Entscheidungsstichwort (Thema)

Klageantrag und Umfang des Klageanspruchs

 

Orientierungssatz

1. Das Gebot der umfassenden Entscheidung über die vom Kläger erhobenen Ansprüche (§ 123 SGG) gilt gleichermaßen für die Berufungsinstanz (§ 123 SGG iVm § 157 S 1 SGG). § 157 S 1 SGG ist nicht dahin zu verstehen, daß stets allein der Umfang der Prüfung des Streitfalles durch das SG die Grenze der Prüfung durch das LSG bestimmt. Das folgt schon aus § 157 S 2 SGG, wonach "auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen sind" (vgl BSG vom 29.6.1979 8b RK 4/79 = BSGE 48, 243, 244 f = SozR 5310 § 6 Nr 2). Entscheidend ist der Klageantrag nur dann, wenn er sich mit dem geltend gemachten Klageanspruch deckt.

2. Die Auslegung der den Streitgegenstand und betreffenden Erklärungen, die auch dem Revisionsgericht obliegt (vgl BSG vom 16.4.1964 11/1 RA 206/61 = BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG), hat mit dem Ziel zu erfolgen, das wirklich Gewollte zu ermitteln. Damit ist der förmliche Klageantrag nicht die alleinige und ausschließliche Erkenntnisquelle. Dem Vorbringen des Klägers sowie den Umständen des Einzelfalles kommt besondere Bedeutung zu. Mit der Erhebung der Anfechtungs- und Leistungsklage begehrt der Kläger in aller Regel eine Änderung derjenigen Verwaltungsentscheidung, durch die er sich beschwert fühlt (§ 54 Abs 1 SGG). Nach dieser Entscheidung bemißt sich im Grundsatz der Klageanspruch. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, daß der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht.

 

Normenkette

SGG § 54 Abs 1, §§ 123, 157 S 1, § 157 S 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 29.03.1984; Aktenzeichen L 15 V 293/83)

SG Augsburg (Entscheidung vom 26.07.1983; Aktenzeichen S 11 V 9/83)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG).

Bei ihm ist als Wehrdienstbeschädigung im Sinne der Verschlimmerung eine Lungentuberkulose anerkannt. Er bezog deswegen Versorgungsrente zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH und - nach vorübergehender Entziehung - mit Bescheid vom 25. April 1977 um 30 vH. In diesem Bescheid verneinte das Versorgungsamt ein besonderes berufliches Betroffensein, da der Kläger durch die Wehrdienstbeschädigung nicht gehindert sei, seinen erlernten Beruf als kaufmännischer Angestellter weiterhin auszuüben.

Dem Verschlimmerungsantrag vom 8. Dezember 1981 entsprach die Versorgungsbehörde nicht; sie setzte vielmehr die MdE mit Bescheid vom 24. Mai 1982 auf 10 vH herab, entzog ab 1. Juli 1982 die Versorgungsrente und bezog sich wegen des besonderen beruflichen Betroffenseins auf die ablehnende rechtsverbindliche Entscheidung vom 25. April 1977. Den Widerspruch, den der Kläger ua mit einer Leidensverschlimmerung sowie mit einer wirtschaftlichen Beeinträchtigung begründete, wies das Landesversorgungsamt als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1982).

Das Sozialgericht (SG) hat den niederschriftlich gestellten Klageantrag "den Bescheid vom 24. Mai 1982 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1982 aufzuheben, insoweit als eine Rücknahme des Bescheides vom 25. April 1977 wegen Zuerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nicht erfolgt" nicht entsprochen. Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Der Kläger habe nur höhere Versorgungsrente wegen besonderer Berufsbetroffenheit für zurückliegende Zeit begehrt, einen Antrag auf Weitergewährung der Rente über den Entziehungszeitpunkt - 30. Juni 1982 - hinaus nicht gestellt. Die Berufung sei mithin nach § 148 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unzulässig. Die unzulässige Berufung ergebe sich auch aus § 148 Nr 3 SGG, was nach Rechtslage einer besonderen Erörterung nicht bedürfe.

Mit der - vom erkennenden Senat - zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 148 Nr 2 SGG. Die Berufung habe sich - so der Kläger - gegen die zeitlich unbeschränkte Ablehnung von Versorgungsleistung gerichtet. Der vom SG formulierte Antrag erfasse nicht das vollständige Klagebegehren. Aus dem Zusammenhang sei ersichtlich, daß der Kläger die Herabsetzung der MdE auf 10 vH und damit die Entziehung der Rente habe anfechten wollen. Mit der Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins habe er sich eine Heraufsetzung der Rente erhofft.

Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und SG sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Dezember 1981 Rente nach einer höheren MdE ua auch wegen beruflichen Betroffenseins zu gewähren; hilfsweise, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Berufung durfte nicht als unzulässig verworfen (§ 158 Abs 1 SGG) werden. Die Berufung war entgegen der Meinung des Berufungsgerichts nach § 148 Nr 2 SGG nicht ausgeschlossen. Sie betraf nicht "nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume", dh für die Zeit vor der Einlegung des Rechtsmittels (BSG SozR 1500 § 146 Nr 5 mwN). Der vom Kläger mit der Klage verfolgte Anspruch war auf die zeitlich uneingeschränkte Zuerkennung von Versorgungsrente gerichtet. Danach bemißt sich der Streitgegenstand (BSGE 4, 206, 208), der für die Berufungsfähigkeit maßgebend ist (BSGE 18, 266, 267 = SozR Nr 22 zu § 144 SGG; SozR 1500 § 148 Nr 1 mwN). Der Kläger wendet sich mit seiner Klage auch gegen den erfolgten Rentenentzug. Sonach ist - unabhängig von der Frage einer etwaigen Leidensverschlimmerung - jedenfalls die Gewährung der Grundrente in Streit. Somit ist auch nach § 148 Nr 3 SGG die Berufung nicht ausgeschlossen.

Das LSG begründet seine gegensätzliche Meinung mit dem im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Klageantrag. Es meint, dem Kläger fehle die Beschwer als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung; sie habe bei Berufungseinlegung nicht vorgelegen. Die im Berufungsverfahren gestellten Anträge seien mit den in der ersten Instanz gestellten nicht identisch. Um die Zulässigkeit der Berufung zu eröffnen, müsse die Zulässigkeit bereits bei der Berufungseinlegung vorgelegen haben und könne nicht durch eine Klageerweiterung bewirkt werden. Diese Ausführungen sind zwar grundsätzlich zutreffend, jedoch für den gegenwärtigen Fall nicht relevant. Nach § 123 SGG ist ohne Bindung an die Anträge über die vom Kläger erhobenen Ansprüche zu entscheiden. Dieses Gebot der umfassenden Entscheidung über die vom Kläger erhobenen Ansprüche gilt gleichermaßen für die Berufungsinstanz (§ 123 SGG iVm § 157 Satz 1 SGG). § 157 Satz 1 SGG ist nicht dahin zu verstehen, daß stets allein der Umfang der Prüfung des Streitfalles durch das SG die Grenze der Prüfung durch das LSG bestimmt. Das folgt schon aus § 157 Satz 2 SGG, wonach "auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen sind" (BSGE 48, 243, 244 f = SozR 5310 § 6 Nr 2). Entscheidend ist der Klageantrag nur dann, wenn er sich mit dem geltend gemachten Klageanspruch deckt. Das ist hier ersichtlich nicht der Fall.

Die Auslegung der den Streitgegenstand und betreffenden Erklärungen, die auch dem Revisionsgericht obliegt (BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG), hat mit dem Ziel zu erfolgen, das wirklich Gewollte zu ermitteln. Damit ist der förmliche Klageantrag nicht die alleinige und ausschließliche Erkenntnisquelle. Dem Vorbringen des Klägers sowie den Umständen des Einzelfalles kommt besondere Bedeutung zu (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987 RdNr 3 zu § 123 mwN). Mit der Erhebung der Anfechtungs- und Leistungsklage begehrt der Kläger in aller Regel eine Änderung derjenigen Verwaltungsentscheidung, durch die er sich beschwert fühlt (§ 54 Abs 1 SGG). Nach dieser Entscheidung bemißt sich im Grundsatz der Klageanspruch. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, daß der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (Meyer-Ladewig aaO).

Danach hat der Kläger mit der Klage den Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1982 uneingeschränkt angefochten. Die Fassung des erstinstanzlichen Verfahren zur Niederschrift gestellten Antrags "den Bescheid vom 24. Mai 1982 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1982 aufzuheben, insoweit als eine Rücknahme des Bescheides vom 25. April 1977 wegen Zuerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nicht erfolgt", entspricht nicht dem erkennbaren Willen des Klägers, wie die Revision zutreffend rügt. Entsprechend den im ablehnenden Widerspruchsbescheid enthaltenen Verfügungssätzen, nämlich Ablehnung des Leidensverschlimmerungsantrages, Rentenentziehung sowie Bezugnahme auf die rechtsverbindliche Ablehnung eines besonderen beruflichen Betroffenseins, begehrte der Kläger mit dem Berufungsantrag folgerichtig die Zuerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit sowie Versorgung gemäß § 1 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Daß der Kläger im Unterschied dazu sein Klagebegehren eingeschränkt wissen wollte, ist seiner Klage und dem darin enthaltenen schriftsätzlichen Vorbringen nicht zu entnehmen. Darauf weist die Revision mit Recht hin. Wohl liegt der Schwerpunkt der klägerischen Einwendungen auf der vermeintlich zu Unrecht versagten Erhöhung der Versorgungsrente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins. Dennoch hat der Kläger mit seinen Ausführungen im Schriftsatz vom 17. Januar 1983 "den Ablehnungsgrund im Widerspruchsbescheid kann ich deshalb nicht anerkennen, zumal am 5. April 1974 eine Verschlimmerung meines Leidens festgestellt wurde", worauf auch die Revision abhebt, deutlich zu erkennen gegeben, daß er nach wie vor eine uneingeschränkte Weitergewährung, wenn nicht sogar eine Erhöhung der bisher zuerkannten Versorgungsrente begehrt. Hätte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem SG sein Klageziel tatsächlich beschränken wollen, hätte dies eindeutig, klar, unmißverständlich und bedingungslos ausgesprochen werden müssen, um wirksam zu sein (zu § 102 SGG - Klagerücknahme -: BSG SozR Nr 8 zu § 102 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, 1977, RdNr 7 zu § 102 SGG; RdNr 2 zu § 156; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl 1977, S 349, 782; Stein/Jonas/Grunsky, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl 1977, § 555, RdZiffer 6). Das war hier nicht der Fall. Im Bemühen um eine sachdienliche Antragstellung (§ 106 Abs 1 SGG, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG) hat das SG bei der Formulierung des Klageantrags nicht den gesamten Klageanspruch erfaßt. Eine andere Auslegung wäre nach Sachlage geboten, wenn dies aus der niederschriftlichen Erklärung des Klägers oder sonstigen Umständen hervorginge. Dafür fehlen jegliche Anhaltspunkte.

Diese vom SG nicht erkannte Interessenlage bestätigt der Kläger mit der Berufungsschrift vom 16. September 1983, worin er mit seinem unter Ziffer 5 gestellten Berufungsantrag "Versorgung ab 10. März 1983 laut § 1 Abs 1 BVG" begehrt. Die Bezugnahme auf diese Gesetzesvorschrift bestätigt, daß der Klageanspruch nach wie vor darauf gerichtet ist, Versorgung wegen aller gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung zu erhalten. Daß der Kläger Versorgung erst ab 10. März 1983 zugesprochen haben möchte, mag auf seiner laienhaften Rechtsvorstellung beruhen. Jedenfalls ist nach den Umständen des Falles daraus eine Abkehr vom Klageziel nicht ersichtlich.

Nach alledem beruht das Berufungsurteil auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler.

Das LSG wird nunmehr die Sachentscheidung nachzuholen haben. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659048

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