Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung der Übergangsvorschriften des SGB 10. Gesetzgeberischer Wille. Korrektur des Gesetzgebers
Leitsatz (amtlich)
Maßgebend für die Bestimmung der leistungspflichtigen Krankenkasse nach § 205 Abs 4 S 2 RVO ist nicht der jeweils letzte Monat vor dem Eintritt des Leistungsfalls während eines abgerechneten Lohnabrechnungszeitraums.
Leitsatz (redaktionell)
Aufgrund Art 2 § 21 SGB 10 sind die Erstattungsregelungen des Dritten Kapitels (§§ 102 bis 114), ohne zeitliche Beschränkung auf Fälle anzuwenden, die am 1.7.1983 noch nicht abgeschlossen waren; hiervon werden auch noch nicht zu Ende geführte Gerichtsverfahren erfaßt, in denen Leistungsträger Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff SGB 10 geltend machen.
Orientierungssatz
Die Rechtsprechung ist allenfalls dann befugt den Gesetzgeber zu "korrigieren", wenn er offensichtlich mit dem Gesetzeswortlaut das zweifelsfrei erkennbare Gesetzesziel verfehlt hat oder offensichtliche planwidrige Gesetzeslücken bestehen. Das ist - jedenfalls im Hinblick auf den Vergleichszeitraum des § 205 Abs 4 S 2 RVO Fassung: 15.12.1981 nicht der Fall.
Normenkette
RVO § 205 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1981-12-15; SGB 10 § 102 Fassung: 1982-11-04, § 114 Fassung: 1982-11-04; SGB 10 Art. 2 § 21 Fassung: 1982-11-04
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist ein Erstattungsanspruch der Klägerin wegen zu Unrecht geleisteter Familienkrankenpflege; insbesondere welche der beteiligten Krankenkassen nach § 205 Abs 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Art 2 Nr 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung vom 15. Dezember 1981 (BGBl I 1390) -nF- leistungspflichtig war.
Der am 11. Oktober 1981 geborene J.A. wurde ua vom 18. Januar bis 18. Februar 1982 und vom 25. Februar bis 31. Mai 1982 stationär behandelt. Während die Beklagte der Klägerin, die die Kosten dieser Behandlungen getragen hatte, die Kosten für die erste Behandlung erstattete, lehnte sie die Erstattung der weiteren Krankenhausbehandlungskosten in Höhe von 31.440,-- DM ab, weil für die Mutter des J.A., die bei der Klägerin versichert war, im August 1981 (dem letzten Arbeitsmonat vor der dann folgenden beitragsfreien Zeit des Mutterschutzes und des Mutterschaftsurlaubs und vor dem Leistungsfall) ein höherer Beitrag gezahlt worden sei als für den bei ihr, der Beklagten, versicherten Kindesvater. Bei Hochrechnung dieses Beitrags ergebe sich ein Betrag von 219,04 DM monatlich, dem ein Beitrag des Kindesvaters für Januar 1982 (dem letzten bei ihr abgerechneten Kalendermonat vor dem hier streitigen zweiten Krankenhausaufenthalt) in Höhe von 198,62 DM gegenüberstehe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Erstattung des streitigen Betrages verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen, auf die sich die Beklagte berufe, setzten sich über den klaren Wortlaut des § 205 Abs 4 Satz 2 RVO nF hinweg und gäben ihm eine Auslegung, die über den gesetzlich gesteckten Rahmen hinausgehe und auch in den gesetzgeberischen Motiven keine Rechtfertigung fänden. Die vielfachen Modalitäten zur Errechnung der gegenüberzustellenden Beitragszeiträume widersprächen der klaren Regelung des Gesetzes und brächten dieser gegenüber auch keine erkennbaren Vorteile. Eine einfache Handhabung sei nicht mit den von den Spitzenverbänden empfohlenen Modalitäten, sondern mit einer wörtlichen Gesetzesinterpretation möglich. Dem ständen allgemeine Billigkeitsgesichtspunkte, die zu einer korrigierenden Auslegung der Gesetzesvorschrift - soweit dies überhaupt möglich sei - nötigen könnten, nicht entgegen. Dabei könnte es nicht minder zu Ungerechtigkeiten kommen, als wenn "zufällig" einmal eine Beitragsleistung auf der einen oder anderen Seite teilweise oder sogar ganz entfalle. In jedem Falle führe die sich eng an den Gesetzeswortlaut anlehnende Auslegung zu leichter und schneller überblickbaren Ergebnissen und diene damit der wünschenswerten Klarheit und Durchschaubarkeit des Verwaltungsverfahrens.
Zur Begründung ihrer Revision beruft sich die Beklagte erneut auf die Empfehlungen der Spitzenverbände, die nicht gegen § 205 Abs 4 RVO verstießen, sondern dazu bestimmt seien, die Auslegung und Handhabung dieser Regelung durch die Krankenkassen zu erleichtern. § 205 Abs 4 sei nicht eindeutig, sondern auslegbar, so daß zu befürchten sei, daß eine einheitliche Durchführung der gesetzlichen Vorschrift über alle Krankenkassenarten hinweg nicht gewährleistet sei. Im übrigen sei der Text des § 205 Abs 4 RVO nF für die praktische Handhabung ungeeignet und lückenhaft. Mit der Änderung habe vermieden werden sollen, daß ein geringfügig beschäftigter Elternteil für Kinder Leistungen zu Lasten derjenigen Krankenkasse in Anspruch nehmen könne, die nur geringe Beiträge erhalte. Dabei sei übersehen worden, daß für die Verwaltung ein erheblicher Aufwand und für den Versicherten unangenehme Folgen entstehen könnten. Vielfach sei es den Versicherten nicht möglich, Nachweise über die Höhe der für sie und ihre Ehegatten zu entrichtenden Krankenversicherungsbeiträge bzw über die Höhe der erzielten Arbeitsentgelte vorzulegen. Da der Krankenkasse im allgemeinen die Höhe des entrichteten Beitrags oder der erzielten Arbeitsentgelte nicht bekannt sei, müsse die Krankenkasse des anderen versicherten Ehegatten bei dem Arbeitgeber die Höhe des entrichteten Beitrags oder die Einkommenshöhe erfragen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1985 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. März 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zwar bringe die Neufassung des § 205 Abs 4 RVO einen erheblichen Verwaltungsaufwand mit sich und sei nicht gerade eine versichertenfreundliche Regelung. Die Empfehlungen der Spitzenverbände seien aber keinesfalls geeignet, die Regelung insgesamt versichertenfreundlicher oder verwaltungsfreundlicher zu gestalten. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes sei jeweils der letzte Monat für die Vergleichsberechnung heranzuziehen, unabhängig davon, ob dieser ganz oder teilweise mit Beiträgen belegt sei. Die für den letzten Monat gezahlten Beiträge ließen sich in der Gesamtsumme relativ einfach nachweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat sie zu Recht zur Erstattung der von der Klägerin getragenen Krankenhausbehandlungskosten verurteilt, so daß das LSG ihre Berufung zutreffend zurückgewiesen hat. Die Klägerin hat den streitigen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte.
Seit dem Inkrafttreten des Dritten Kapitels des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) am 1. Juli 1983 (§ 25 des Gesetzes vom 4. November 1982 -BGBl I 1450) sind die Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander in den §§ 102 ff SGB X geregelt. In noch anhängigen Verfahren sind nach § 21 aaO diese Vorschriften auf die streitigen Ansprüche anzuwenden (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-).
Es kann hier dahinstehen, ob die Klägerin im Sinne von § 102 SGB X vorläufig oder als unzuständiger Sozialversicherungsträger (§ 105 SGB X) geleistet hat. In jedem Falle war die Beklagte leistungspflichtiger Träger und ist deshalb zur Erstattung verpflichtet.
Für den Fall, daß - wie hier, wenn Vater und Mutter bei verschiedenen Krankenkassen versichert sind - ein Familienkrankenhilfeanspruch gegen mehrere Krankenkassen begründet ist, so daß die Leistung nach § 205 Abs 4 Satz 1 RVO nur einmal zu gewähren ist, stellt § 205 Abs 4 Satz 2 in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 15. Dezember 1981 (aaO) für die Bestimmung der leistungspflichtigen Krankenkasse darauf ab, für welchen Versicherten im letzten Monat vor dem Eintritt des Leistungsfalls der höhere Beitrag zu entrichten war. Entgegen der vorher gültig gewesenen Regelung, wonach die zuerst in Anspruch genommene Krankenkasse leistungspflichtig war, soll damit vermieden werden, daß ein geringfügig beschäftigter Elternteil für Kinder Leistungen zu Lasten der Kasse in Anspruch nehmen kann, die nur geringe Beiträge erhält (BT-Drucks 9/846 S 52 zu Nr 4; 9/975 S 26 zu Art 2). Ob der Gesetzgeber dieses nur sehr allgemein umschriebene Ziel mit der gewählten Gesetzesfassung voll erreicht hat oder andere Tatbestandsmerkmale dazu besser geeignet wären, ist grundsätzlich unerheblich. Die Rechtsprechung ist allenfalls dann befugt den Gesetzgeber zu "korrigieren", wenn er offensichtlich mit dem Gesetzeswortlaut das zweifelsfrei erkennbare Gesetzesziel verfehlt hat oder offensichtliche planwidrige Gesetzeslücken bestehen. Das ist - jedenfalls im Hinblick auf den Vergleichszeitraum des § 205 Abs 4 Satz 2 RVO nF -, der hier allein entscheidungserheblich ist - nicht der Fall.
Dieser Zeitraum ist gleichermaßen für beide Versicherte "der letzte Monat vor Eintritt des Leistungsfalls". Gleichgültig, wie man den Leistungsfall im Sinne dieser Regelung definiert - sei es als Versicherungsfall (so Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, Stand Mai 1985, § 205 Anm 8.2) oder als die jeweilige tatsächliche Inanspruchnahme von Leistungen -, ist der Vergleichszeitraum der vor diesem Zeitpunkt liegende Monat. Dabei ist es wiederum hier nicht entscheidungserheblich, ob der "Monat" ein Zeitraum von vier Wochen oder ein Kalendermonat ist, der vor dem maßgebenden Zeitpunkt des Leistungsfalls liegt, denn der Monat August 1981, für den für die Kindesmutter letztmals Beiträge zu entrichten waren, ist unter keinen Umständen der entscheidende Zeitraum. Die Gesetzesfassung erlaubt es nicht, jeweils verschiedene Zeiträume der Beitragspflicht der in Betracht kommenden Versicherten zu vergleichen, wie es die Beklagte - gestützt auf die Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen in deren gemeinsamen Rundschreiben vom 9. Dezember 1981 (dort unter Nr 14.2) - für richtig hält. Der Gesetzgeber hat nicht "abgerechnete Lohnabrechnungszeiträume", in denen tatsächlich Beiträge gezahlt worden sind, als Vergleichszeitraum bestimmt und nicht bestimmen wollen, denn der Begriff des "abgerechneten Lohnabrechnungszeitraums" ist dem Krankenversicherungsrecht nicht fremd. So wird etwa der Regellohn zur Berechnung des Krankengeldes danach bestimmt (vgl § 182 Abs 5 RVO). Wenn der Gesetzgeber dagegen in § 205 Abs 4 Satz 2 RVO nF eine völlig andere Formulierung zur Bestimmung des Vergleichszeitraums gewählt hat, kann daraus nur geschlossen werden, daß dieser Zeitraum sich nach anderen Kriterien richten soll. Offensichtlich sollte ein möglichst aktueller Bezug zu dem Leistungsfall hergestellt werden, um damit eine möglichst praktikable Handhabung zu gewährleisten. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß die Neuregelung gegenüber dem früheren Verfahren Schwierigkeiten mit sich bringt und der Auslegung bedarf. Es ist aber nicht einmal erkennbar, daß die Auslegung der Beklagten dem Gesetzeszweck besser gerecht wird als die möglichst wortgetreue Interpretation oder zu geringeren Schwierigkeiten bei der Anwendung führt. Eher ist das Gegenteil der Fall, denn es müßten gegebenenfalls länger zurückliegende Zeiträume der Beitragspflicht und tatsächlichen Beitragsentrichtung ermittelt werden, die einen Zeit- oder Kalendermonat umfassen. Aber auch dabei könnten Zufälligkeiten nicht ausgeschlossen werden und es ließe sich ein "wahres Bild" über den Umfang der Beiträge nicht ermitteln, die die eine oder die andere Krankenkasse - über einen längeren Zeitraum gesehen - erhalten hat. Eine von dem Wortlaut abweichende Auslegung ist daher, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, nicht geboten, um dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers gerecht zu werden. Vielmehr ist die Beitragspflicht während des unmittelbar vor dem Leistungsfall liegenden Vergleichsmonats für beide Versicherte der rechtserhebliche Maßstab für die Leistungspflicht der einen oder der anderen Krankenkasse. Daß diese Auslegung zu "ungerechteren Ergebnissen" führt, die bei der Anwendung des § 205 Abs 4 Satz 2 RVO nF, wie sie die Beklagte für richtig hält, vermieden werden, ist nicht erkennbar. Das gilt auch für den extremsten Fall der "höheren" Beitragspflicht des einen Versicherten, wenn nämlich der andere beitragsfrei versichert ist.
Da für die Kindesmutter seit September 1981 keine Beitragspflicht mehr bestand, der Kindesvater dagegen durchgehend versicherungspflichtig beschäftigt war, war seine Krankenkasse, nämlich die Beklagte, für den Familienkrankenhilfeanspruch leistungspflichtig, so daß die Klägerin gegen sie einen entsprechenden Erstattungsanspruch hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 4 SGG.
Fundstellen