Leitsatz (redaktionell)
Bei der gemäß KOVVfG § 40 Abs 1 nachzuholenden Entscheidung über das besondere berufliche Betroffensein gemäß BVG § 30 Abs 2 ist die Versorgungsbehörde nicht befugt, die MdE nach BVG § 30 Abs 1 anders als bisher zu bewerten, weil sie diese für überhöht hält, wenn es hierfür an den gesetzlichen Voraussetzungen des KOVVfG § 41 oder des BVG § 62 Abs 1 mangelt.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27, § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1971-12-16, Abs. 2 S. 1 Fassung: 1971-12-16
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. September 1975 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Durch zwei Bescheide vom Februar 1952 wurden bei dem im Jahre 1919 geborenen Kläger eine geringe Milzvergrößerung und ein leichter Magenkatarrh als Schädigungsfolgen anerkannt (MdE 30 v. H.). Aufgrund eines am 2. Oktober 1957 vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) geschlossenen gerichtlichen Vergleichs wurde "Gehirnblutung aus einer lokalisierten Erweiterung einer Schlagader (Aneurysma)" als weitere Schädigungsfolge anerkannt und Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 80 v. H., vom 1. Dezember 1951 an um 60 v. H. gewährt. In späteren ärztlichen Gutachten wurde die MdE als überhöht bezeichnet.
Ein im Januar 1972 gestellter Antrag des Klägers, seine MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit im Wege eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) zu erhöhen, wurde durch Bescheid vom 26. Oktober 1972 abgelehnt: Auch unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins wäre die MdE nicht höher als mit 60 v. H. zu bewerten, wenn erstmals über den Versorgungsanspruch zu entscheiden wäre. Der Widerspruch war erfolglos (Bescheid des Landesversorgungsamts Bayern vom 6. Dezember 1972).
Das Sozialgericht (SG) kam aufgrund der von ihm durchgeführten Beweiserhebung zu der Überzeugung, daß die MdE z. Zt. des Vergleichsabschlusses nur 45 v. H. im allgemeinen Erwerbsleben betragen habe. Es hat mit Urteil vom 28. Februar 1974 die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische LSG durch Urteil vom 25. September 1975 das Urteil des SG und die Verwaltungsbescheide aufgehoben. In der Begründung heißt es, bei der dem Kläger in dem gerichtlichen Vergleich vom 2. Oktober 1957 zugestandenen MdE um 60 v. H. sei der Bemessungsfaktor des § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) unberücksichtigt geblieben. Der Kläger sei als Landwirt beruflich besonders betroffen, weil er seinen Beruf zwar noch ausüben könne, sich aber besonders anstrengen müsse, um nicht wirtschaftlich abzusinken. Der Beklagte handele ermessensfehlerhaft, wenn er eine Höherbewertung der MdE mit der Begründung ablehne, die MdE würde im Falle der erstmaligen Entscheidung über den Versorgungsanspruch auch unter Einschluß eines besonderen beruflichen Betroffenseins nur 60 v. H. betragen. Der Beklagte könne die anerkannten Schädigungsfolgen nicht nachträglich anders, nämlich niedriger, bewerten; er sei an den Vergleich vom 2. Oktober 1957 gebunden, solange nicht die Voraussetzungen des § 62 BVG oder des § 41 VerwVG erfüllt seien und der Beklagte eine entsprechende Neufeststellung vorgenommen habe. Der Bescheid vom 26. Oktober 1972 sei daher rechtswidrig.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung des § 40 Abs. 1 VerwVG und führt dazu aus, die schädigungsbedingte MdE des Klägers sei sowohl im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses im Jahre 1957 als auch seit dem Jahre 1972 nicht höher als maximal 45 v. H. im allgemeinen Erwerbsleben (nach § 30 Abs. 1 BVG) zu veranschlagen. Eine Gesamt-MdE um 60 v. H. sei daher lediglich für den Fall anzunehmen, daß man sich der vom LSG vertretenen Meinung anschließe, der Kläger sei in seinem Beruf als Landwirt besonders betroffen. Die Bewilligung einer höheren MdE als um 60 v. H. im Wege einer Zugunstenentscheidung nach § 40 Abs. 1 VerwVG sei daher nicht möglich; eine "Unrichtigkeit" liege nicht vor. Eine weitere Erhöhung der MdE würde nicht mehr der Beseitigung eines Unrechts dienen, sondern die Bewilligung von Versorgungsbezügen ermöglichen, auf die der Versorgungsberechtigte keinen Anspruch habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 25. September 1975 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Landshut vom 28. Februar 1974 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
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1. |
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die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen LSG vom 25. September 1975 als unbegründet zurückzuweisen; |
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dem Beklagten aufzuerlegen, die außergerichtlichen Kosten des Klägers in sämtlichen Rechtszügen diesem zu erstatten. |
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet.
Nach § 40 Abs. 1 VerwVG kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Beschädigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen, wenn - wie es ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entspricht (vgl. BSGE 29, 278, 282; SozR 3900 VerwVG § 40 Nr. 3) - eine vorangegangene Verwaltungsentscheidung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig ist. Das ist hier der Fall. Das LSG ist zutreffend und vom Beklagten nicht angegriffen davon ausgegangen, daß der Kläger in seinem Beruf als Landwirt durch die Schädigungsfolgen besonders betroffen ist, weil er nur unter Gefährdung seiner Gesundheit einen wirtschaftlichen Abstieg vermeiden kann (§ 30 Abs. 2 Buchst. b BVG). Diese besondere Berufsbetroffenheit ist bei der Festsetzung der MdE in dem gerichtlichen Vergleich vom 2. Oktober 1957 vor dem Bayerischen LSG nicht berücksichtigt worden. Die Verwaltungsbehörde muß zwar bei der Festsetzung der MdE grundsätzlich alle Faktoren berücksichtigen und demgemäß auch prüfen, ob die MdE nach § 30 Abs. 2 BVG zu erhöhen ist. Daraus folgt aber noch nicht, daß in jeder einem Beschädigten zuerkannten MdE tatsächlich der Faktor des beruflichen Betroffenseins gemäß § 30 Abs. 2 BVG enthalten ist. Wie der erkennende Senats bereits in seinem Urteil vom 14. Oktober 1970 (SozR BVG § 30 Nr. 46) ausgesprochen hat, muß jeweils dem Gesamtinhalt des (früheren) Bescheides entnommen werden, ob tatsächlich die MdE nach § 30 Abs. 2 BVG erhöht worden ist. Das ist bei dem gerichtlichen Vergleich vom 2. Oktober 1957 nicht der Fall. Davon ist auch der Beklagte selbst ausgegangen, denn er hat aus diesem Grunde in dem Zugunstenbescheid vom 12. Juli 1972 von der zunächst vorgenommenen Anrechnung des Unterschiedsbetrages zwischen der Grundrente nach einer MdE um 60 v. H. und 40 v. H. auf den Berufsschadensausgleich (s. Bescheid vom 25. November 1970) wieder abgesehen. Die MdE um 60 v. H. erfaßte somit nicht alle Faktoren der schädigungsbedingten Beeinträchtigung des Klägers und war daher unrichtig (vgl. BSGE 29, 278).
Der Beklagte kann die Ablehnung einer Zugunstenregelung nicht damit rechtfertigen, daß auch unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins keine höhere MdE als 60 v. H. angenommen werden könnte, wenn erstmals über einen Versorgungsantrag des Klägers zu entscheiden wäre. Da der Kläger beruflich besonders betroffen ist und dies im Vergleich vom 2. Oktober 1957 nicht berücksichtigt worden ist, könnte bei zusätzlicher Bewertung eines besonderen beruflichen Betroffenseins die MdE in der bisherigen Höhe nur dann beibehalten werden, wenn gleichzeitig die auf medizinischem Gebiet liegenden Folgen der Schädigung niedriger bewertet werden als bisher. Dies ist dem Beklagten aus Rechtsgründen verwehrt, weil er an die hier vorgenommene Festsetzung der MdE gebunden ist.
Das BSG hat bereits wiederholt ausgesprochen, daß die Erhöhung der MdE wegen Verschlimmerung oder bei Berücksichtigung einer weiteren Schädigungsfolge nicht deshalb abgelehnt werden darf, weil eine andere Schädigungsfolge - ohne tatsächliche Änderung - jetzt geringer bewertet wird als in dem vorangegangenen Bescheid. Vielmehr bleibt eine ursprünglich zu hoch festgesetzte MdE weiterhin die Grundlage für die Neufeststellung (vgl. BSGE 19, 15; 19, 77; SozR BVG § 30 Nr. 13). In ähnlicher Weise hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 24. Mai 1973 - 10 RV 255/72 - entschieden, daß die für die Festlegung der Stufe der Schwerstbeschädigtenzulage nach § 31 Abs. 5 BVG maßgebliche Punktzahl bei Verschlimmerung einer Schädigungsfolge nicht deshalb unverändert beibehalten werden darf, weil eine andere Schädigungsfolge jetzt geringer eingeschätzt wird. Nunmehr hat der 9. Senat des BSG in seinen Urteilen vom 31. Juli 1975 (vgl. SozR 3100 BVG § 30 Nr. 8; SozR 3900 VerwVG § 40 Nr. 3) in Fortführung der Entscheidungen vom 28. April 1965 (BVBl 1966, 6) und vom 14. Oktober 1970 (aaO) ausgesprochen, daß die Versorgungsverwaltung nicht befugt ist, wenn sie zugunsten des Berechtigten wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG einen neuen Bescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG erteilt, den vorher wegen der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben festgesetzten Grad der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG deshalb neu zu bewerten, weil sie diesen für überhöht hält, es sei denn, es wäre ein Fall des § 41 VerwVG oder des § 62 BVG gegeben.
Der erkennende Senat bestätigt diese Rechtsprechung für den vorliegenden Fall. Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, daß der Gesetzgeber mit der Regelung des § 40 Abs. 1 VerwVG dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Prinzip der Rechtssicherheit gegeben hat. Der Beklagte übersieht aber, daß dies nur zugunsten des Beschädigten der Fall sein soll. Lediglich zu seinen Gunsten darf in die Bestandskraft eingegriffen werden, während im übrigen der Besitzstand des Versorgungsberechtigten unangetastet und die Bindungswirkung der früheren Bescheide erhalten bleiben, Dies muß auch dann gelten, wenn die MdE früher zu hoch und damit materiell unrichtig eingeschätzt worden war. Für die Herstellung der materiellen Gerechtigkeit auf diesem Gebiet hat der Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde andere Wege eröffnet, nämlich die Möglichkeit der Erteilung eines Neufeststellungsbescheides nach § 62 BVG oder eines Berichtigungsbescheides nach § 41 VerwVG. Bescheide dieser Art hat der Beklagte nicht erlassen, obwohl die Festsetzung der MdE auf 60 v. H. bereits in früheren Gutachten als überhöht bezeichnet worden war. Würde die Berichtigung eines Bescheides auch zum Nachteil des Versorgungsberechtigten im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 40 Abs. 1 VerwVG möglich sein, so würden die strengen Voraussetzungen für einen Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG umgangen werden, der den Nachweis der zweifelsfreien Unrichtigkeit in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht verlangt.
Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß diese Rechtsfolge auch dann gelten muß, wenn die MdE nicht in einem Verwaltungsbescheid, sondern in einem gerichtlichen Vergleich festgelegt worden ist (vgl. BSG SozR 3900 VerwVG § 40 Nr. 2; SozR 1500 ZPO § 141 Nr. 2). Die Bindungswirkung der früheren Bescheide schließt eine (verdeckte) Änderung der MdE zu Ungunsten des Beschädigten aus, unabhängig davon, ob diese Bindungswirkung nach § 24 VerwVG oder § 77 SGG oder nach § 101 Abs. 1 SGG eingetreten ist. Das Entscheidungsverhalten des Beklagten stellt sich daher als Ermessensfehlgebrauch dar. Das Urteil des LSG erweist sich als zutreffend; die Revision des Beklagten ist zurückzuweisen.
Das LSG hat den Beklagten - mangels eines entsprechenden Antrags des Klägers - nicht zum Erlaß eines neuen Bescheides verpflichtet. Da das LSG jedoch die vorangegangenen Verwaltungsentscheidungen aufgehoben hat, muß nunmehr über den noch nicht beschiedenen Antrag des Klägers vom 17. Januar 1972 ein neuer Bescheid erteilt werden. Hierbei wird der Beklagte die vom erkennenden Senat gebilligte Rechtsauffassung des LSG zu beachten haben (vgl. § 131 Abs. 3 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen