Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegeunfall. Umweg
Orientierungssatz
1. Auf einem nicht nur unbedeutenden Umweg besteht der nach § 550 S 1 RVO erforderliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit nur, wenn der Umweg wesentlich der Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit dient und für die Wahl des weiteren Weges keine Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend dem privaten eigenwirtschaftlichen - Bereich des Versicherten zuzurechnen sind (vgl BSG 1957-01-22 2 RU 92/55 = BSGE 4, 219).
2. Wählt ein Versicherter für den Heimweg einen etwa 1400 m weiten Weg, um einen Arbeitskollegen an dessen Wohnung abzusetzen, während der kürzeste Weg von der Arbeitsstätte und Wohnung 700 m und der verkehrsgünstigste 1000 m beträgt, so handelt es sich um einen nicht unbedeutenden Umweg, der dem privaten Bereich zuzurechnen ist und daher nicht unter den Schutz der Unfallversicherung steht.
Normenkette
RVO § 550 S. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 26.04.1972) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 30.09.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. April 1972 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 30. September 1970 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, der als Werkzeugmacher in der B Metallwarenfabrik (BMF) in N, W-straße, beschäftigt war und in der P Straße wohnte, fuhr regelmäßig mit seinem Motorrad zur Arbeit. Die kürzeste Strecke zwischen der damaligen Wohnung des Klägers und dem Betrieb ist etwa 700 m lang und verläuft im wesentlichen gradlinig in südlicher Richtung über die F- und die H-straße bis zur Einmündung der S-straße, die nach rechts (westliche Richtung) bis zu der dort befindlichen Zufahrt zum Betrieb befahren werden mußte. Nach Arbeitsschluß am 8. April 1968 nahm der Kläger, wie üblich, seinen Arbeitskollegen Josef M (M.) mit, der in der A-Straße Nr. ... wohnte. Er fuhr von der S-straße über die H-straße, bog nach rechts (östliche Richtung) in die J-straße ab, von dort nach links (nördliche Richtung) in die R-straße und setzte M. an der Einmündung in die S-straße ab. Er setzte seinen Weg nach links über die S-straße fort und stieß beim Einbiegen in den vorfahrtsberechtigten K-weg mit einem diese Straße in nördlicher Richtung befahrenden Pkw zusammen. Dabei zog er sich einen Bruch des linken Oberschenkels zu. Der Kläger hatte beabsichtigt, vom K-weg aus in die in westlicher Richtung verlaufende L-straße und von dort aus nach Norden in die P-straße einzubiegen. Hierbei hätte er vom Betrieb bis zu seiner Wohnung etwa 1400 m zurückgelegt. Die unter Berücksichtigung der Verkehrsverhältnisse günstigste Strecke mit den wenigsten Kreuzungen gleichberechtigter Straßen ist etwa 1000 m lang und führt von der S-straße über ein Teilstück der H-straße in die südlich zur S-straße parallel hierzu verlaufende W-straße, die in östlicher Richtung bis zur B-straße zu befahren ist; von dieser in nördlicher Richtung verlaufenden Straße, die von der mit einer Ampelanlage versehenen Kreuzung mit der J-straße an die Bezeichnung Kweg trägt, kann - linksabbiegend - die L-straße befahren werden.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 25. März 1969 eine Entschädigung mit der Begründung ab, der Kläger habe den Unfall nicht auf dem direkten Heimweg von der Arbeitsstätte erlitten.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat nach Beweisaufnahme durch Urteil vom 30. September 1970 die Beklagte zur Entschädigungsleistung verurteilt. Es ist der Auffassung, die unfallbringende Fahrt habe auch mit dem versicherten Beschäftigungsverhältnis des Klägers in Zusammenhang gestanden, da die ohne Gegenleistung unternommene Mitnahme des Arbeitskollegen M. ausschließlich dem Zweck gedient habe, diesem die Heimkehr von der Arbeitsstätte zu erleichtern. Der Kläger habe bei der Wahl seines Heimweges das Unfallrisiko nicht erkennbar vergrößert; es handele sich allerdings um einen Grenzfall.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 26. April 1972 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Gefälligkeit gegenüber dem Arbeitskollegen reiche entgegen der Auffassung des SG nicht aus, den Unfallversicherungsschutz auf außerhalb der nach der Verkehrsanschauung als Wege von der Arbeitsstätte in Betracht kommende Wege zu erstrecken. Der vom Kläger eingeschlagene Umweg sei für den Versicherungsschutz jedoch unschädlich, da er die äußerst gefährliche Überquerung der J-straße vermieden habe. Der somit aufgrund der Verkehrssituation von der Kreuzung J-straße/H-straße aus eingeschlagene Umweg liege deshalb nicht außerhalb der geschützten Wegstrecke.
Mit dem Rechtseinbiegen von der H- in die J-straße sei der weitere Heimweg des Klägers durch die Verkehrssituation (Verbot des Linksabbiegens an der P Straße und dem K-weg) vorgezeichnet gewesen. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß der Kläger in den seltenen Fällen, in denen er M. nicht nach Hause brachte, bis zum Verbot des Linksabbiegend in den K-weg (Oktober 1967) ebenfalls die H-straße bis zur J-straße befahren habe und in diese rechts eingebogen sei. Zudem sei durch den vom Kläger gewählten Umweg zwar nicht die kürzeste, jedoch die verkehrsgünstigste Streckenführung (1000 m) nur um etwa 400 m und damit nur unwesentlich verlängert worden.
Die Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision wie folgt begründet: Der Kläger hätte in keinem Fall auf seinem Heimweg an die Unfallstelle zu kommen brauchen. Der Kläger habe, da er den direkten Heimweg um das Doppelte verlängert habe, nicht einen nur unwesentlichen Umweg eingeschlagen. Diesen Weg habe er nicht aus Gründen der Verkehrssicherheit, sondern offensichtlich nur gewählt, um gefälligkeitshalber den Arbeitskollegen M. in der Nähe von dessen Wohnung abzusetzen.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Meinung, er habe im Unfallzeitpunkt wieder unter Unfallversicherungsschutz gestanden, weil er im Bereich der Straßenkreuzung K-weg/L-straße verunglückt sei, die er auch auf dem ungefährlichen - nur geringfügigen - Umweg hätte befahren müssen.
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat im Unfallzeitpunkt nicht unter Versicherungsschutz gestanden.
Nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der Tätigkeit im Unternehmen zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Kläger hat am Unfalltag, nachdem er mit seinem Motorrad bereits mehr als die Hälfte der etwa 700 m langen direkten Verbindung von seiner Arbeitsstätte aus gefahren war, nicht den kürzesten Weg zu seiner Wohnung fortgesetzt; er hat vielmehr von der Kreuzung der H- mit der J-straße aus einen anderen Weg eingeschlagen, auf dem er, wenn der Unfall nicht eingetreten wäre, bis zum Erreichen seiner Wohnung etwa 1400 m zurückgelegt haben würde. Auf diesem - nicht in entgegengesetzter Richtung zur Wohnung - verlängerten Weg hat der Kläger nur kurz zu dem Zweck angehalten, seinen Arbeitskollegen M. in der Nähe von dessen Wohnung abzusetzen; von dort aus ist er nicht auf den Weg zurückgekehrt, der die kürzeste Verbindung zwischen seiner Arbeitsstätte und seiner Wohnung bildete; er hat vielmehr den nunmehr kürzesten, direkten Weg zu seiner Wohnung fortgesetzt. Damit hat er, da er - ohne erheblichen Aufenthalt - die Zielrichtung zu seiner Wohnung auf dem gesamten Weg beibehielt, einen einheitlichen Umweg zurückgelegt (vgl. BSG in SozR Nrn 5, 12, 23, 34 und 63 zu § 543 RVO aF; Nrn 6 und 19 zu § 550 RVO; BSG 22, 60, 61 = SozR Nr. 54 zu § 543 RVO aF; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl. S. 486 q mit weitern Nachweisen).
Der Versicherungsschutz für einen Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 Satz 1 RVO ist zwar nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung beschränkt; der Versicherte ist vielmehr wie in der Wahl des Verkehrsmittels auch in der Wahl des Weges grundsätzlich frei (BSG SozR Nr. 21 zu § 543 RVO aF). Kleinere Abweichungen vom kürzesten Weg - sog. unbedeutende Umwege - sind deshalb für den Versicherungsschutz unschädlich (BSG 4, 219, 222; SozR Nrn 33, 42 und 61 zu § 543 RVO aF). Dagegen besteht auf einem nicht nur unbedeutenden Umweg der nach § 550 Satz 1 RVO erforderliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit nur, wenn der Umweg wesentlich der Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit dient und für die Wahl des weiteren Weges keine Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend dem privaten - eigenwirtschaftlichen - Bereich des Versicherten zuzurechnen sind (BSG 4, 219, 222; SozR Nrn 33, 34, 42 zu § 543 RVO aF; SozR Nr. 8 zu § 550 RVO; Brackmann aaO S. 486 q I).
Am Unfalltag hat der Kläger einen nicht unbedeutenden Umweg von der Arbeitsstätte aus zurückgelegt. Die von ihm eingeschlagene Wegstrecke, die er ohne den Unfall bis zu seiner Wohnung fortgesetzt haben würde, ist mit etwa 1400 m doppelt so lang wie die kürzeste Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung. Räumlich betrachtet handelt es sich danach um einen großen Umweg. Selbst wenn der gesamte Weg mit dem Motorrad unter Berücksichtigung der Verkehrsverhältnisse in verhältnismäßig kurzer Zeit zurückzulegen war, so besteht doch nach der Sachlage kein Anhalt dafür, daß er nicht auch in zeitlicher Hinsicht im Verhältnis zu der kürzesten Verbindung um etwa das Doppelte verlängert worden ist (vgl. BSG SozR Nr. 33 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S. 486 q II). Allein die Möglichkeit, daß der Versicherte eine nicht besonders lange Wegstrecke mit seinem für das Zurücklegen des Weges gewählten Kraftfahrzeug in kurzer Zeit zurücklegen kann, rechtfertigt es nicht, jeden Umweg als unbedeutend und deshalb dem Versicherungsschutz unschädlich anzusehen, der nur wegen der an sich nicht großen Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung keinen großen Zeitaufwand erfordert.
Der vom Kläger regelmäßig benutzte Weg mit einer Gesamtlänge von etwa 1400 m ist entgegen der Auffassung des LSG hinsichtlich des Ausmaßes und der Bedeutung des Umweges nicht in eine Beziehung zu der - nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil - verkehrsgünstigsten, etwa 1000 m langen Strecke zu setzen. Der Kläger hat diese verkehrsgünstigste Verbindung nie gewählt; er ist den etwa 1400 m langen Weg nicht gefahren, um die Verkehrsschwierigkeiten zu vermeiden, die auf dem direkten, nur 700 m langen Weg beim Überqueren der gefährlichen Kreuzung der H- mit der J-straße bestanden, sondern deswegen, weil er auf diesem Weg seinen Arbeitskollegen in der Nähe von dessen Wohnung absetzen wollte. Es ist deshalb versicherungsrechtlich ohne Bedeutung, ob für den Kläger, nachdem er von der H- in die J-straße eingebogen war, durch Linksabbiegerverbote die weitere Fahrstrecke, wie das LSG ausführt, "vorgeschrieben" war; es kann deshalb auch dahingestellt bleiben, ob der Kläger nicht von der J-straße aus bereits unmittelbar nach dem Überqueren des K-weges - also schon vor dem Erreichen der von ihm befahrenen R-straße - nach links über die F-straße zum K-weg hätte abbiegen können. Dem Kläger war nicht in erster Linie daran gelegen, nach dem Abweichen von der kürzesten Verbindung auf dem nunmehr direkten oder verkehrsgünstigsten Weg zu seiner Wohnung zu gelangen, sondern seinen Arbeitskollegen an einer für diesen günstigen Stelle abzusetzen. Hierdurch war die Wahl des Weges von der Kreuzung H-/Jstraße ab allein wesentlich bestimmt. Erst nachdem sein Arbeitskollege abgestiegen war, strebte der Kläger auf dem danach kürzesten Weg nach Hause.
Der somit nicht nur unbedeutende Umweg, den er abweichend von dem direkten oder dem verkehrsgünstigsten Weg in seine Heimfahrt von der Arbeitsstätte eingeschoben hat, stand mit der versicherten Tätigkeit des Klägers nicht deshalb in einem ursächlichen Zusammenhang, weil er zurückgelegt wurde, um einen Arbeitskollegen nach Hause zu bringen (BSG SozR Nr. 33 zu § 543 RVO aF; Nr. 19 zu § 550 RVO mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Die Beschäftigung in demselben Unternehmen bildete für die beiden Arbeitnehmer lediglich den äußeren Anlaß der gemeinsam unternommenen Fahrt, die wesentlich allein durch das Interesse des Arbeitskollegen M. bestimmt war, seine ohnehin nicht weit von der Arbeitsstätte entfernte Wohnung möglichst schnell und bequem zu erreichen. Ein rechtserhebliches betriebliches Interesse an der Mitnahme des Arbeitskollegen läßt sich aus der hier allein in Betracht kommenden - zudem im Hinblick auf die nur geringe Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung und den deshalb nur geringen Zeitaufwand für den Heimweg kaum meßbar ins Gewicht fallenden - Schonung der Arbeitskraft des M. nicht herleiten. Der zur Entscheidung stehende Fall, dem die Verhältnisse im Jahre 1968 zugrundeliegen, bietet auch keinen Anlaß zu Ausführungen darüber, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen für einen Kraftfahrer Unfallversicherungsschutz auf Umwegen besteht, die dem Heimtransport von Arbeitskollegen dienen, wenn kollegiale Fahrgemeinschaften von einem Arbeitgeber nicht aus unmittelbar betrieblichen Gründen - zB Parkraummangel auf dem Betriebsgelände und in dessen Umgebung - geregelt oder wenigstens gewünscht werden (vgl. Brackmann aaO S 486 s; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 19 a zu § 550; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Kennzahl 121 S. 10), sondern im allgemeinen öffentlichen Interesse - zB zur Einsparung von Treibstoff in Zeiten akuten Mangels - angeregt werden.
Der Unfall ereignete sich auf dem Umweg. Der Kläger hatte nicht bereits eine Stelle erreicht, die er auch auf dem kürzesten direkten Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung gefahren haben würde. Das Vorbringen der Revision, im Unfallzeitpunkt habe sich der Kläger im Kreuzungsbereich K-weg/L-straße befunden, den er auf dem zwar nicht benutzten, aber verkehrsgünstigsten Weg befahren hätte, wird von den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die mit Revisionsrügen nicht angegriffen worden sind, nicht getragen. Auch nach den Angaben des Klägers in den Tatsacheninstanzen, die insoweit mit den Ermittlungen in den vom LSG beigezogenen Strafakten übereinstimmen, ereignete sich der Unfall nicht an einer Stelle, die der Kläger beim Befahren des verkehrsgünstigsten Weges über den K-weg beim Einbiegen in die L-straße erreicht hätte.
Da der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht gemäß § 550 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz stand, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen