Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines Kraftfahrers. rechtliches Gehör

 

Orientierungssatz

1. Erfolgte die Qualifizierung des Kraftfahrerberufs zum Lehrberuf (1.1.1974) erst während des Hauptzeitraums der Berufsausübung kommt es auf die für den Ausbildungsberuf des Kraftfahrers vorgeschriebene Abschlußprüfung nicht an (vgl BSG vom 12.9.1980 - 5 RJ 106/79 = SozR 2200 § 1246 RVO Nr 67). In der Rechtsprechung des BSG, insbesondere des erkennenden Senats, ist seit langem anerkannt, daß eine organisierte Ausbildung nur einer der Wege ist, auf denen die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharbeiters erworben werden können.

2. Zum rechtlichen Gehör bei Feststellung von Verweisungstätigkeiten.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23; SGG §§ 62, 128 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 17.07.1984; Aktenzeichen L 2 Kn 5b/82)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 19.10.1982; Aktenzeichen S 8 Kn 2/82)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesknappschaft Knappschaftsrente wegen Erwerbs- hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.

Der 1925 geborene Kläger war von 1940 bis 1942 im Bergbau tätig, zunächst als Lehrknappe, danach als Schlepper. Von 1942 bis 1946 war er Soldat und in Kriegsgefangenschaft. Von 1949 bis 1952 arbeitete er als Holzarbeiter außerhalb des Bergbaus, danach war er bis 1959 als Holzplatzarbeiter, Vorarbeiter, Rangierer und Verladearbeiter knappschaftlich versichert. Von 1959 bis 1965 war er selbständiger Gastwirt und von März 1965 bis September 1975 Kraftfahrer. Von 1975 bis 1977 führte er zwei Kantinen eines Kraftwerkes. Ab März 1977 war er wieder als Kraftfahrer beschäftigt. Seit 1980 hat er nicht mehr versicherungspflichtig gearbeitet.

Den Antrag des Klägers vom April 1981 auf Gewährung von Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 23. September 1981, Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 1981). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Oktober 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 17. Juli 1984) und im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne noch leichte Arbeiten ohne schweres Heben und unter Vermeidung von Zwangshaltungen verrichten. Er sei nie Facharbeiter gewesen. Denn da er keine Abschlußprüfung abgelegt habe, könne er bestenfalls als angelernter Arbeiter angesehen werden. Als solcher könne er zB auf die Arbeiten eines Parkplatzwächters verwiesen werden. Aber auch wenn man unterstelle, daß der Kläger Facharbeiter gewesen sei, sei er nicht berufsunfähig. Er könnte dann auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die aus dem Kreis der sonstigen einfachen Arbeiten dadurch hervorträten, daß an den Versicherten besondere Anforderungen an Genauigkeit und Zuverlässigkeit gestellt würden. Eine solche Arbeit sei zB die des Maschinenwärters, der mit dem Bedienen von Teilanlagen in Kraftwerken beschäftigt sei. Als bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit komme die eines Kantinenwirts in Betracht. Diese Tätigkeit sei er noch imstande auszuüben.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 45 bis 47 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) sowie der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Außerdem beruhe das angefochtene Urteil auf wesentlichen Mängeln des Verfahrens (Verstöße gegen §§ 62, 103, 128 und 136 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), und es weiche vom Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. September 1980 - 5 RJ 106/79 - ab.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 19. Oktober 1982 sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1981 bis 28. Februar 1985 Gesamtleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Beurteilung nicht aus. Das LSG hat den Kläger bereits nicht als berufsunfähig angesehen, daher erst recht nicht als erwerbsunfähig und es hat auch die Voraussetzungen der Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit verneint. Die hierzu vom LSG festgestellten Tatsachen beruhen indes zum Teil auf Verfahrensfehler, so daß deshalb erneute Feststellungen notwendig sind, zum anderen Teil sind weitere Feststellungen erforderlich, weil es auf tatsächliche Umstände ankommt, die das LSG zu Unrecht nicht für erheblich erachtet und deshalb nicht aufgeklärt hat.

Berufsunfähig ist (§ 46 Abs 2 RKG) ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und den besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Das LSG hat hierzu festgestellt, daß der Kläger noch vollschichtig leichte Arbeiten ohne schweres Heben und unter Vermeidung von Zwangshaltungen verrichten kann. Er sei auch als angelernter Arbeiter anzusehen und als solcher auf die Tätigkeit eines Parkplatzwächters zu verweisen. Selbst wenn er Facharbeiter wäre, so wäre er als Maschinenwärter einsetzbar. Es kann unerörtert bleiben, ob - wie die Revision meint - die Feststellung, der Kläger könne noch vollschichtig leichte Arbeiten verrichten, ua deshalb verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist, weil das LSG unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht davon abgesehen hat, über die geistige Leistungsfähigkeit des Klägers Beweis zu erheben.

Soweit nämlich das LSG davon ausgeht, der Kläger sei schon deshalb nicht Facharbeiter, weil er keine Abschlußprüfung als Berufsfahrer abgelegt habe, weicht es - wie mit der Revision zutreffend gerügt wird - von dem Urteil des erkennenden Senats vom 12. September 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 67) ab, wonach es für den Ausbildungsberuf des Kraftfahrers auf die vorgeschriebene Abschlußprüfung schon deswegen nicht ankommen kann, weil die Qualifizierung des Kraftfahrerberufs zum Lehrberuf (1.1.1974) erst - wie hier - während des Hauptzeitraums der Berufsausübung (hier von 1965 bis 1975) erfolgt ist. In der Rechtsprechung des BSG, insbesondere des erkennenden Senats, ist seit langem anerkannt, daß eine organisierte Ausbildung nur einer der Wege ist, auf denen die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharbeiters erworben werden können. Auch wer sich - zunächst über den Weg der praktischen Ausübung des Berufs und dann der zunehmenden Erfahrung und des zunehmenden Wissens - soweit entwickelt, daß er schließlich einen Facharbeiterberuf vollwertig ausüben kann und ausübt, ist Facharbeiter (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 11, 29, 67 mwN). Es spricht dafür, daß ein Arbeiter einen Facharbeiterberuf vollwertig ausgeübt hat, wenn er entsprechend entlohnt worden ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 99, 102). Das LSG hätte daher prüfen müssen, ob der Kläger den Beruf eines Kraftfahrers vollwertig ausgeübt hat. Hiervon hängt es ab, ob er Facharbeiter war.

Soweit das LSG davon ausgeht, der Kläger könne auch bei Zugrundelegung eines bisherigen Facharbeiterberufs noch den Beruf des Maschinenwärters ausüben, beruht seine Tatsachenfeststellung auf einem Verfahrensfehler. Wie der Kläger gerügt hat, hat ihn das LSG mit der Feststellung, er könne diese Arbeit verrichten, überrascht. Aus den Akten des LSG, insbesondere aus dem Protokoll der Verhandlung vor dem LSG vom 17. Juli 1984, ist nicht zu entnehmen, daß der Kläger auf die Möglichkeit einer Verweisung auf dem Beruf des Maschinenwärters hingewiesen wurde. Das wäre aber erforderlich gewesen. Dem Beteiligten ist rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 SGG). Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Wenn das LSG davon ausging, daß der Kläger den Beruf des Maschinenwärters ausüben konnte - ohne daß diese Annahme vorher im Prozeß erörtert worden war -, so mußte es dem Kläger Gelegenheit geben, die Meinung des Gerichts zu diesem Punkt durch Vorbringen oder Beweiserbieten zu beeinflussen. Der Kläger hat vorgetragen, daß er in diesem Fall ua unter Beweis gestellt hätte, daß er der Tätigkeit nicht gewachsen gewesen sei. Die Feststellung des LSG, der Kläger könne noch als Maschinenwärter arbeiten, beruht damit auf einem Verfahrensfehler. Für den Fall, daß das LSG den Kläger als Facharbeiter ansieht, wird es demnach auch Feststellungen dazu zu treffen haben, ob und gegebenenfalls auf welche Tätigkeit der Kläger aufgrund der ihm verbliebenen Fähigkeiten verweisbar ist.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663894

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