Entscheidungsstichwort (Thema)
Anschlußersatzzeit trotz Bezugs von Erwerbsunfähigkeitsrente. Anwendung neuen Rechts für Zugunstenbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Der Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrente schließt die Anrechnung der an die Aussiedlung anschließenden Krankheit als Anschlußersatzzeit nicht aus; die Anrechnung als Anschlußersatzzeit setzt nicht voraus, daß die Erwerbsunfähigkeit durch eine primäre Ersatzzeit verursacht ist (Fortführung von BSG vom 8.11.1995 – 13 RJ 33/94 = SozR 3-2200 § 1251 Nr 10).
2. Im Rahmen eines nach dem 31.3.1992 beantragten Zugunstenbescheids ist für den Anspruch auf höhere Rente wegen Berücksichtigung weiterer Ersatzzeiten neues Recht anzuwenden (Anschluß an BSG vom 8.11.1995 – 13 RJ 5/95 bzw vom 18.6.1997 – 5 RJ 36/96 = SozR 3-2600 § 300 Nrn 5, 11).
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6; SGB VI § 250 Abs. 1 Nr. 6, § 300 Abs. 1-2; SGB X § 44 Abs. 4, 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Februar 1995 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. März 1994 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger höheres Altersruhegeld zusteht.
Der am 4. April 1920 geborene Kläger ist am 14. Mai 1971 aus der vormaligen Sowjetunion in das Bundesgebiet übergesiedelt. Er ist Inhaber des Vertriebenenausweises „A” und einer Heimkehrerbescheinigung, wonach er im Juli 1941 zwangsweise umgesiedelt bzw interniert und im Februar 1956 aus der Internierung/Zwangsumsiedlung entlassen worden ist. Vor seiner Ausreise war er in der Sowjetunion vom 3. April 1956 bis 14. April 1970 als Schreiner beschäftigt und erhielt dort von April 1970 bis Mai 1971 wegen Vollendung des 50. Lebensjahres und auch aus gesundheitlichen Gründen eine Rente.
Der Kläger erhielt von der Beklagten ab 1. Juni 1971 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach einem Versicherungsfall vom 14. Februar 1971. In dem Rentenbewilligungsbescheid berücksichtigte die Beklagte Zeiten zwischen 1941 und dem 15. Februar 1971, in denen der Kläger in der Sowjetunion ohne Beschäftigung war, als Ersatzzeiten der Internierung.
Mit Bescheid vom 17. Mai 1985 nahm die Beklagte eine Neuberechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vor, bei der sie weitere Beschäftigungszeiten vom 3. März 1935 bis 3. April 1936 und vom 21. August 1953 bis 12. November 1958 berücksichtigte. Mit Bescheid vom 21. Oktober 1985 wandelte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Änderung des Rentenbetrags ab 1. Mai 1985 in ein Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres um. Die in dem Bescheid gleichzeitig angekündigte Neuberechnung nach Durchführung einer Vergleichsberechnung wegen Zusammentreffens von Beitragszeit mit einer Zurechnungszeit nahm die Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 1986 vor, ohne daß sich der Rentenzahlbetrag änderte. Die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1975 wurde als Zurechnungszeit berücksichtigt; der monatliche Durchschnittswert dafür wurde mit 8,98 gegenüber einem Durchschnittswert von 8,99 für die bis 28. Februar 1971 berücksichtigte Ersatzzeit ermittelt. Gleichzeitig wurde der Bescheid vom 21. Oktober 1985 zurückgenommen.
Am 28. April 1992 beantragte der Kläger, das Altersruhegeld unter Rücknahme des Bescheides vom 22. Januar 1986 neu zu berechnen und dabei die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1985, in der er erwerbsunfähig gewesen sei, als an die Aussiedlung anschließende Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO zu berücksichtigen. Mit Bescheid vom 19. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 1993 stellte die Beklagte die bis dahin gezahlte Rente unter Anrechnung der in den Leistungsgruppen berichtigten Zeiten neu fest, lehnte aber die Berücksichtigung der vom Kläger geltend gemachten Ersatzzeit ab. Zwar sei bei erwerbsunfähigen, iS der gesetzlichen Krankenversicherung arbeitsunfähigen Versicherten auch eine Arbeitsunfähigkeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO anzunehmen. Diese könne jedoch dann nicht angerechnet werden, wenn sie nach dem Zeitpunkt liege, zu welchem der Versicherte erkennbar aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sei. In diesen Fällen sei kein des rentenrechtlichen Ausgleichs bedürftiger Ausfall von Beitragszeiten mehr gegeben.
Im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren über die Ablehnung der Änderung des Rentenbescheids vom 22. Januar 1986 hat das SG durch Urteil vom 29. März 1994 den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 1993 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Abänderung ihres Bescheids vom 22. Januar 1986 Altersruhegeld ab 1. Januar 1988 unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1985 als Ersatzzeit (anstelle von Zurechnungszeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1975) zu gewähren.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Februar 1995). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte sei nicht verpflichtet, die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1985 als Anschlußersatzzeit zu berücksichtigen. Ersatzzeiten stellten einen Ausgleich dar für Zeiten, während derer einem Versicherten im Hinblick auf die in § 1251 Abs 1 RVO genannten Tatbestände eine Beitragsentrichtung regelmäßig nicht möglich und von ihm wegen außergewöhnlicher, durch hoheitlichen Eingriff bedingter und erzwungener Umstände auch nicht zu erwarten gewesen sei. Deshalb sei Voraussetzung für den Erwerb von Ersatzzeiten, daß in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem für die jeweilige Zeit geltenden Recht die Möglichkeit bestanden habe, für diese Zeit Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zu entrichten. Zeiten, in denen eine Beitragsleistung aus rechtlichen Gründen unmöglich gewesen sei, könnten daher grundsätzlich keine Ersatzzeiten sein. Nach Eintritt des die rechtliche Unmöglichkeit jeder Beitragszahlung auslösenden Versicherungsfalls könnten zwar nach der Rechtsprechung des BSG Ersatzzeiten ausnahmsweise dann noch erworben werden, wenn die rechtliche Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung gerade durch den Ersatzzeittatbestand verursacht gewesen sei, und könne dieser Ursachenzusammenhang immer dann bejaht werden, wenn dieser Versicherungsfall während der Ersatzzeit eingetreten sei. Denn die Anerkennung von Ersatzzeiten solle unter der Voraussetzung einer vorher begonnenen Versicherung ein vom Versicherten erbrachtes Sonderopfer auch und gerade dann ausgleichen, wenn dieses zur vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens geführt habe. Dieser Fall sei aber beim Kläger nicht gegeben, weil ein wahrscheinlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Verzögerung seiner Übersiedlung und der im April 1970 in der ehemaligen Sowjetunion bzw seit 15. Februar 1971 im Bundesgebiet festgestellten Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit nicht gegeben sei. Ein solcher Zusammenhang werde vom Kläger auch gar nicht geltend gemacht. Dadurch aber unterscheide sich dieser Sachverhalt von den vom BSG entschiedenen Fallgestaltungen, in denen der Eintritt von Invalidität und das vollständige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben Folge einer während des militärischen Dienstes oder der anschließenden Kriegsgefangenschaft erlittenen Gesundheitsstörung gewesen und damit der ursächliche Zusammenhang zwischen Ersatzzeittatbestand und endgültigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben offenkundig gewesen seien. Darüber hinaus sei der Kläger aber in der fraglichen Zeit auch nicht rechtlich gehindert gewesen, Beiträge an die Beklagte zu leisten. Der Eintritt von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit allein führe nicht zur Versicherungsfreistellung, wenn beispielsweise tatsächlich noch eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeführt werde. Andererseits könne der Betroffene für Zeiten nach dem Eintritt des Versicherungsfalls der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit noch freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf das spätere Altersruhegeld entrichten. Würde man § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO anders auslegen, würde dies zu einer Ungleichbehandlung von Übersiedlern gegenüber inländischen Versicherten führen, bei denen Zeiten nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bis zum Eintritt des Versicherungsfalls für den Bezug von Altersruhegeld nicht als Ersatzzeiten anerkannt werden könnten.
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1251 Abs 1 RVO. Unter Bezug auf die Rechtsprechung des BSG, insbesondere das Urteil vom 8. November 1995 (13 RJ 33/94) vertritt er die Auffassung, die Anerkennung der Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Anschlußersatzzeit setze nicht voraus, daß die Erwerbsunfähigkeit durch die Verhinderung seiner Ausreise aus der Sowjetunion verursacht worden sei. Auch verdränge die bis zum Versicherungsfall des Alters andauernde Erwerbsunfähigkeit nicht die Anschlußersatzzeit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Februar 1995 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend und den vom BSG mit Urteil vom 8. November 1995 (13 RJ 33/94) entschiedenen Fall nicht für vergleichbar, da im dortigen Verfahren die Klägerin erst kurz vor der Erwerbsunfähigkeit aus dem Gewahrsam in der UdSSR entlassen worden sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das LSG hat das Urteil des SG zu Unrecht aufgehoben. Das SG hat über den Anspruch des Klägers im Ergebnis zutreffend entschieden.
Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 1986, mit dem sie das Altersruhegeld des Klägers neu berechnet und dessen Änderung sie mit ihrem Bescheid vom 19. November 1992 abgelehnt hat, ist zwar bindend (§ 77 SGG). Gemäß § 44 Abs 1 SGB X ist ein Bescheid jedoch, auch nachdem er bindend geworden ist, für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt und deshalb eine Sozialleistung zu Unrecht nicht (in voller Höhe) erbracht worden ist. Für den Fall der Rücknahme bestimmt § 44 Abs 4 SGB X, daß die Sozialleistung nach den besonderen Teilen des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme, gerechnet vom Beginn des Jahres an, in dem die Rücknahme beantragt wurde, erbracht wird.
Die Beklagte hat bei der mit Bescheid vom 21. Oktober 1985 vorgenommenen Umwandlung der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Altersruhegeld entgegen § 1254 Abs 2 Satz 2 iVm § 1253 Abs 2 Satz 4 und § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 30. April 1985 nicht als Ersatzzeit berücksichtigt. Im Bescheid vom 22. Januar 1986, mit dem der Umwandlungsbescheid aufgehoben wurde, ist dieser Rechtsfehler beibehalten worden. Auf diese fehlerhafte Rechtsanwendung kommt es auch an. Denn bei Berücksichtigung der geltend gemachten Ersatzzeit ergibt sich wegen der Anrechnung weiterer Versicherungszeiten ab 1. Mai 1975 und eines in Anwendung des § 1254 Abs 2 Satz 2 iVm § 1253 Abs 2 Satz 4 Halbsatz 2 RVO höheren monatlichen Durchschnittswerts gegenüber der bis 30. April 1975 angerechneten Zurechnungszeit ein höherer Rentenbetrag. Diese höhere Rente steht dem Kläger aufgrund seines Aufhebungsantrags vom 28. April 1992 allerdings erst ab 1. Januar 1988 zu.
Die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. Januar 1986 beurteilt sich nach den zum Zeitpunkt seines Erlasses geltenden Vorschriften des Vierten Buchs der RVO, hier § 1258 Abs 1 und § 1251 RVO. Danach wurden für die Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre und damit auch der Rentenhöhe gemäß § 1254 RVO ua Ersatzzeiten angerechnet. Als Ersatzzeiten waren in § 1251 Abs 1 Nrn 1 bis 6 RVO verschiedene Tatbestände aufgeführt. § 1251 Abs 1 in der am 30. April 1985 geltenden, durch Art 1 § 1 Nr 15 Buchst a und Art 5 § 4 Abs 2 Buchst a RVÄndG vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476) eingefügten Fassung bestimmte in Nrn 2, 3 und 6 als Ersatzzeiten:
Zeiten der Internierung oder der Verschleppung sowie Zeiten einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit, wenn der Versicherte Heimkehrer iS des § 1 des Heimkehrergesetzes ist (Nr 2),
Zeiten, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist (Nr 3) und
die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 sowie außerhalb dieses Zeitraums liegende Zeiten der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit bei Personen iS der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (Nr 6).
Nach den mit der Revision nicht angefochtenen Feststellungen des LSG war der Kläger nicht nur Heimkehrer iS des HkG, sondern auch Vertriebener iS des BVFG. Mit der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland lagen bei ihm die Voraussetzungen für die Anerkennung als Vertriebener nach § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG idF des Gesetzes vom 12. Februar 1969 (BGBl I S 105) vor. Vertriebener war danach auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger „nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler)”. Verlassen der Sowjetunion und Wohnsitznahme in der Bundesrepublik Deutschland erfüllten gleichzeitig die Voraussetzungen einer Aussiedlung iS des Ersatzzeittatbestands des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO.
Daß die Zeit der Aussiedlung, deren Dauer nicht festgestellt ist, nicht als Ersatzzeit anerkannt wurde, die Beklagte für Zeiten bis 14. Februar 1971 vielmehr bereits vom Ersatzzeittatbestand der Internierung ausgegangen war, schloß die Berücksichtigung der Zeit der an die Aussiedlung anschließenden Krankheit als Ersatzzeit nicht aus. Denn die Aufzählung der Ersatzzeiten in § 1251 Abs 1 RVO war nicht alternativ; die Anwendungsbereiche der Nrn 2, 3 und 6 konnten sich überschneiden. Die Zeit einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit war als Ersatzzeit daher auch anzurechnen, wenn der Tatbestand der vorangegangenen primären Ersatzzeit wegen Vorliegens einer anderen Anrechnungszeit nicht zur Anrechnung kam (vgl BSG Urteil vom 26. Mai 1987 – 4a RJ 69/86 – SozR 2200 § 1251 Nr 127 sowie Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Stand: Juni 1991, § 1251 RVO, II.3.E).
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, daß der Kläger im Anschluß an die Aussiedlung krank iS des § 1251 Abs 1 RVO war. Nach der Rechtsprechung des BSG war „Krankheit” iS des § 1251 Abs 1 RVO nur relevant, wenn es dem Versicherten dadurch unmöglich gewesen war, versicherungspflichtig tätig zu sein; sie mußte daher Arbeitsunfähigkeit bedingt haben (BSG Urteil vom 26. Oktober 1965 – 11 RA 70/64 – SozR Nr 16 zu § 1251 RVO). Unstreitig war der Kläger zum Zeitpunkt der Aussiedlung schon erwerbsunfähig und blieb es auch in den Jahren 1971 bis 1985. Eine Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO aber schloß nach der ständigen Rechtsprechung des BSG als der umfassendere Begriff regelmäßig eine durch Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1, § 1251 Abs 1 RVO ein (vgl BSG Urteile vom 15. Oktober 1981 – 5b/5 RJ 24/77 – BSGE 52, 234, 236 = SozR 2200 § 1259 Nr 57 und vom 25. Juni 1987 – 5b RJ 62/86 – BSGE 62, 64 = SozR 2200 § 1251 Nr 128, jeweils mwN).
Entgegen der Auffassung des LSG ist aus der Rechtsprechung des BSG zu § 1251 RVO nicht der Schluß zu ziehen, der Annahme der Ersatzzeit der anschließenden Krankheit stehe entgegen, daß der Kläger aufgrund seiner Krankheit endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war und seine Krankheit nicht nachweislich auf den Umständen beruhte, die seine Ausreise aus der Sowjetunion verzögerten.
Die Rechtsprechung des BSG, wonach bei Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit ein Ausfalltatbestand iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO ausgeschlossen war (vgl BSG Urteil vom 26. Mai 1976 – 4 RJ 227/74 – SozR 2200 § 1259 Nr 16), kann im Rahmen des § 1251 RVO für die Auslegung der Ersatzzeittatbestände nicht entsprechend herangezogen werden. Anders als § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO für die Berücksichtigung einer Ausfallzeit verlangte § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO in der hier maßgeblichen Fassung für die Berücksichtigung einer Ersatzzeit nicht, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch die Ersatzzeit unterbrochen wurde, sondern setzte lediglich eine vorhergehende Versicherung voraus (vgl BSG Urteile vom 25. Juni 1987 – 5b RJ 62/86 – BSGE 62, 64, 66 = SozR 2200 § 1251 Nr 128 und vom 8. November 1995 – 13 RJ 33/94 – SozR 3-2200 § 1251 Nr 10).
Das BSG ist ferner davon ausgegangen, daß Ersatzzeiten zwar Beitragslücken ausgleichen sollen, die durch besondere Aufopferungstatbestände entstanden sind, daß aber der ursächliche Zusammenhang zwischen Beitragsausfall und Ersatzzeit fingiert und dabei vom Gesetzgeber in Kauf genommen wurde, daß im Einzelfall auch Ersatzzeiten mit wenig wahrscheinlicher Kausalität zur unterbliebenen Beitragsentrichtung anzurechnen waren. Die Fiktion des ursächlichen Zusammenhangs hat das BSG nur dann als widerlegt angesehen, wenn dem Versicherten in der Zeit des Beitragsausfalls auch ohne Aufopferungstatbestand jede rechtliche Möglichkeit fehlte, Beitragszeiten zurückzulegen, sofern nicht die rechtliche Unmöglichkeit gerade Folge der im Gesetz für die Ersatzzeiten aufgeführten Umstände war (BSG Urteile vom 1. Juli 1964 – 11 RA 314/63 – SozR Nr 8 zu § 1251 RVO, vom 13. Mai 1970 – 4 RJ 301/68 – SozR Nr 44 zu § 1251 RVO und vom 16. Dezember 1981 – 11 RA 84/80 – BSGE 53, 40 = SozR 2200 § 1251 Nr 92).
Das BSG hat aber weder den Bezug einer Rente im Verschleppungsland oder während der Zeit der Rückkehrhinderung noch die Möglichkeit, Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz zurücklegen zu können, als Hindernis für die Anrechnung von Ersatzzeiten angesehen (BSG Urteile vom 28. Juni 1979 – 4 RJ 61/78 – SozR 2200 § 1251 Nr 65, vom 20. April 1983 – 5a RKn 26/81 – SozR 2200 § 1251 Nr 101 mwN, vom 7. September 1989 – 5 RJ 28/89 – SozR 2200 § 1251 Nr 133 und vom 19. März 1997 – 5/4 RA 113/94 – SozR 3-2200 § 1251 Nr 11), obwohl man auch in diesen Fällen hätte argumentieren können, daß die Versicherten bereits endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren bzw ausgleichsbedürftige Beitragslücken nicht infolge der Ersatzzeitumstände entstanden waren. In seinem Urteil vom 8. November 1995 – 13 RJ 33/94 – SozR 3-2200 § 1251 Nr 10 hat der 13. Senat des BSG dargelegt, daß die Überlegungen zur Wirkung der generalisierenden Regelung auch für die Anrechnung einer im Inland zurückgelegten Anschlußersatzzeit der Arbeitsunfähigkeit bedingenden Krankheit im Anschluß an eine Verschleppungszeit nach § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO zutrafen, wenn der Versicherte von Beginn seines Aufenthalts in der Bundesrepublik an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhielt. Nach Auffassung des Senats kann für die Anrechnung einer Zeit der Arbeitsunfähigkeit bedingenden Krankheit im Anschluß an Vertreibung, Flucht oder Aussiedlung als Anschlußersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO nichts anderes gelten.
§ 1251 Abs 1 Nr 6 RVO stellte wie § 1251 Abs 1 Nr 2 lediglich auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen primärer Ersatzzeit und Anschlußersatzzeit ab. Soweit dabei für den Beitragsausfall in der Anschlußersatzzeit auch ein ursächlicher Zusammenhang mit den für die primären Ersatzzeiten maßgeblichen Umständen unterstellt wurde, war er nur fingiert. Bei Vorliegen des zeitlichen Zusammenhangs wurde also nicht verlangt, daß im Einzelfall Flucht, Vertreibung oder Aussiedlung ursächlich für die anschließend bestehende Krankheit waren (so auch VerbandsKomm, Stand: 1. Januar 1989, § 1251 RVO Anm 10). Erst recht nicht wurde verlangt, daß die Krankheit im Einzelfall Folge der einer Flucht, Aussiedlung oder Vertreibung vorangegangenen – andere Ersatzzeittatbestände ausfüllenden – Umstände war. Abgesehen davon, daß § 1251 Abs 1 RVO eine Verknüpfung der Anschlußersatzzeiten in Nummer 6 mit in anderen Nummern aufgeführten Ersatzzeittatbeständen nicht vornimmt, muß auch bei dem in Nummer 6 unterstellten Kausalzusammenhang davon ausgegangen werden, daß als Folge der Typisierung ebenfalls Sachverhalte unter die Regelung fallen, die von dem „Idealtyp”, bei dem die Voraussetzungen offensichtlich vorliegen, erheblich abweichen. Dagegen läßt sich auch nicht argumentieren, durch die Anrechnung der Zeit einer Arbeitsunfähigkeit bedingenden Krankheit während des Bezugs von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit als Anschlußersatzzeit werde der Personenkreis der Aussiedler gegenüber dem der inländischen Versicherten unangemessen bevorzugt. Diese Argumentation verkennt, worauf der 13. Senat im Urteil vom 8. November 1995 schon hingewiesen hat, den der Ersatzzeitenregelung zugrundeliegenden Entschädigungsgedanken. Inländische Versicherte, die vor ihrer Arbeitsunfähigkeit keinen primären Ersatzzeittatbestand erfüllt haben und nunmehr keinen Anschlußersatzzeittatbestand erfüllen, sind nicht zu entschädigen; eine Gleichstellung mit dem Personenkreis der Aussiedler, die diese Voraussetzungen erfüllt haben, wäre daher nicht sachgerecht.
Dem 13. Senat ist auch darin zuzustimmen, daß weder § 1253 Abs 2 Satz 4 RVO noch § 1254 Abs 2 Satz 2 RVO Regelungen enthielten, nach denen der Bezug von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Anrechnung einer gleichzeitig zurückgelegten Ersatzzeit entgegengestanden hätte. § 1253 Abs 2 Satz 4 RVO regelte die Anrechnung von während des Bezugs einer Rente wegen Berufsunfänigkeit zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten bei deren Umwandlung in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und traf eine Regelung für den Zeitpunkt des zeitlichen Zusammentreffens solcher Zeiten mit einer angerechneten Zurechnungszeit. § 1254 Abs 2 Satz 2 RVO verwies hinsichtlich der Anrechnung solcher Zeiten bei Umwandlung einer Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit in Altersruhegeld auf diese Regelung. Diesen Vorschriften war nicht zu entnehmen, daß nur in diesen Fällen Zeiten der genannten Art, die während des Bezugs einer Rente zurückgelegt waren, bei einem späteren neuen Versicherungsfall angerechnet werden sollten. Eine Rechtsnorm, die generell den Erwerb von Ersatzzeiten während des Bezugs einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ausgeschlossen hätte, bestand nicht.
Weil er dem seinerzeit geltenden Recht nicht entsprach, war der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 1986 rechtswidrig. Gründe, die seiner Rücknahme nach § 44 Abs 1 SGB X entgegenstünden, sind nicht ersichtlich. Der Bescheid war daher aufzuheben.
Der vom Kläger mit seinem Antrag vom 28. April 1992 geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer höheren Rente unter Anrechnung der im Bescheid vom 22. Januar 1986 nicht berücksichtigten Ersatzzeit richtet sich allerdings nicht nach den bei Erlaß dieses Bescheids geltenden Vorschriften der RVO, wovon das SG ausgegangen ist, sondern nach den Vorschriften des SGB VI. Denn § 300 Abs 1 SGB VI bestimmt, daß die Vorschriften des SGB VI vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden sind, wenn der Sachverhalt oder der Anspruch bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden haben. Die aufgehobenen und durch das SGB VI ersetzten Vorschriften sind nach § 300 Abs 2 SGB VI auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung auf einen bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wurde. Die Absätze 1 und 2 des § 300 SGB VI gelten auch, wenn nach dem maßgebenden Zeitpunkt eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind (§ 300 Abs 3 SGB VI). Wie der Senat bereits im Urteil vom 8. Juni 1997 (5 RJ 36/96 – SozR 3-2600 § 300 Nr 11) in Übereinstimmung mit dem 13. Senat (Urteil vom 8. November 1995 – 13 RJ 5/95 – SozR 3-2600 § 300 Nr 5) entschieden hat, ist § 300 Abs 3 SGB VI auch im Fall einer Leistungsbewilligung nach § 44 Abs 4 SGB X anzuwenden. Denn bei einer Zugunstenentscheidung nach dieser Vorschrift handelt es sich um eine Neufeststellung iS von § 300 Abs 3 SGB VI. Die Entscheidung betrifft im Fall des Klägers auch die Ermittlung von Entgeltpunkten, da gegenüber dem Bescheid vom 22. Januar 1986 weitere Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind. Da der Kläger den Neufeststellungsanspruch nicht innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des SGB VI am 1. Januar 1992 geltend gemacht hat, ist sein Anspruch nach § 250 SGB VI idF des RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261), geändert durch Gesetz vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606), zu beurteilen. Auch nach dieser Vorschrift ist der Anspruch des Klägers gegeben.
Nach § 250 Abs 1 Nr 6 SGB VI ist Ersatzzeit die Zeit vor dem 1. Januar 1992, in der Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach Vollendung des 14. Lebensjahres vertrieben, umgesiedelt oder ausgesiedelt wurden oder auf der Flucht oder im Anschluß an solche Zeiten wegen Krankheit arbeitsunfähig oder unverschuldet arbeitslos gewesen sind, mindestens aber die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946, wenn sie zum Personenkreis der §§ 1 bis 4 BVFG gehören. Hier ist ebenfalls lediglich auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Aussiedlung und Arbeitsunfähigkeit bedingender Krankheit abgestellt. Der Bezug von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit steht auch nach anderen Vorschriften des SGB VI der Anrechnung als Ersatzzeit nicht entgegen. Für das Zusammentreffen eines Ersatzzeittatbestandes mit Zeiten eines Rentenbezugs hat der Gesetzgeber des SGB VI in § 250 Abs 2 SGB VI vielmehr jetzt ausdrücklich bestimmt, daß Zeiten, in denen von der Vollendung des 65. Lebensjahres an außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet eine Rente wegen Alters oder anstelle einer solchen eine andere Leistung bezogen worden ist, keine Ersatzzeiten sind. Diese Regelung trifft auf den Kläger, der das 65. Lebensjahr erst nach der Aussiedlung erreicht hat, nicht zu.
Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
NZS 1999, 194 |
SozR 3-2200 § 1251, Nr. 12 |