Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkurrenz zweier Rechtsbehelfe
Leitsatz (amtlich)
1. In den Fällen des § 78 Abs 2 SGG ist die Klage nicht deswegen unzulässig, weil vor der Klageerhebung bereits Widerspruch eingelegt worden ist.
2. Zur Frage, wie zu verfahren ist, wenn gegen einen Verwaltungsakt fristgemäß sowohl Widerspruch eingelegt als auch nach § 78 Abs 2 SGG unmittelbar Klage erhoben worden ist (Auseinandersetzung mit BSG 1977-08-02 9 RV 102/76 = SozR 1500 § 78 Nr 8).
3. Hat schon das SG die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen, so kann das Revisionsgericht nicht nur das dieses Urteil bestätigende Urteil des LSG, sondern in Wahrnehmung des dem LSG nach § 159 Abs 1 Nr 1 SGG zustehenden Ermessens zugleich das Urteil des SG aufheben und den Rechtsstreit an das SG zurückverweisen.
Orientierungssatz
1. Ist gegen einen Verwaltungsakt fristgemäß sowohl Widerspruch eingelegt als auch unmittelbar Klage erhoben worden, verdient die Klage den Vorrang, da beiden Rechtsbehelfen der Wille zur - sofortigen oder doch potentiellen - Klage gemeinsam ist.
2. Dem Vorrang der Klage muß nicht in der in § 161 Abs 5 SGG aufgezeigten Weise dadurch Geltung verschafft werden, daß die unmittelbare Klage als Verzicht auf den Widerspruch gilt, was den Wechsel von der Klage zum Widerspruch noch innerhalb der für beide geltenden Fristen ausschließen würde; dem Vorrang der Klage kann ebenso Rechnung getragen werden, wenn allein das Klageverfahren, nicht aber auch das Vorverfahren durchgeführt wird.
3. Die Rücknahme des Widerspruchs hat keine Erledigungswirkung auf die Klage; § 102 S 2 SGG gilt für die Rücknahme des Widerspruchs nicht.
Normenkette
SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 78 Abs 2 Fassung: 1974-07-30, §§ 170, 159 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1953-09-03, § 161 Abs 5 Fassung: 1974-07-30, § 102 S 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 06.12.1979; Aktenzeichen L 10 Lw 10/79) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 21.08.1979; Aktenzeichen S 15 Lw 27/78) |
Tatbestand
Der 1915 geborene Kläger bewirtschaftete bis Juni 1976 ein landwirtschaftliches Unternehmen von etwa 65 ha, das er seit Juli 1976 an seinen Sohn Wilfried H abgegeben hat. Seit Oktober 1957 hat er Beiträge an die Beklagte entrichtet.
Den im September 1978 gestellten Antrag des Klägers auf vorzeitiges Altersgeld wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. November 1978 ab, weil der Kläger nicht erwerbsunfähig sei. Dagegen legte der Kläger am 12. Dezember 1978 Widerspruch ein, am 29. Dezember 1978 erhob er Klage, am 10. Januar 1979 erklärte er sich damit einverstanden, daß der Widerspruch, wenn ihm die Widerspruchsstelle nicht stattgebe, dem Sozialgericht (SG) als Klage zugeleitet werde, am 15. Januar 1979 nahm er den Widerspruch (nach Rücksprache mit dem Sachbearbeiter der Beklagten) zurück.
Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb aus dem gleichen Grunde ohne Erfolg. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) hat der Kläger ein Wahlrecht zwischen Widerspruch und Klage gehabt. Er habe es mit der Einlegung des Widerspruchs verbraucht. Das habe die Unzulässigkeit der - noch in der Klagefrist erhobenen - späteren Klage bewirkt (vgl Zeihe, SGG, Anm 21 b) und d) zu § 78 SGG; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur SGb, Anm 5b zu § 78 SGG; Rohwer/Kahlmann, SGb, ROZ 4a zu § 78 SGG; Bay LSG, Breithaupt 1979, 759; aM Meyer-Ladewig, SGG, Anm 10 zu § 78). Unzulässig sei diese auch deshalb, weil der angefochtene Verwaltungsakt durch die Rücknahme des Widerspruchs bindend geworden sei. Mit dieser Rücknahme habe der Kläger auf die weitere Verfolgung seines Anspruchs verzichtet; damit sei die Klage als möglicher Rechtsbehelf (endgültig) ausgeschieden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 78 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Auffassung des LSG werde nicht durch den Wortlaut dieser Vorschrift gedeckt; sie widerspreche ferner ihrem Sinn und Zweck.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den angefochtenen
Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung
von vorzeitigem Altersruhegeld wegen EU zu
verurteilen,
hilfsweise (sinngemäß),
das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache
zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet; die Klage ist entgegen der Ansicht der Vorinstanzen zulässig.
Mit Recht rügt der Kläger, daß die Vorinstanzen § 78 SGG verletzt haben. Diese Vorschrift enthält in den beiden ersten Absätzen Bestimmungen über die Zulässigkeit der Anfechtungsklage, die auch für die mit einer Leistungsklage verbundene (§ 54 Abs 4 SGG) Anfechtungsklage gelten. Absatz 1 Satz 1 fordert allgemein, daß vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind. Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2 begründen Ausnahmen hiervon. In den in Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 3 genannten Fällen "bedarf es eines Vorverfahrens nicht". Nach Abs 2 (Satz 1, erster Halbsatz) ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung, der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten und der Kriegsopferversorgung die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Der Kläger begehrt die Aufhebung oder Änderung eines derartigen Verwaltungsaktes in einer Angelegenheit, die iS des § 78 Abs 2 SGG zwar nicht, wie das LSG gemeint hat, als Angelegenheit der Rentenversicherung der Arbeiter, jedoch als Angelegenheit der Unfallversicherung gilt (§ 30 Satz 2 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte -GAL-). Seine Klage war deshalb "auch ohne Vorverfahren zulässig". Das ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nur so zu verstehen, daß die Zulässigkeit der Klage durch Handlungen oder Unterlassungen, die das Vorverfahren betreffen, nicht berührt wird.
Die Auffassung, der zuerst ergriffene Rechtsbehelf mache wegen eines damit verbundenen Verbrauchs des Wahlrechts den später ergriffenen Rechtsbehelf von vornherein unzulässig, läßt sich auch nicht auf andere Auslegungskriterien als den Gesetzeswortlaut stützen. Der Gesetzgeber wollte für die in § 78 Abs 2 SGG genannten Fälle die Möglichkeiten der Anfechtung des Verwaltungsaktes durch eine "elastische Regelung" und "ökonomische Ausgestaltung" des Verfahrens erweitern; der durch den Verwaltungsakt Beschwerte solle allein entscheiden, ob er das einfachere und schnellere Vorverfahren mit der Abhilfemöglichkeit nach § 85 Abs 1 SGG oder unmittelbar das gerichtliche Verfahren (Klage) einleiten wolle (BT-Drucks 7/861, Begr S 9 zu Nr 5 - § 78 Abs 2). Hieraus ist zwar zu entnehmen, daß der Beschwerte in den Fällen des § 78 Abs 2 SGG Vorverfahren oder Klageverfahren, nicht aber beide Verfahren nebeneinander betreiben darf. Um letzteres zu verhindern, ist die vom LSG gewählte Lösung jedoch nicht der angemessene Weg. Sie schließt im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber gewollten Elastizität ohne zwingenden Grund einen Wechsel der Rechtsbehelfe innerhalb der für sie geltenden Fristen aus und führt bei einer - wie hier - späteren Rücknahme des zuerst ergriffenen Rechtsbehelfs zu einem besonders unbefriedigenden Ergebnis. Gegen die Lösung des LSG spricht ferner der Blick auf die Regelung des Gesetzes für den in gewisser Hinsicht vergleichbaren Fall, daß nach einer im Urteil des SG zugelassenen Revision dem beschwerten Beteiligten sowohl die Berufung als auch die Revision offenstehen. Auch für diesen Fall gilt nicht der Satz, daß das zuerst ergriffene Rechtsmittel das später ergriffene von vornherein unzulässig macht.
Ein Nebeneinander von Vorverfahren und Klageverfahren ist vielmehr dadurch zu verhindern, daß bei einer Aufrechterhaltung beider Rechtsbehelfe nur eines von beiden Verfahren durchgeführt wird. § 161 SGG gibt bei der Konkurrenz zwischen Berufung und Revision der letzteren dadurch den Vorrang, daß nach Abs 5 die Einlegung der Revision als Verzicht auf die Berufung gilt; damit wird eine vorher eingelegte Berufung mit diesem Zeitpunkt und eine später eingelegte mit der Einlegung unzulässig. Eine derartige Vorschrift enthält § 78 SGG nicht. Der Gedanke, bei einer Konkurrenz von Rechtsbehelfen einem den Vorrang zu geben, wenn beide Verfahren nicht nebeneinander ablaufen sollen, verdient jedoch im Rahmen des § 78 SGG ebenfalls Beachtung.
Demgemäß hat schon der 9. Senat des Bundessozialgerichts -BSG- (SozR 1500 § 78 Nr 8) eine nach Einlegung des Widerspruchs erhobene unmittelbare Klage iS des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG trotz des zuvor eingelegten Widerspruchs als zulässig angesehen. Um ein Nebeneinander von Vorverfahren und Rechtsstreit zu verhindern, hat er sich zwei Lösungen vorgestellt: Entweder das Vorverfahren als gescheitert anzusehen, wenn die Beklagte die Abweisung der Klage als unbegründet beantragt, oder die Beklagte unter Aussetzung des Rechtsstreits zur Durchführung des Vorverfahrens aufzufordern. Er geht dabei davon aus, daß das Gesetz die Priorität des Widerspruchs anordne.
Der Senat kann dieser Meinung nicht folgen. Das Gesetz sieht einen Vorrang des Widerspruchs zwar in § 78 Abs 2 Satz 1 zweiter Halbsatz SGG vor, wenn zweifelhaft ist, ob es sich bei einem Rechtsbehelf um einen Widerspruch oder eine Klage handelt, und ferner in § 78 Abs 2 Satz 2 SGG, wenn von mehreren Beteiligten einer Widerspruch einlegt, ein anderer unmittelbar Klage erhebt. Daraus ergibt sich jedoch kein genereller Vorrang des Widerspruchs, ein Vorrang also auch für den Fall, daß ein Beteiligter beide Rechtsbehelfe ergreift. In diesem Falle bekundet der Beteiligte mit der unmittelbar erhobenen Klage, daß er die Klage und kein Vorverfahren will, und mit dem Widerspruch, daß er ein Vorverfahren mit einer anschließend noch möglichen Klage will. Gemeinsam ist beiden Rechtsbehelfen somit der Wille zur - sofortigen oder doch potentiellen - Klage; die Willensrichtungen zum Vorverfahren heben sich auf. Angesichts dessen verdient die Klage den Vorrang. Diesem Vorrang muß nicht in der in § 161 Abs 5 SGG aufgezeigten Weise dadurch Geltung verschafft werden, daß die unmittelbare Klage als Verzicht auf den Widerspruch gilt, was den Wechsel von der Klage zum Widerspruch noch innerhalb der für beide geltenden Fristen ausschließen würde; dem Vorrang der Klage kann ebenso Rechnung getragen werden, wenn dann allein das Klageverfahren, nicht aber auch das Vorverfahren durchgeführt wird.
Mit diesen Ausführungen weicht der 11. Senat nicht von der Entscheidung des 9. Senats in SozR 1500 § 78 Nr 8 iS von § 41 SGG ab. Die vorstehenden Darlegungen sollen allein aufzeigen, daß es nicht der Annahme eines mit dem zuerst ergriffenen Rechtsbehelf verbrauchten Wahlrechts bedarf, um ein Nebeneinander von Vorverfahren und unmittelbarem Klageverfahren zu verhindern. In dem Ergebnis, daß der später ergriffene Rechtsbehelf nicht wegen der zuvorigen Wahl des anderen Rechtsbehelfs von vornherein unzulässig ist, besteht mit dem 9. Senat Einigkeit.
In dem vorliegenden Fall hat der Kläger - anders als in dem vom 9. Senat entschiedenen Fall, die Konkurrenz von Widerspruch und unmittelbarer Klage selbst dadurch beseitigt, daß er den Widerspruch alsbald zurückgenommen hat. Diese Rücknahme hat - wiederum entgegen der Meinung des LSG - keinen Einfluß auf die Zulässigkeit der Klage gehabt. Dabei kann dahinstehen, ob die nach § 77 SGG eingetretene Bindungswirkung die Klage schon unzulässig und nicht lediglich unbegründet macht (vgl dazu SozR 1500 § 87 Nr 5). Da der Verwaltungsakt der Beklagten nicht nur mit dem Widerspruch, sondern auch mit der Klage fristgemäß angefochten war, ist er durch die Rücknahme des Widerspruchs nicht bindend geworden. Bei einer umgekehrten Verfahrensgestaltung: zuerst Klage, dann Widerspruch, dann Rücknahme der Klage ließe sich zwar fragen, ob die im sozialgerichtlichen Verfahren für die Klagerücknahme geltende Sondervorschrift des § 102 Satz 2 SGG (Erledigung des Rechtsstreits) eine nach durchgeführtem Vorverfahren erneut gegen denselben Verwaltungsakt, nun allerdings in der Gestalt des Widerspruchsbescheids, erhobene Klage ausschließt. Die Rücknahme des Widerspruchs hat jedoch in keinem Falle eine Erledigungswirkung für die Klage gehabt; § 102 Satz 2 SGG gilt für die Rücknahme des Widerspruchs nicht.
Über die nach alledem zulässig gewesene und zulässig gebliebene Klage kann der Senat in der Sache, da das LSG dazu keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, nicht abschließend entscheiden. Er muß daher den Rechtsstreit zurückverweisen. Da schon das SG die Klage als unzulässig abgewiesen hat, erschien es angemessen, nicht nur das Urteil des LSG, sondern in Wahrnehmung der dem LSG in einem solchen Falle nach § 159 Abs 1 Nr 1 SGG zustehenden Befugnis zugleich das Urteil des SG aufzuheben und den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen (nur Zurückverweisung im Zivilprozeß vom Bundesgerichtshof an das Landgericht vgl BGHZ 16, 71, 82). Die Zurückverweisung nach § 159 SGG steht im Ermessen des Berufungsgerichts; dabei verdient die sachliche Entscheidung durch das LSG regelmäßig den Vorrang vor einer Zurückverweisung, wenn die Sache spruchreif ist (SozR 1500 § 102 Nr 7). Dies trifft jedoch hier nicht zu; es können weitere Ermittlungen erforderlich sein, die zweckmäßigerweise von dem SG vorzunehmen sind.
Bei seiner neuen Entscheidung wird das SG auch über die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens mitzubefinden haben.
Fundstellen
BSGE, 223 |
Breith. 1981, 1021 |