Entscheidungsstichwort (Thema)
Inkrafttreten von Nachversicherungsvorschriften
Leitsatz (amtlich)
Ist einem Ruhestandsbeamten vor dem 1.3.1957 das Ruhegehalt aberkannt worden, so ist er nicht in der Rentenversicherung nachzuversichern.
Orientierungssatz
Bei Änderungen des Nachversicherungsrechts muß dem Gesetzgeber im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes das Recht zustehen, zur Rechtssicherheit und Vermeidung übermäßiger Belastungen Stichtagsregelung zu treffen (vgl BSG 1977-02-23 1 RA 43/76 = BSGE 43, 200, 202).
Normenkette
AVG § 9 Abs 4 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1232 Abs 4 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art 2 § 4 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art 2 § 3 Fassung: 1957-02-23; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.11.1979; Aktenzeichen L 4 An 144/79) |
SG Köln (Entscheidung vom 09.05.1979; Aktenzeichen S 5 An 263/77) |
Tatbestand
Der 1915 geborene Kläger war vom 2. Januar 1939 bis zum 30. Juni 1950 Beamter auf Lebenszeit. Zum 30. Juni 1950 wurde er aufgrund der Verordnung vom 17. Februar 1950 (BGBl S 34) in den Ruhestand versetzt. Durch Urteil der Dienstkammer Schleswig vom 14. März 1956 wurde er wegen schuldhafter Verletzung seiner Pflichten mit Aberkennung des Ruhegehalts bestraft.
Im Rahmen eines im Dezember 1976 gestellten Antrages auf Gewährung von Rente gab er an, er habe Anspruch auf Nachversicherung für die Zeit vom 2. Januar 1939 bis 30. Juni 1950. Die Beklagte lehnte die Durchführung einer Nachversicherung mit der Begründung ab, der Kläger sei mit Versorgung aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden, § 9 Abs 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gelte nur für Fälle eines Versorgungsverlustes nach dem 28. Februar 1957. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, die Nachversicherung für die Zeit vom 2. Januar 1939 bis zum 30. Juni 1950 durchzuführen. In der Begründung ist ausgeführt, § 9 Abs 4 AVG müsse auch für Fälle gelten, in denen der Verlust des Versorgungsanspruchs vor dem 1. März 1957 eingetreten sei. Der Gesetzgeber des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG), durch das § 9 Abs 4 AVG eingeführt worden sei, habe offenbar versehentlich unterlassen, eine entsprechende Übergangsregelung in das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) aufzunehmen. Eine Differenzierung zwischen Fällen eines Versorgungsverlustes vor und nach dem 1. März 1957 würde gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) verstoßen; es fehle auch an einem Anhalt dafür, daß der Gesetzgeber sie gewollt haben könne.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG habe zu Unrecht § 9 Abs 4 AVG auf einen Fall des Ausscheidens und des Verlustes von Versorgungsansprüchen vor dem 1. März 1957 angewandt. Für Fälle dieser Art müsse es bei einer Anwendung des alten Rechts bewenden, das eine Nachversicherung nicht zulasse.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben
und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; für eine Nachversicherung ist kein Raum, weil der Kläger seinen Anspruch auf Versorgung bereits vor dem 1. März 1957 verloren hat.
Der Kläger ist 1950 aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden und hat seinen zunächst gegebenen Anspruch auf beamtenrechtliche Versorgung 1956 verloren. Damit ist für die Frage, ob eine Nachversicherung durchzuführen ist, grundsätzlich das vor März 1957 geltende Recht maßgebend (vgl BSGE 1, 219, 222). Dieses aber sah eine Nachversicherung nur für den Fall eines Ausscheidens ohne Versorgung vor; ein späterer Verlust des Versorgungsanspruchs löste eine Nachversicherungspflicht nicht aus (RVA AN 1938, 53; BSGE 24, 106 f).
Eine Nachversicherung für den Fall des nachträglichen Verlustes eines Anspruchs auf Versorgung wird erst durch den jetzt geltenden § 9 Abs 4 AVG vorgeschrieben. Diese Vorschrift wurde durch Art 1 § 2 Nr 8 Buchst b RVÄndG eingefügt und zwar nach dem Wortlaut von Art 5 § 10 Buchst e RVÄndG mit Wirkung vom 1. Juli 1965. Auch die Entstehungsgeschichte des RVÄndG weist darauf hin, daß der Gesetzgeber den zeitlichen Geltungsbereich der Neuerung auf die Zukunft beschränken wollte (vor allem BT-Drucks IV/3233, Begr S 11 zu Art 4 § 3). Der erkennende Senat hat allerdings in seinem Urteil vom 24. November 1965 (BSGE 24, 206, 11) die Ansicht vertreten, daß die Einfügung nur klarstelle, was bereits seit dem Inkrafttreten der Neuregelung der Nachversicherungsvorschriften durch das AnVNG am 1. März 1957 (Art 3 § 7 Satz 2 AnVNG) rechtens gewesen sei. Folgt man dem weiterhin, so kann diese Überlegung jedenfalls nicht mehr zu dem Schluß fortgeführt werden, nach dem Willen des Gesetzgebers gelte die in § 9 Abs 4 AVG enthaltene Regelung auch für Fälle des Verlustes von Versorgungsansprüchen vor März 1957; denn wenn eine solche Regelung bereits unausgesprochen in § 9 AVG idF des AnVNG enthalten war, kann auch sie erst mit dem Inkrafttreten des AnVNG wirksam geworden sein.
Anhaltspunkte für eine auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhende Lücke des Gesetzes sind insoweit (für die vor März 1957 eingetretenen Fälle) nicht ersichtlich. Die Nachversicherung nach § 9 AVG ist, wie sich aus Art 2 § 4 AnVNG ergibt, nur durchzuführen, wenn der sog Nachversicherungsfall, als der hier nur der Verlust des Versorgungsanspruchs in Betracht kommt, nach dem 28. Februar 1957 eingetreten ist (BSGE 25, 24, 25). Art 2 § 4 AnVNG hat zwar die Geltung des § 9 AVG für gewisse Fälle auch auf die Zeit vor März 1957 ausgedehnt; Fälle der vorliegenden Art werden dadurch aber nicht erfaßt. Art 2 § 4 Abs 1 AnVNG greift ausschließlich beim Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung nach dem 28. Februar 1957 ein; ein solcher Fall liegt nicht vor. Art 2 § 4 Abs 2 AnVNG schreibt die Nachholung von Nachversicherungen vor, die nach früherem Recht wegen besonderer Hinderungsgründe ausgeschlossen waren, aber der gewandelten Auffassung des Gesetzgebers zufolge nachträglich noch ermöglicht werden sollten (BSGE 11, 278, 284; 17, 203 f). Hier jedoch war nicht eine an sich durchzuführende Nachversicherung unterblieben, weil ihr ein Hindernis entgegengestanden hatte, sondern es fehlte bereits an einem Tatbestand, der die Grundlage für eine Nachversicherung hätte bilden können; das vor März 1957 geltende Recht kannte, wie bereits hervorgehoben (vgl insbesondere RVA AN 1938, 53), einen Nachversicherungsfall iS des jetzigen § 9 Abs 4 AVG nicht. Das LSG verkennt darüber hinaus den Sinn von Art 2 § 4 Abs 2 AnVNG, wenn es meint, der Gesetzgeber habe durch diese Vorschrift die Geltung des neuen Nachversicherungsrechts allgemein für die aktiven Beamten auf die Zeit vor März 1957 ausgedehnt, und es könne nicht angenommen werden, daß für die Ruhestandsbeamten etwas anderes gewollt sei; es hat übersehen, daß es für die Frage, ob eine Nachversicherung durchzuführen ist, auch bei aktiven Beamten auf das zZt des Ausscheidens geltende Recht ankommt, und daß Art 2 § 4 Abs 2 AnVNG diesen Grundsatz nur für bestimmte Ausnahmefälle durchbricht (vgl BSGE 11, 278, 284 f).
Eine Auslegung im Sinne der Auffassung des LSG ist ferner nicht unter dem Gesichtspunkt von Art 3 Abs 1 GG geboten. Auch bei Änderungen des Nachversicherungsrechts muß dem Gesetzgeber im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes das Recht zustehen, zur Rechtssicherheit und Vermeidung übermäßiger Belastungen Stichtagsregelungen zu treffen (BSGE 11, 278, 287; 43, 200, 202). An einer unzulässigen Differenzierung zwischen aktiven Beamten und Ruhestandsbeamten, wie sie das LSG im Auge zu haben scheint, fehlt es aber schon deswegen, weil - wie bereits ausgeführt - auch bei aktiven Beamten für Fälle eines Ausscheidens vor dem 1. März 1957 grundsätzlich altes Recht gilt, und weil die in Art 2 § 4 Abs 2 AnVNG geregelten Tatbestände, die nur einen geringen Teil der "Altfälle" ausmachen, von dem hier gegebenen wesentlich verschieden sind. Zwar mag eine Aberkennung des Ruhegehalts (vgl §§ 5 Abs 1, 2, 12 Abs 2 der Bundesdisziplinarordnung -BDO-) in gewisser Hinsicht der Entfernung aus dem Dienst (vgl §§ 5 Abs 1, 11 Abs 1 BDO) vergleichbar sein. Es bleibt aber zu beachten, daß der Ruhestandsbeamte bereits während einer längeren oder kürzeren Zeit Versorgungsbezüge erhalten hat und daß das Disziplinargericht bei Anwendung von § 77 BDO in der Regel berücksichtigen kann, daß das Arbeitsleben abgeschlossen ist sowie vor dem Inkrafttreten von § 9 Abs 4 AVG davon ausgehen mußte, daß eine Nachversicherung nicht durchzuführen war.
Nach alledem war, wie geschehen, das angefochtene Urteil aufzuheben und in der Sache zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen