Entscheidungsstichwort (Thema)

Bisheriger Beruf. Verweisungstätigkeiten für Facharbeiter

 

Orientierungssatz

1. Auch eine Facharbeitertätigkeit (hier: Kfz-Klempner) kann als bisheriger Beruf in Betracht kommen, wenn sie ohne die an sich vorgesehene Ausbildung und entsprechende Abschlußprüfung zwar vollwertig, aber nur kurzfristig ausgeübt worden ist und aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr hat fortgesetzt werden können (vgl BSG vom 1979-11-29 4 RJ 111/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 53).

2. Zur Verweisung von Facharbeitern.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 28.03.1979; Aktenzeichen L 6 J 98/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 28.04.1977; Aktenzeichen S 25 J 2103/73)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente (hier: Weitergewährung über Februar 1973 hinaus).

Der 1945 geborene Kläger wurde eigenen Angaben zufolge in Griechenland von August 1958 bis Februar 1959 als Kraftfahrzeugklempner angelernt und übte diese Tätigkeit dort bis 1961 aus. Von 1963 bis 1971 arbeitete er mit Unterbrechungen in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Ausnahme der in den Zeiträumen September bis November 1963 (als Hilfsflaschner), August bis November 1964 (als Zimmerer oder Einschaler) und November 1968 bis Juli 1969 (als Kraftfahrer und Werkzeugschleifer) verrichteten Tätigkeiten war er nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) während etwa 44 Monaten als Kraftfahrzeugschlosser oder Karosseriebauer versicherungspflichtig beschäftigt.

Der Kläger kann nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG seit März 1973 wieder vollschichtig körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten; zuvor war sein Leistungsvermögen stärker eingeschränkt gewesen. Den im November 1972 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. September 1973 ab. Das Sozialgericht (SG) Berlin verpflichtete die Beklagte, dem Kläger für die Zeit ab November 1972 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 28. April 1977). Das LSG Berlin hat auf die Berufung der Beklagten dieses Urteil geändert und unter Zurückweisung der Berufung im übrigen die Klage abgewiesen, soweit diese den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit seit März 1973 betrifft. Es hat im Urteil vom 28. März 1979 ausgeführt:

Der Kläger sei seit März 1973 nicht mehr berufsunfähig. Ihm könnten einfache angelernte und ungelernte Tätigkeiten zugemutet werden. Beim "Karosseriebauer" und "Kraftfahrzeugschlosser" handele es sich um anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungsdauer von 3 1/2 Jahren, die der Kläger auch nicht annähernd zurückgelegt habe. Er könne den Berufsschutz eines Karosseriebauers nur beanspruchen, wenn er langjährig wie eine gelernte Kraft beschäftigt und entlohnt worden wäre (Hinweis auf BSGE 17, 41). Diese Voraussetzung liege jedoch nicht vor, da er in der Bundesrepublik Deutschland als Kraftfahrzeugklempner nur insgesamt etwa 44 Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er wendet sich dagegen, daß ihn das LSG im Ergebnis nur der Gruppe der "Angelernten" zugeordnet habe, und trägt vor, nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme es nicht auf die Ausbildung, sondern auf die Qualität des nicht nur vorübergehend und vollwertig ausgeübten Berufs an. In diesem Sinne habe er, wie seine tarifliche Einstufung und Entlohnung während der Beschäftigung bei verschiedenen Arbeitgebern zeige, den Status eines Facharbeiters erlangt.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin

vom 28. März 1979 aufzuheben und die Berufung

der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts

Berlin vom 28. April 1977 in vollem Umfang

zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, auch die 3 1/2jährige Beschäftigungszeit des Klägers als Kraftfahrzeugklempner könne nicht in vollem Umfang als Facharbeitertätigkeit gewertet werden. Allenfalls in den Jahren 1970/71 habe das Arbeitsentgelt demjenigen eines Facharbeiters entsprochen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil (in dem Umfang, wie es den Kläger beschwert hat) aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können". Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf" (Hauptberuf). Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden.

In der Regel ist von der zuletzt ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit als dem bisherigen Beruf auszugehen. Etwas anderes gilt - von bestimmten Sonderfällen einmal abgesehen (vgl Urteile des BSG vom 25. April 1978 - 5 RKn 9/77 = SozR 2600 § 45 Nr 22 und vom 26. Februar 1971 - 4 RJ 169/77 = SozR Nr 94 zu § 1246 RVO) - im wesentlichen nur für die gesundheitsbedingte Aufgabe eines Berufs mit der Folge, daß dann dieser Beruf gleichwohl maßgebend bleibt (ua Urteil des BSG vom 14. März 1979 - 1 RJ 84/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 41). Demzufolge ist der Hauptberuf die letzte vor Eintritt des Versicherungsfalles verrichtete versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit jedenfalls dann, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist - auch bei nur kurzfristiger Ausübung (Urteil des erkennenden Senats vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 53 S 161 mwN; ebenso BSG, 1. Senat vom 11. September 1980 - 1 RJ 94/79 - S 6).

Das LSG hat hierzu keine genügenden Feststellungen getroffen. Seine Ausführungen, es könne nicht von der Tätigkeit des Klägers als Kraftfahrzeugklempner oder Karosseriebauer ausgegangen werden, weil die Berufe "Karosseriebauer" und "Kraftfahrzeugschlosser" Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungsdauer von 3 1/2 Jahres seien, die der Kläger auch nicht annähernd zurückgelegt habe, lassen nicht erkennen, welche Tätigkeit es als bisherigen Beruf im dargelegten Sinne angesehen hat. Auch die weiteren Ausführungen, daß die Zeiten, während derer der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland "wie ein gelernter Kraftfahrzeugschlosser oder Karosseriebauer tätig gewesen ist, ... nach den vorliegenden Auskünften der Arbeitgeber insgesamt nur etwa 44 Monate" betragen haben, enthalten keine Aussage zum Hauptberuf. Dies erklärt sich daraus, daß das Berufungsgericht geglaubt hat, es könne dem Kläger keinen Berufsschutz zubilligen und müsse ihn auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen, weil er die fehlende Ausbildung auch nicht durch eine langjährige Beschäftigung und Bezahlung wie eine gelernte Kraft ersetzt habe. Indessen geht das LSG hierbei von einer unrichtigen Prämisse aus:

Dem Berufungsgericht ist zwar zuzugeben, daß beim Fehlen der für einen Facharbeiterberuf vorgesehenen Ausbildung und Prüfung die frühere Rechtsprechung den "Angelernten" dem "Gelernten" nur gleichgestellt hat, wenn die Facharbeitertätigkeit langjährig ausgeübt worden war (vgl zB das vom LSG erwähnte BSG-Urteil vom 26. April 1962 - 5 RKn 17/61 = BSGE 17, 41 = SozR Nr 5 zu § 46 RKG). Später ist aber dem (herkömmlichen) Ausbildungsweg im Rahmen des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO eine geringere oder jedenfalls keine selbständige Bedeutung mehr eingeräumt worden. Auch die "Langjährigkeit" der Berufsausübung als eine Art Voraussetzung für die Gleichstellung mit einem Facharbeiter, der die vorgesehene Ausbildung absolviert hat, ist immer mehr in den Hintergrund getreten; es genügten nun wenige Jahre vollwertiger Arbeitsleistung im Facharbeiterberuf (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 53 S 162 mit Rechtsprechungsnachweisen).

Mit dem bereits erwähnten Urteil vom 29. November 1979 (= SozR 2200 § 1246 Nr 53) hat dann der erkennende Senat die Auffassung vertreten, daß auch eine Facharbeitertätigkeit als bisheriger Beruf in Betracht kommen kann, wenn sie ohne die an sich vorgesehene Ausbildung und entsprechende Abschlußprüfung zwar vollwertig, aber nur kurzfristig ausgeübt worden ist und aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr hat fortgesetzt werden können. Zur Begründung ist an die bisherige Rechtsprechung, nicht den Weg zum Beruf, sondern die Qualität des Berufs ausschlaggebend sein zu lassen, angeknüpft und auf das Versicherungsrisiko sowie darauf hingewiesen worden, daß es ebenso willkürlich wäre, eine feste Zeitspanne der Berufsausübung anzusetzen, wie untunlich, insoweit auf besondere Umstände des Einzelfalls abheben zu wollen (aaO S 163).

Eine andere Frage ist, daß es der eingehenden Prüfung bedarf, ob die abweichend vom "normalen" Ausbildungsweg erlangte berufliche Position tatsächlich in voller Breite derjenigen des vergleichbaren Versicherten (Facharbeiters) entspricht, der die üblichen Stadien der Ausbildung durchlaufen hat (vgl hierzu im einzelnen aaO S 163; dem folgend Urteil des BSG, 1. Senat, vom 12. November 1980 - 1 RJ 24/79 S 9).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist zunächst der bisherige Beruf des Klägers zu ermitteln und sodann festzustellen, ob der Kläger bis zum Eintritt des Versicherungsfalles die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Facharbeiters "vollwertig" erworben hatte, dh unabhängig von den Gegebenheiten des einzelnen Arbeitsplatzes alle Tätigkeiten verrichten konnte, die gemeinhin von einem Facharbeiter mit "normalem" Ausbildungsweg erwartet werden. Die hierzu erforderlichen Ermittlungen liegen auf tatsächlichem Gebiet und sind daher vom LSG nachzuholen; der Rechtsstreit ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz). Dabei bietet sich an, die bereits eingeholten Arbeitgeberauskünfte zu berücksichtigen und mitzuverwerten. Es unterliegt dann tatrichterlichem Ermessen, ergänzende Beweiserhebungen und -würdigungen durchzuführen.

Gelangt das LSG zu dem Ergebnis, daß der Kläger im Hinblick auf seinen bisherigen Beruf in die Gruppe der Facharbeiter einzustufen ist, entfällt damit die Verweisung auf das allgemeine Arbeitsfeld. Er kann in diesem Falle nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter allerdings nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren (mindestens aber ein Jahr) voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl zuletzt BSG, Urteil des 1. Senats vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 - und die dort zitierte Rechtsprechung sowie Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 -). Dabei wird das LSG auch die vom Kläger seit der Rentenantragstellung verrichteten Berufstätigkeiten in die Betrachtung mit einbeziehen und auf ihre Verweisbarkeit prüfen müssen. Insbesondere wird zu berücksichtigen sein, ob der Kläger durch die Meisterprüfung neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat und damit auch noch andere Verweisungstätigkeiten als bisher in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658564

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge