Leitsatz (amtlich)
Die schriftliche Erklärung des Rechtsmittelgegners, er willige in die Sprungrevision ein, wird nicht durch eine Erklärung zur Niederschrift des Sozialgerichts ersetzt.
Leitsatz (redaktionell)
SGG § 161 Abs 1 S 2 enthält eine Zulässigkeitsvoraussetzung. Ein Verstoß dagegen kann nicht durch BGB § 126 Abs 3 geheilt werden.
Normenkette
SGG § 161 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03; BGB § 126 Abs. 3
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15. November 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger erhält Versorgung wegen der gesundheitlichen Schädigungen, die er durch den militärischen Dienst während des letzten Krieges erlitten hat. Mit Umanerkennungsbescheid vom 29. November 1951 gewährte das Versorgungsamt Hamburg (nicht Augsburg, wie im Urteil des Landessozialgerichts ausgeführt ist) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 v.H.. Hiergegen erhob der Kläger Berufung und beantragte eine Entschädigung gemäß einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v.H.. Während dieses Verfahren lief, veranlaßte das inzwischen zuständig gewordene Versorgungsamt Augsburg eine neue ärztliche Untersuchung und setzte die Rente durch Bescheid vom 17. Dezember 1953 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. fest. Auch hiergegen legte der Kläger Berufung ein. Diese gemäß § 215 Abs. 2 u. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Klage anzusehenden Berufungen wies das Sozialgericht Augsburg durch Urteil vom 15. November 1954 ab und ließ die Berufung zu.
In die Sitzungsniederschrift des Sozialgerichts vom 15. November 1954 ist hinter der Urteilsformel unmittelbar vor den Unterschriften aufgenommen: "Der Vertreter des Beklagten erklärte sich unter Übergehung des Rechtsmittels der Berufung mit der Einlegung der Revision beim Bundessozialgericht einverstanden." Diese Erklärung hat das Sozialgericht in der Rechtsmittelbelehrung seines Urteils wiedergegeben, wegen des Wortlauts des § 161 SGG dem Kläger aber anheimgestellt, noch eine schriftliche Erklärung des Beklagten beizuziehen.
Gegen das am 18. Dezember 1954 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17. Januar 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 18. Januar 1955 - Sprungrevision eingelegt, eine Ausfertigung des angefochtenen Urteils beigefügt und beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15. November 1954 und den diesem zugrunde liegenden Bescheid des Versorgungsamts Augsburg vom 17. Dezember 1953 aufzuheben.
Er glaubt, den Nachweis der Einwilligung zur Sprungrevision durch Vorlage des Urteils geführt zu haben, und rügt unrichtige Anwendung des Gesetzes, weil er im Hinblick auf den Vermerk im Bescheid vom 29. November 1951 "eine ärztliche Nachuntersuchung ist von Amts wegen nicht mehr beabsichtigt" nicht mehr hätte ärztlich untersucht werden dürfen, so daß ihm die einmal bewilligte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 v.H. hätte verbleiben müssen. Mit Schreiben vom 21. Januar 1955 - eingegangen am 22. Januar 1955 - hat der Kläger eine beglaubigte Abschrift der Sitzungsniederschrift vorgelegt.
Der Beklagte hat beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er führt aus, die zur Niederschrift beim Sozialgericht Augsburg abgegebene Erklärung des Vertreters des Beklagten könne die vom Gesetz geforderte schriftliche Einwilligungserklärung zur Sprungrevision nicht ersetzen.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist aber nicht zulässig; denn es fehlt die durch § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgeschriebene schriftliche Erklärung des Rechtsmittelgegners, er willige in die Einlegung der Sprungrevision ein.
Zu Unrecht nimmt der Kläger an, daß die schriftliche Einwilligungserklärung nur beweisen solle, der Rechtsmittelgegner habe der Einlegung der Sprungrevision zugestimmt, und daß dieser Nachweis auf jede Art geführt werden könne, also auch durch die Verweisung auf das Urteil, in dessen Rechtsmittelbelehrung auf die Erklärung eingegangen ist. Zwar schreibt § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG als Voraussetzung für die Sprungrevision allgemein vor, daß der Rechtsmittelgegner eingewilligt haben muß - ein Vorgang, der sich regelmäßig außerhalb des Verfahrens abspielt. Darüber hinaus fordert § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG jedoch, daß der Rechtsmittelgegner schriftlich bestätigt, er sei mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden und daß diese schriftliche Erklärung der Revisionsschrift beigefügt ist. Nach der Zustellung des Urteils in vollständiger Form läßt das Gesetz mithin bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist dem Rechtsmittelgegner Zeit zur Überlegung, ob er mit der Einwilligung zur Sprungrevision auf die zweite Tatsacheninstanz verzichten (§ 161 Abs. 2 SGG) und damit ein wesentliches prozessuales Recht aufgeben will. Gleichzeitig ist durch § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht jede, sondern nur die schriftliche Einwilligungserklärung und ihre Vorlage beim Revisionsgericht zu einer dem Rechtsmittel der Sprungrevision eigentümlichen besonderen Zulässigkeitsvoraussetzung gemacht worden. Nicht die Einwilligung schlechthin genügt, sondern nur ihre schriftliche Erklärung und Vorlage beim Revisionsgericht innerhalb der Revisionsfrist. Die Abgabe der schriftlichen Einwilligungserklärung enthält nicht allein eine selbständige Prozeßhandlung, weil sie den Rechtsstreit vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit betrifft, das Verfahren gestaltet und durch das Verfahrensgesetz geregelt ist (Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO 18. Aufl. Vorbem. IV 1 a vor § 128). Sie ist außerdem eine besondere Prozeßvoraussetzung für die Sprungrevision. Wegen dieser Eigenschaft kann sie nicht lediglich ein Beweismittel für die Einwilligung sein.
Nach der in Rechtslehre und Rechtsprechung herrschenden Auffassung, der sich der Senat anschließt, sind Voraussetzungen, Gültigkeit und Formerfordernisse von Prozeßhandlungen ausschließlich nach den Verfahrensgesetzen zu beurteilen (vgl. insbesondere RGZ. Bd. 162 S. 65 ff. mit weiteren Nachweisungen). Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches können auf sie nicht angewandt werden, lediglich die in diesen Vorschriften niedergelegten bewährten Erfahrungen, z.B. bei Auslegung von Willenserklärungen, sind - soweit mit dem Prozeßrecht vereinbar - zu verwerten (vgl. Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO 18.Aufl. Vorbem. V 1 und 2 vor § 128 mit weiteren Nachweisungen).
Die in § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgeschriebene Schriftform für die Einwilligungserklärung ist nicht gewahrt. Im Gegensatz zu anderen Prozeßhandlungen, wie z.B. der Klageerhebung (s. § 90 SGG) oder der Einlegung der Berufung (s. § 151 Abs. 1 SGG) steht für die Einwilligungserklärung des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG eine andere Form als die Schriftform nicht zur Verfügung. Auch eine Ersetzung der Schriftform nach § 126 Abs. 3 BGB ist ausgeschlossen, weil diese Vorschrift keinen allgemein bewährten Erfahrungssatz enthält, sondern lediglich für Verhältnisse außerhalb des Verfahrensrechts eine vorwiegend auf Gedanken der Zweckmäßigkeit beruhende Lockerung der Formenstrenge anordnet. Die Bestimmung des § 126 Abs. 3 BGB ist deshalb nicht geeignet, einen Verstoß gegen Formen zu heilen, die für Prozeßhandlungen durch das Verfahrensgesetz zwingend vorgeschrieben sind. Da demnach die schriftliche Einwilligungserklärung durch die zur Niederschrift des Sozialgerichts genommenen Äußerungen des Vertreters der Beklagten nicht ersetzt werden konnte, sind diese Erklärungen für die Zulässigkeit der Sprungrevision bedeutungslos. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die beglaubigte Abschrift der Niederschrift mit der Revisionsschrift oder, wie hier, nach Ablauf der Revisionsfrist vorgelegt wurde. Denn in keinem Fall kann die zur Sitzungsniederschrift abgegebene Erklärung die schriftliche Einwilligungserklärung ersetzen.
Weil eine den Formvorschriften entsprechende Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners nicht beigebracht wurde, fehlt es an einer Voraussetzung für die Zulässigkeit der Sprungrevision. Diese war als unzulässig zu verwerfen, ohne daß über die vom Kläger gerügte Verletzung des materiellen Rechts entschieden werden konnte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen