Orientierungssatz

Notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers bei Überleitung gemäß § 90 BSHG:

1. Ebenso wie der Hilfeempfänger, dem trotz Überleitung das "Stammrecht" verblieben ist, zu dem Rechtsstreit des Sozialhilfeträgers beizuladen ist, in dem dieser den übergeleiteten Anspruch vor den Sozialgerichten geltend macht (vgl BSG 1981-05-13 7 RAr 102/79 = SozR 1500 § 15 Nr 34), ist der Sozialhilfeträger zu dem Rechtsstreit des Arbeitslosen vor den Sozialgerichten beizuladen, wenn die Entscheidung auch die übergeleitete Arbeitslosenhilfe betrifft (vgl BSG 1981-07-21 7 RAr 26/80 = SozR 1500 § 75 Nr 37).

2. Rechtsnatur und Wirkung der "schriftlichen Anzeige" iS des § 90 BSHG.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; BSHG § 90

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.12.1981; Aktenzeichen L 12 Ar 108/80)

SG Detmold (Entscheidung vom 16.04.1980; Aktenzeichen S 12 Ar 27/79)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 6. Dezember 1978 bis 31. Juli 1979.

Der 1945 geborene Kläger verlor zum 30. September 1969 wegen Erblindung seine Arbeit. 1970 unterzog er sich zunächst einer blindentechnischen Grundausbildung, anschließend besuchte er eine zweijährige Handelsschule. Seit Oktober 1972 studierte der Kläger Erziehungswissenschaften; dieses Studium schloß er am 5. Dezember 1978 mit dem Diplom ab.

Den bei gleichzeitiger Arbeitslosmeldung am 6. Dezember 1978 gestellten Antrag auf Alhi lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 6. Dezember 1978; Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 1979). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide verurteilt, Alhi antragsgemäß zu gewähren (Urteil vom 16. April 1980). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Dezember 1981). Das LSG hat ausgeführt, die Anspruchsvoraussetzungen des § 134 Abs 1 Nr 4c Arbeitsförderungsgesetz (AFG) erfülle der Kläger nicht. Innerhalb eines Jahres vor Beginn des Studiums habe er nicht mindestens 26 Wochen in entlohnter Beschäftigung gestanden. Zwar habe er wegen einer medizinischen Maßnahme der Rehabilitation in dieser Zeit Leistungen eines Rehabilitationsträgers bezogen; Zeiten des Bezugs solcher Leistungen ersetzten die fehlende entlohnte Beschäftigung jedoch nicht. Nichts anderes gelte, wenn die blindentechnische Grundausbildung, der Schulbesuch und das Studium als Einheit gewertet werden. Vor Januar 1970 sei der Kläger länger als ein Jahr arbeitsunfähig krank gewesen; Krankheitszeiten gälten nach § 134 Abs 1 Nr 4b Satz 2 AFG nicht als Zeiten entlohnter Beschäftigung. Schließlich stehe dem Kläger die Alhi auch nicht aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu.

Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 134 AFG und führt hierzu insbesondere aus: Er habe sein Beschäftigungsverhältnis nicht fortsetzen können, weil er erblindet sei. Es sei ungleich und unsozial, die Alhi zu versagen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nur wegen Krankheit nicht hätten erfüllt werden können. Im übrigen lasse § 134 Abs 3 AFG Ersatztatbestände im Jahre vor der Arbeitslosmeldung zu; es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß die Ersatztatbestände nicht gelten sollten, wenn sie vor einer Hochschulausbildung gelegen hätten (BSGE 46, 228, 231).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, daß der Oberstadtdirektor der Stadt B. mit Schreiben vom 29. Dezember 1978 an das Arbeitsamt B. wegen der dem Kläger ab 29. Dezember 1978 gewährten Sozialhilfe gem § 90 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einen Anspruch auf Alhi auf die Stadt übergeleitet hat.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, ohne daß der Senat zur Sachentscheidung Stellung zu nehmen vermag.

Bei einer zulässigen Revision sind, bevor sachlich-rechtlich über den streitigen Anspruch entschieden werden kann, die Voraussetzungen zu prüfen, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Der Kläger hat mit seiner Revision zwar keinen Verfahrensmangel gerügt, das Revisionsgericht hat jedoch solche Mängel, die zur Unwirksamkeit des Urteils führen, von Amts wegen zu berücksichtigen. Zu diesen von Amts wegen zu berücksichtigenden Mängeln zählt die Unterlassung einer notwendigen Beiladung (seit BSG SozR 1500 § 75 Nr 1 ständige Rechtsprechung; BVerwG Buchholz 310 § 65 VwGO Nr 31). Dem SG und dem LSG ist entgangen, daß an dem Rechtsstreit, soweit dieser den Anspruch auf Alhi ab 29. Dezember 1978 betrifft, der Sozialhilfeträger, der dem Kläger ab 29. Dezember 1978 Sozialhilfe gewährt hat und mit der Gewährung der Beklagten die Überleitung des Anspruchs auf Alhi in Höhe seiner Aufwendungen nach § 90 BSHG angezeigt hat, derart beteiligt ist, daß die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann und der Sozialhilfeträger (bzw die für die Sozialhilfe zuständige Behörde, sofern sie nach § 70 Nr 3 SGG und dem einschlägigen Landesrecht fähig ist, am Verfahren beteiligt zu sein) daher gem § 75 Abs 2 SGG notwendig zum Rechtsstreit beizuladen ist.

Mit der schriftlichen Anzeige an den Drittschuldner bewirkt der Träger der Sozialhilfe, daß ein Anspruch des Hilfeempfängers bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn für die Zeit übergeht, für die dem Hilfeempfänger die Hilfe ohne Unterbrechung gewährt wird (§ 90 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 BSHG). Der Übergang erstreckt sich bei Unterhaltsansprüchen und ähnlichen künftig entstehenden Ansprüchen nicht auf das "Stammrecht"; dieses verbleibt vielmehr dem Hilfebedürftigen, so daß der Drittschuldner nicht gehindert ist, seinen Verpflichtungen in Zukunft unmittelbar gegenüber den Hilfebedürftigen nachzukommen und insoweit die Sozialhilfe entbehrlich machen kann (BVerwG 29, 229, 231; 34, 219, 225; 42, 198, 200; 50, 64, 66). Die schriftliche Anzeige ist ein Verwaltungsakt, der mit unmittelbarer Rechtswirkung zum Anspruchsübergang führt, sofern er nicht nichtig ist (BVerwG Buchholz 454.71 § 3/II WoGG Nr 1). Die Überleitung sagt nichts über Bestand, Höhe und Inhalt des übergeleiteten Anspruchs aus, sondern bewirkt lediglich den Gläubigerwechsel; der Anspruch wird durch die Überleitung nicht verändert, dem Schuldner verbleiben alle Rechtseinwendungen auch gegenüber dem Sozialhilfeträger, wie sie ihm gegenüber dem eigentlichen Anspruchsinhaber zustanden. Der Sozialhilfeträger kann den übergeleiteten Anspruch nur in dem Maße und unter denselben Voraussetzungen geltend machen, wie der Hilfeempfänger (BVerwGE 34, 219, 221 f; BSGE 41, 237, 238 = SozR 5910 § 90 Nr 2). Die Befugnis der Beklagten, Ansprüche aus Leistungen nach dem AFG durch Verwaltungsakt zu regeln, wird daher durch die Überleitung eines solchen Anspruchs nicht beeinträchtigt (BSG aaO); hinsichtlich des übergeleiteten Anspruchs kommt dem Sozialhilfeträger nur die Stellung zu, die auch dem Hilfeempfänger gegenüber seinem Schuldner zusteht (BSG aaO; SozR Nr 36 zu § 148 SGG; vgl ferner SozR Nrn 18, 19, 20 und 27 zu § 146 SGG).

Gegenstand des Rechtsstreits ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Alhi vom 6. Dezember 1978 bis 31. Juli 1979, den die Beklagte durch die angefochtenen Bescheide abgelehnt hat. Eine gerichtliche Entscheidung betrifft den Alhi-Anspruch mithin auch ab 29. Dezember 1978, von dem an der Sozialhilfeträger den Anspruch in Höhe seiner täglichen Aufwendungen für den Kläger auf sich übergeleitet hat. Damit greift jegliche gerichtliche Entscheidung über die streitige Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger Alhi zu gewähren, in die Rechtssphäre des Sozialhilfeträgers unmittelbar ein. Ebenso wie der Hilfeempfänger, dem trotz Überleitung das "Stammrecht" verblieben ist, zu dem Rechtsstreit des Sozialhilfeträgers beizuladen ist, in dem dieser den übergeleiteten Anspruch vor den Sozialgerichten geltend macht (BSG SozR 1500 § 75 Nr 34), ist daher der Sozialhilfeträger zu dem Rechtsstreit des Arbeitslosen vor den Sozialgerichten beizuladen, wenn die Entscheidung auch die übergeleitete Alhi betrifft. Dies hat der Senat nicht nur angenommen, wenn sich der Arbeitslose gegen eine Entziehung der ihm gewährten Alhi wendet, die mit dem Verlust der erworbenen Anwartschaft verbunden ist, und der Sozialhilfeträger die Alhi für die Zeit nach der Entziehung übergeleitet hat (BSG SozR 1500 § 75 Nr 37; Urteil des Senats vom 25. August 1981 -7 RAr 73/80-), sondern auch für den hier vorliegenden Fall, daß der Arbeitslose auf Gewährung der wegen Nichterfüllung der Anspruchsvoraussetzungen verweigerten übergeleiteten Alhi klagt (Urteil vom 8. Oktober 1981 -7 RAr 74/80-).

Da Beiladungen im Revisionsverfahren in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit unzulässig sind (§ 168 SGG), führt der Verfahrensmangel zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, damit dieses die Beiladung nachholen kann. Mangels Beteiligung aller am Verfahren Betroffenen ist es dem Senat verwehrt, zur materiell-rechtlichen Seite und damit zu den Voraussetzungen der Alhi für Schul- und Hochschulabsolventen Stellung zu nehmen, die durch die Neufassung des § 134 Abs 1 Nr 4 AFG durch Art 1 § 1 Nr 54 Buchst a des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (vom 22. Dezember 1981, BGBl I 1497) inzwischen entfallen ist.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658321

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