Leitsatz (amtlich)
Die Zeit des Bezugs einer vor dem 1.1.1957 und vor Vollendung des 55. Lebensjahres weggefallenen Invalidenrente ist auch dann nicht Ersatzzeit iS von § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO, wenn die zugrunde liegende Invalidität durch den Kriegsdienst verursacht war.
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 6 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 19.07.1983; Aktenzeichen L 11 An 163/82) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 14.07.1982; Aktenzeichen S 6 An 162/80) |
Tatbestand
Streitig ist, ob Zeiten einer kriegsbedingten Invalidität des Klägers rentensteigernd zu berücksichtigen sind.
Der 1921 geborene Kläger, gelernter Fliesenleger, leistet ab Februar 1941 Kriegsdienst, wurde schwer verwundet - Oberarmschußbruch, Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 80 vH - und erhielt ab 1. Februar 1942 von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberfranken und Mittelfranken Invalidenrente. Ab 15. September 1944 nahm er eine Tätigkeit als Postfacharbeiter auf; am 13. Oktober 1944 wurde er aus dem Wehrdienst entlassen.
Mit Ablauf September 1947 entzog die LVA dem Kläger die Invalidenrente. Ab 1. Oktober 1947 entrichtete der Kläger deshalb aufgrund seiner Tätigkeit bei der Deutschen Bundespost wieder Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, und zwar nunmehr zur beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Am 1. Juli 1955 wurde er ins Beamtenverhältnis übernommen und mit Ablauf des Jahres 1979 als Fernmeldebetriebsinspektor in den Ruhestand versetzt.
Mit dem streitigen Bescheid vom 21. Februar 1980 bewilligte auch die Beklagte dem Kläger ab 1. Oktober 1979 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) von damals zuletzt 470,90 DM monatlich. Rentensteigernd rechnete die Beklagte dabei den Kriegsdienst bis 31. Januar 1942 an. Die Berücksichtigung von Ausfallzeiten nach § 36 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Monat vor dem Versicherungsfall nicht zur Hälfte mit Pflicht- und gleichstehenden Beiträgen belegt sei.
Während der Widerspruch gegen diesen Bescheid ohne Erfolg blieb (Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 1980), anerkannte die Beklagte nach Klage die weitere Zeit bis 15. September 1944 - Aufnahme der Tätigkeit des Klägers bei der Post - als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG.
Mit seinem Begehren auf noch weitere rentenerhöhende Anerkennung der Zeit des Bezugs von Invalidenrente bis einschließlich September 1947 hatte der Kläger keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Juli 1982), und das Landessozialgericht (LSG) hat in der angefochtenen Entscheidung vom 19. Juli 1983 auch die Berufung des Klägers zurückgewiesen und ausgeführt: Die Zeit des Bezugs von Invalidenrente vom 16. September 1944 bis 30. September 1947, in der der Kläger als Postfacharbeiter wieder entgeltlich beschäftigt gewesen sei, falle nicht unter § 28 Abs 1 Nr 1 AVG. Eine an den Kriegsdienst anschließende Arbeitsunfähigkeit habe ersichtlich nicht mehr vorgelegen; der Begriff der Invalidität decke sich nicht mit dem der Arbeitsunfähigkeit. Eine analoge Anwendung der genannten Vorschrift auf den Fall des Klägers sei nicht veranlaßt. Der Invalide sei aus dem Berufs- und Versicherungsleben ausgeschieden gewesen. Damit sei die Anrechnung der Zeit ab Eintritt der Invalidität als Ersatzzeit nicht möglich. Dauerschäden aus dem Kriegsdienst würden nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern durch das Bundesversorgungsgesetz (BVG) ausgeglichen. Tatsächlich erhalte der Kläger aus der Kriegsopferversorgung (KOV) neben der Versorgungsgrundrente einen Berufsschadensausgleich. In der streitigen Zeit sei die Unmöglichkeit, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten, nicht durch den Kriegsdienst verursacht worden. Ab 1. Juni 1945 habe für den Kläger die sog Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 gegolten, so daß er ungeachtet des Bezugs von Invalidenrente wegen seiner Tätigkeit als Postfacharbeiter ab 1. Juni 1945 versicherungspflichtig geworden sei und auch deshalb keine Ersatzzeiten hätten zustande kommen können.
Mit der zugelassenen Revision führt der Kläger gegen das Urteil an: Unbestritten sei er, Kläger, in der noch streitigen Zeit vom 16. September 1944 bis 30. September 1947 iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG weder arbeitsunfähig krank noch arbeitslos gewesen. Der gesetzliche Tatbestand müsse aber in seinem Fall analog angewendet werden, weil für ihn sonst eine unbillige Härte aufträte. Ausschließlich wegen der Invalidität als Folge des von hoher Hand angeordneten Wehrdienstes sei er in der streitigen Zeit daran gehindert gewesen, Pflicht- und freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten. Es liege also die gleiche Lage vor, als sei er im Anschluß an den Wehrdienst krank oder arbeitslos gewesen. Seine Invalidität habe nur vorübergehend angedauert, Arbeitsunfähigkeit brauche, wie das LSG zutreffend dargelegt habe, mit ihr nicht verbunden zu sein. In § 28 Abs 1 Nr 1 AVG bestehe in bezug auf den geschilderten Sachverhalt eine Regelungslücke, da der Gesetzgeber alle versicherungsrechtlichen Nachteile, die dem Versicherten durch Erfüllung staatlicher Zwangsmaßnahmen erwüchsen, durch Berücksichtigung als Ersatzzeit ausgleichen wolle. Ohne Zweifel habe der seinerzeit zuständige Versicherungsträger wegen seiner, des Klägers, Invalidität bis zur Entziehung der Rente keine Beiträge erhoben, folglich die sog erste Vereinfachungs-Verordnung (VO) vom 17. März 1945 nicht angewendet. Träfe aber die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts über eine Wirksamkeit der ersten Vereinfachungs-VO zu, dann wären die Versicherten unvertretbar ungleich behandelt, weil es auf die "Besetzungslage des ehemaligen deutschen Reichsgebiets durch die feindlichen Armeen" ankomme. Das könne nicht Rechtens sein.
Der Kläger beantragt, 1. das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1983 und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14. Juli 1982 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 19. (richtig: 21.) Februar 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Juni 1980 zu verurteilen, bei der Berechnung seiner Rente auch die Zeit vom 16. September 1944 bis 30. September 1947 als weitere Ersatzzeit zugrunde zu legen;
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus, im Falle des Klägers läge die Verhinderung der Beitragsleistung nicht auf einem vom Gesetz anerkannten Ersatzzeittatbestand. Abgesehen davon seien die Voraussetzungen einer Analogie nicht gegeben. Es fehle vor allem an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte, da die Verdrängung aus der Versicherungspflicht im Falle des Klägers nicht unmittelbar auf einem hoheitlichen Eingriff beruhe, sondern nur mittelbar auf der Versicherungsfreiheit des an und für sich versicherungspflichtigen Empfängers von Invalidenrente. Die Frage der sog März-VO dürfte nicht entscheidungserheblich sein; das LSG habe diese Erwägungen nur hilfsweise angestellt.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber sachlich nicht begründet.
Die vorliegend noch streitige Zeit einer durch Kriegsverwundung verursachten Invalidität des Klägers vom 16. September 1944 bis 30. September 1947 fällt mit dem Bezug einer ihm von der LVA Oberfranken und Mittelfranken bewilligten und erst ab 1. Oktober 1947 entzogenen Invalidenrente zusammen. Dem Begehren des Klägers, diese Zeit als Ersatzzeit in rechtsergänzender Anwendung von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen, steht deshalb schon § 36 Abs 1 Nr 6 AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 6 der Reichsversicherungsordnung -RVO) idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476) entgegen. Nach dieser Vorschrift sind rentenerhöhende Ausfallzeiten iS von § 35 AVG (= § 1258 RVO) Zeiten des Bezugs eines Ruhegeldes aus der Rentenversicherung der Angestellten bzw einer Invalidenrente aus der früheren Invalidenversicherung vor Vollendung des 55. Lebensjahres, die vor dem 1. Januar 1957 weggefallen ist, wenn - wie im vorliegenden Fall durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten - nach dem Wegfall der Rente erneut ua Rente wegen EU zu gewähren ist. Der Kläger erfüllt im streitigen Zeitraum diesen Tatbestand. Da Ausfallzeiten nicht anders wie Ersatzzeiten (§ 28 AVG = § 1251 RVO) einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür bezwecken, daß der Versicherte infolge bestimmter Umstände ohne Verschulden gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen und so Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zu leisten (so der erkennende Senat in SozR 2200 § 1259 Nr 23 S 70), besteht in einem Fall der vorliegenden Art ersichtlich kein Bedürfnis, den Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO) analog anzuwenden: Hat der Gesetzgeber einen Tatbestand unverschuldeten Beitragsausfalls bezüglich der Höhe einer dem betroffenen Versicherten zu gewährenden Rente dadurch ausgeglichen, daß er die rentensteigernde Anrechnung der unverschuldet beitragslosen Zeit als Ausfallzeit nach § 36 AVG/§ 1259 RVO vorgesehen hat, bedarf es zum gleichen Zweck nicht - auch noch - der Berücksichtigung dieser Zeit als Ersatzzeit iS von § 28 AVG/ § 1251 RVO. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, daß die Beklagte dem Kläger mangels der sog Halbbelegung mit Pflicht- und gleichgestellten Beiträgen (§ 36 Abs 3/§ 1259 Abs 3 aaO) die hier streitige Zeitspanne eines Bezugs von Invalidenrente nicht rentenerhöhend gutbringen konnte. Eine analoge Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG/§ 1251 Abs 1 Nr 1 RVO kann nicht dazu dienen, das Fehlen der versicherungstechnischen Voraussetzungen für die Anrechnungsfähigkeit eines Ausfalltatbestandes im Ergebnis für unschädlich zu erklären. Schließlich kommt noch hinzu, daß die Ersatzzeiten im Vergleich zu den Ausfallzeiten "umfassendere Rechtsqualität" haben (so der erkennende Senat aaO S 70); sie sind wie die Beitragszeiten Versicherungszeiten (§ 27 Abs 1 Buchst a AVG = § 1250 Abs 1 Buchst a RVO), beeinflussen also nicht nur wie die Ausfallzeiten die Rentenhöhe, sondern stützen auch den Rentenanspruch dem Grunde nach. Hat der Gesetzgeber aber dem Bezug von vor dem 1. Januar 1957 weggefallener Invalidenrente in § 36 Abs 1 Nr 6 AVG/§ 1259 Abs 1 Nr 6 RVO die Rechtsqualität - nur - eines Ausfalltatbestands zugemessen, kann er bei Fehlen der dort normierten Anrechnungsvoraussetzungen nicht im Wege einer analogen Rechtsanwendung unter § 28 Abs 1 Nr 1 AVG/§ 1251 Abs 1 Nr 1 RVO fallen und so mit "umfassenderer Rechtsqualität" Ersatzzeit sein.
Im übrigen trifft auch nicht zu, daß § 28 Abs 1 Nr 1 AVG in bezug auf eine durch Kriegsverwundung verursachte Invalidität planwidrig lückenhaft wäre:
Invalidität war in der deutschen gesetzlichen Invaliden- und in der Rentenversicherung der Arbeiter niemals ein Ersatzzeittatbestand. Die soeben erörterten § 1259 Abs 1 Nr 6 RVO/ § 36 Abs 1 Nr 6 AVG bilden hierfür Belegstellen: Für eine Anerkennung der Invalidität als Ausfallzeit-Tatbestand hätte sonst kein Bedürfnis bestanden. Da hiernach im deutschen Rentenrecht Invalidität ganz generell nicht Ersatzzeit-Tatbestand ist, ist irrelevant, auf welchen Gründen sie beruht: Auch die auf einen anerkannten Ersatzzeit-Tatbestand zurückgehende Invalidität ist keine Ersatzzeit. Nur die mit einem Kriegsdienst iS eines "Anschließens" eng verknüpfte, mit Arbeitsunfähigkeit verbundene "Krankheit" ist - neben einer Arbeitslosigkeit - Ersatzzeit. Da sich, wie der vorliegende Fall zeigt, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit und Invalidität nicht zu decken brauchen - auch im vorliegenden Fall arbeitete und verdiente der Kläger im gesamten streitumfaßten Zeitraum trotz Invalidität wieder voll -, mußte der Gesetzgeber eine kriegsbedingte Invalidität nicht wie eine an den Kriegsdienst anschließende Krankheit behandeln und beide gleichmäßig als Ersatzzeit anerkennen.
Die vom Kläger gewünschte Ausfüllung einer angeblich in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG vorliegenden Gesetzeslücke ist mithin nicht möglich.
Sollte der Kläger während der streitigen Zeit aufgrund einer Bestimmung der sog Ersten Vereinfachungs-VO vom 17. März 1945 (RGBl I 41) mit seiner Beschäftigung bei der Post wieder versicherungspflichtig geworden sein, läge ein Tatbestand unverschuldeter Verhinderung in der Leistung von Beiträgen zur gesetzlichen Invalidenversicherung noch weniger vor. Die Frage, ob ggf insoweit Pflichtbeiträge nachentrichtet werden können, ist, worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat, nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
Nach allem trifft das angefochtene Urteil zu. Die Revision des Klägers hiergegen war mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen