Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff SGB 10. Beiladung des ursprünglich Leistungsberechtigten
Leitsatz (amtlich)
Zu dem Erstattungsstreit zwischen Sozialhilfeträger und Krankenkasse ist der Versicherte gemäß § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen.
Orientierungssatz
1. Die Eigenständigkeit von Erstattungsansprüchen nach den §§ 102 ff SGB 10 schließt eine Beiladung des ursprünglich Leistungsberechtigten zum Verfahren nicht aus.
2. Greift eine im Verfahren zu erwartende Entscheidung über einen strittigen Erstattungsanspruch zugleich unmittelbar in Rechte des ursprünglich Leistungsberechtigten ein, so sind die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung iS des § 75 Abs 2 (erste Alternative) SGG erfüllt.
3. Eine Entscheidung über einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff SGB 10, dessen Grundlage eine fehlerhafte Ermessensausübung iS des § 182c Abs 3 RVO (Härtefall bei Zahnersatz) sein soll, wirkt sich infolge der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB 10 unmittelbar auf den Leistungsanspruch des Berechtigten aus und macht dessen Beiladung zum Verfahren erforderlich.
Normenkette
SGG § 75 Abs 2 Alt 1 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 102 Fassung: 1982-11-04, § 107 Abs 1; RVO § 182c Abs 3 Fassung: 1981-12-22
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 23.05.1984; Aktenzeichen S 2 Kr 3973/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) dem klagenden Landeswohlfahrtsverband die restlichen Kosten für die zahnärztliche Behandlung des Rentners Erwin B. (B.) zu erstatten hat.
B. ist Mitglied der Beklagten. Er leidet seit seinem 14. Lebensjahr an Friedrich'scher Ataxie. Seit Dezember 1977 ist er im Stephanuswerk in I untergebracht. Die Kosten für die Heimunterbringung trägt der Kläger. An ihn werden die Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente), die B. von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg bezieht, das B. zustehende Wohngeld und das seinen Eltern zustehende Kindergeld ausgezahlt. Die Kosten der Heimunterbringung sind insgesamt höher als die an den klagenden Landeswohlfahrtsverband ausgezahlten Beträge. B. erhält deshalb vom Kläger lediglich ein monatliches Taschengeld, das einschließlich Zusatztaschengeld im April 1982 136,-- DM betrug. Im Mai 1982 wurde B. zahnärztlich behandelt und mit Zahnersatz versorgt. Die beklagte AOK übernahm 60 % der Kosten. Den Restbetrag von 70,64 DM stellte der Zahnarzt dem Versicherten B. in Rechnung. Ohne den strittigen Anspruch auf sich überzuleiten, übernahm der Kläger vorläufig die Kosten und bat die beklagte AOK, den Betrag zu erstatten. Dies lehnte die Beklagte ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Zahlung des Restbetrages verurteilt und zur Begründung ua ausgeführt, der Kläger könne die Erstattung der von ihm vorläufig übernommenen Kosten gemäß § 104 Abs 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) verlangen. Der Versicherte B. habe nämlich einen Anspruch darauf, daß sämtliche Kosten der Zahnbehandlung erstattet würden. Es liege hier ein Härtefall iS von § 182c Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vor, so daß die Beklagte nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheiden müsse, ob der Restbetrag ganz oder teilweise zu übernehmen sei. Von diesem Ermessen habe die Beklagte fehlerhaft Gebrauch gemacht. Bei Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation des Versicherten B. hätte sie die Ermessensentscheidung nur so treffen können, daß dieser nicht noch zusätzlich mit Ausgaben für Zahnersatz belastet werde.
Mit der - vom SG durch Beschluß vom 21. August 1984 zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 182c Abs 3 RVO. Das SG habe den Begriff des Härtefalls verkannt. Es habe nur das dem Versicherten B. zur freien Verfügung stehende Taschengeld berücksichtigt, nicht dagegen seine EU-Rente in Höhe von monatlich 1.085,90 DM. Im Rahmen des § 182c Abs 3 RVO müsse von allen Einkünften ausgegangen werden, die dem Versicherten zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung ständen. Deshalb sei auch die EU-Rente heranzuziehen, die der Sicherung des Lebensunterhalts diene und die auch einen Großteil der Heimkosten decke. Ob B. den Lebensunterhalt in einem Heim erhalte oder sich selbst verschaffe, könne dagegen nicht berücksichtigt werden. Anderenfalls würden Gebrechliche, die von Angehörigen zu Hause gepflegt würden, und Gebrechliche, die in einem Heim untergebracht seien, unterschiedlich behandelt. Im übrigen liege das B. zur freien Verfügung stehende Taschengeld von monatlich 136,-- DM kaum unter dem Betrag, den ein außerhalb eines Heimes lebender Versicherter bei gleichem Einkommen über das Bestreiten des unmittelbaren Lebensunterhalts hinaus zur freien Verfügung habe. Aber selbst wenn die Ablehnung der Übernahme der Restkosten ermessensfehlerhaft erfolgt sein sollte, bedeute dies noch nicht, daß sie, die Beklagte, auch die Restkosten tragen müsse. Denn von einer Ermessensreduzierung auf Null könne im vorliegenden Fall keine Rede sein.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Mai 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils des SG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landessozialgericht Baden-Württemberg; denn der Versicherte B. hätte zu dem Verfahren beigeladen werden müssen.
Nach § 75 Abs 2 1. Alternative des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind Dritte zum Verfahren notwendig beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der auch der erkennende Senat folgt, sind die Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt, wenn die im Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (BSG SozR 1500 § 75 Nr 49 mwN). Das ist hier gegeben.
Der vom Kläger geltend gemachten Erstattungsanspruch richtet sich nach §§ 102 ff SGB X, obwohl die zahnärztliche Behandlung des B. im Mai 1982 erfolgte. Denn gemäß Art II § 21 des Gesetzes vom 4. November 1982 (BGBl I 1450) sind die beim Inkrafttreten des Gesetzes - 1. Juli 1983 - bereits begonnenen Verfahren nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu Ende zu führen. Auf Ansprüche, die schon vor dem Inkrafttreten des 3. Kapitels des SGB X entstanden sind, über die aber noch nicht rechtskräftig entschieden ist, sind danach die Bestimmungen dieses Kapitels ebenso anzuwenden, wie gemäß Art II § 37 des Gesetzes vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) die Bestimmungen des 1. und 2. Kapitels des SGB X in noch anhängigen Verfahren (BSG, ständige Rechtsprechung; vgl die Nachweise in dem Urteil des erkennenden Senats vom 27. Juni 1985 - 8 RK 34/84 - SozR 2200 § 182b Nr 32; s ferner Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1985 - 8 RK 31/84 - SozR 1300 § 111 Nr 1).
Es kann hier dahinstehen, ob der Erstattungsanspruch des Klägers auf § 102 SGB X (vgl dazu Knopp/Fichtner, BSHG, Komm, 5. Aufl, § 59 RdNr 6; Schellhorn/Jirasek/Seipp, Komm zum BSHG, 12. Aufl, § 44 RdNrn 6 und 12; Engelmann in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren, Komm und Ergänzungsband, § 102 Anm 2.1) oder auf § 104 SGB X (vgl dazu Urteil des erkennenden Senats vom 27. Juni 1985, aa0) gestützt werden kann.
Der Annahme eines Falles der notwendigen Beiladung steht nicht entgegen, daß die Vorschriften der §§ 102 bis 105 SGB X eigenständige, also nicht von der Rechtsposition des Versicherten abgeleitete Erstattungsansprüche (BT-Drucks 9/95, S 17; Engelmann, aa0, Anm 3 vor § 102) begründen. Trotz dieser Eigenständigkeit hängt der Erstattungsanspruch nämlich inhaltlich vom Anspruch des Versicherten ab, und zwar insoweit, als für das Bestehen eines Erstattungsanspruchs regelmäßig Leistungsansprüche des Berechtigten vorausgesetzt werden (Engelmann, aa0, Anm 3 vor § 102).
Die Verbindung zwischen dem Anspruch des Versicherten und dem Erstattungsanspruch ist auch so eng, daß die gerichtliche Entscheidung dem Versicherten gegenüber nur einheitlich ergehen kann (§ 75 Abs 2 1. Alternative SGG). Dies ergibt sich insbesondere aus § 107 Abs 1 SGB X. Danach gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Wird das Bestehen eines Erstattungsanspruchs angenommen, kann der Versicherte gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg auf Erfüllung seines Anspruchs klagen.
Der vorliegende Rechtsstreit macht besonders deutlich, daß die zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre des Versicherten B. unmittelbar eingreift. Der vom Kläger geltend gemachte Erstattungsanspruch hängt davon ab, ob die beklagte AOK nach § 182c Abs 3 RVO verpflichtet ist, den Restbetrag für die im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung des B. erbrachten zahntechnischen Leistungen ganz oder teilweise zu übernehmen. Der Krankenkasse steht insoweit ein Ermessensspielraum zu (BSG, Urteil vom 9. März 1982 - 3 RK 67/81 - SozR 2200 § 182c Nr 7). Entscheidet das Gericht, daß die Beklagte dem klagenden Sozialhilfeträger nur einen Teil der Aufwendungen erstatten muß, so gilt der Anspruch des Versicherten nach § 107 SGB X auch nur insoweit als erfüllt. Andererseits wird mit einer solchen Entscheidung aber zugleich auch ausgesprochen, daß der Versicherte selbst keinen Anspruch auf eine höhere Ermessensleistung hat (vgl in diesem Zusammenhang auch BSG, Urteile vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 8/76 - SozR 1500 § 55 Nr 4 - Feststellungsklage gegen den für zuständig gehaltenen Versicherungsträger -, vom 16. November 1978 - 3 RK 79/77 - Rechtsstreit zwischen Krankenkasse und Rentenversicherungsträger über die Höhe des übergegangenen Rentenanspruchs - und vom 13. Mai 1981 - 7 RAr 102/79 - Streit zwischen Sozialhilfeträger und Bundesanstalt für Arbeit wegen eines teilweise übergeleiteten Anspruchs eines Behinderten - SozR 1500 § 75 Nrn 20 und 34).
Der 4. und der 5a-Senat des BSG haben bereits zum alten Recht (§ 1531 RVO bzw §§ 1511 und 1538 RVO - gestrichen durch Gesetz vom 4. November 1982 - BGBl I 1450 -) entschieden (Urteile vom 30. August 1979 - 4 RJ 65/77 - und vom 4. August 1981 - 5a/5 RKn 6/80 - USK 79232 und 81295), daß der Versicherte nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen ist, wenn der Sozialhilfeträger gegen einen Kranken- bzw Rentenversicherungsträger einen Ersatzanspruch oder in Prozeßstandschaft einen Anspruch des Versicherten im Wege der Klage verfolgt. In dem Urteil vom 30. August 1979 wird dazu ua ausgeführt: Der Sozialhilfeträger mache zwar einen eigenen, selbständig (originär) neben dem Anspruch des Versicherten gegen einen Versicherungsträger tretenden Ersatzanspruch geltend. Der Anspruch des Versicherten bleibe aber trotz des vom Sozialhilfeträger erhobenen Ersatzanspruchs im Vermögen des Versicherten. Der Versicherte verliere lediglich die Verfügungsbefugnis über seinen Anspruch, soweit daraus der Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers zu befriedigen sei. Dieser erwerbe das Recht des Zugriffs auf den Anspruch des Versicherten. Wegen dieser Rechtswirkungen werde die Rechtssphäre des Versicherten durch die Erhebung eines Ersatzanspruchs nach § 1531 RVO unmittelbar berührt, so daß er notwendig zu dem Rechtsstreit beizuladen sei.
Durch das Inkrafttreten der §§ 102 ff SGB X hat sich insoweit nichts Entscheidendes geändert. Zwar ist an die Stelle des früher angenommenen Verlustes der Verfügungsbefugnis des Versicherten die Fiktion der Leistungserfüllung (§ 107 Abs 1 SGB X) getreten. Die Entscheidung darüber aber, ob und wieweit der Versicherte die Verfügungsbefugnis über seinen Anspruch verloren hatte bzw sein Leistungsanspruch nunmehr als erfüllt gilt, greift gleichermaßen unmittelbar in seine Rechtssphäre ein. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, die Rechtsprechung des BSG zum alten Recht nach Inkrafttreten der §§ 102 ff SGB X für Fälle der vorliegenden Art fortzusetzen.
Der Senat weicht damit nicht von dem Urteil des BSG vom 24. Mai 1984 - 7 RAr 97/83 - (BSGE 57, 15) ab. In dieser Entscheidung hat der 7. Senat die Beiladung des Versicherten im Erstattungsstreit zwischen der klagenden Krankenkasse und der beklagten Bundesanstalt für Arbeit nicht für notwendig angesehen, weil das Bestehen eines Anspruchs des Versicherten auf Arbeitslosengeld lediglich eine Vorfrage sei (BSGE 57, 15, 19) und es für die Annahme eines Falles der notwendigen Beiladung nicht genüge, daß die Gerichtsentscheidung gegebenenfalls Vorfragen behandele, die frühere oder derzeitige Rechtsbeziehungen des Versicherten beträfen (BSGE 57, 15, 18). Im vorliegenden Rechtsstreit geht es indessen hinsichtlich des Anspruchs auf Übernahme der Restkosten für die zahntechnischen Leistungen - wie die Ausführungen deutlich gemacht haben - nicht lediglich um eine Vorfrage.
Die Unterlassung einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 1. Alternative SGG ist ein Mangel des gerichtlichen Verfahrens, den bei einer zulässigen Revision das Revisionsgericht auch ohne Rüge, dh von Amts wegen, zu beachten hat (BSG, Beschluß vom 12. März 1974 - 2 S 1/74 - und Urteil vom 16. November 1978 - 3 RK 79/77 - SozR 1500 § 75 Nrn 1 und 20). Da eine unterbliebene Beiladung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (§ 168 SGG), hat der Senat das Urteil des SG aufgehoben und den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs 4 Satz 1 SGG an das LSG zurückverwiesen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre.
Das LSG wird auch darüber zu befinden haben, ob einem Beteiligten die Erstattung außergerichtlicher Kosten für das Revisionsverfahren aufzuerlegen ist.
Fundstellen