustellen (§§ 170 Abs. 2 Satz 1, 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646643

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