Entscheidungsstichwort (Thema)

Dienstreise. Unfallversicherungsschutz. Holen der im Auto zurückgelassenen Ausweispapiere

 

Leitsatz (amtlich)

Der Unfallversicherungsschutz auf Dienstreisen erstreckt sich auch auf den Weg, den ein Versicherter zurücklegt, um seine im Pkw zurückgelassenen Ausweispapiere zu holen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 19.09.1989; Aktenzeichen L 2 U 53/89)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 18.05.1989; Aktenzeichen S 3 U 119/88)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen der gesundheitlichen Folgen eines am 23. September 1987 erlittenen Unfalls gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente hat.

Der Kläger ist als Monteur bei der Firma T                     , B                , beschäftigt. Im September 1987 arbeitete er auf einer Baustelle in Frankfurt. Während dieser Zeit wohnte er in einem Hotel. Für die Zurücklegung der im Rahmen der Tätigkeit in Frankfurt erforderlichen Wege benutzte er seinen privaten Pkw. Am 23. September 1987 fuhr er nach Arbeitsende von der Baustelle in Richtung Hotel und parkte den Wagen einige Meter von diesem entfernt in einer Seitenstraße. Von dort aus ging er zu Fuß weiter. Kurz vor dem Hotel bemerkte er, daß er seine Herrenhandtasche im Wagen liegengelassen hatte. Da sich darin sowohl sein Personalausweis und sein Reisepaß als auch der Kraftfahrzeugschein und sein Führerschein befanden, kehrte er um. Als er auf dem Rückweg zum Pkw eine Straße überquerte, wurde er von einem Auto erfaßt, zu Boden geschleudert und erheblich verletzt.

Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger Unfallentschädigung zu gewähren (Bescheid vom 16. März 1988 und Widerspruchsbescheid vom 26. August 1988). Der Kläger sei im Zeitpunkt des Unfalls nicht unfallversichert gewesen, weil er den Rückweg zum Pkw aus Gründen zurückgelegt habe, die seinem privaten, eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen seien.

Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hat die hiergegen erhobene Klage mit der Begründung abgewiesen, im Zeitpunkt des Unfalls sei der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Heimweg und der versicherten Tätigkeit unterbrochen gewesen (Urteil vom 18. Mai 1988).

Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19. September 1989). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, der Versicherungsschutz des Klägers beurteile sich nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der danach erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem Weg zum Pkw und der versicherten Tätigkeit sei nicht gegeben. Dem stehe das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. August 1988 - 2 RU 80/87 - nicht entgegen. Der entscheidende Unterschied zu diesem Fall liege darin, daß dort der verletzte Mopedfahrer seinen verlorenen Handschuh benötigt habe, um den Weg fortzusetzen. Demgegenüber könne es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob es notwendig gewesen sei, die vorgesehene Herrenhandtasche zurückzuholen, um am nächsten Tag den Weg zur Arbeit zurückzulegen. Denn derartige Vorbereitungshandlungen seien nur dann versichert, wenn sie der Arbeitsaufnahme unmittelbar vorausgingen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er ist der Auffassung, auch auf dem Rückweg zum Pkw nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versichert gewesen zu sein. Als Montagearbeiter benötige er einen Pkw, um seine Arbeitsstelle zu erreichen, und daher auch die Fahrzeugpapiere. Diese seien ein Teil der erforderlichen Fahrausrüstung des Pkw. Der Rückweg zum Pkw sei von dem Zweck bestimmt gewesen, am kommenden Tag unter Beachtung der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung zur Arbeitsstelle zu gelangen.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 23. September 1987 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Der Kläger hat zwar am 23. September 1987 einen Arbeitsunfall erlitten, aber nach der Rechtsauffassung des Senats sind keine ausreichenden Tatsachen festgestellt, um über den umstrittenen Anspruch auf Verletztenrente zu entscheiden.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Im vorliegenden Fall beurteilt sich der Versicherungsschutz entgegen der Auffassung des LSG nicht nach § 550 Abs 1 RVO, sondern nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO, und zwar deshalb, weil der Kläger sich auf einer Dienstreise befand. Er arbeitete auf Weisung seines Arbeitgebers als Monteur auf einer Baustelle an einem anderen Ort als dem Betriebssitz und konnte von dort aus nach Dienstschluß nicht zu seiner Wohnung zurückkehren. Auf einer solchen Reise erstreckt sich der Anwendungsbereich des § 548 Abs 1 RVO auch auf Wege, die sonst nach § 550 RVO zu beurteilen sind (vgl BSG SozR Nrn 4 und 7 zu § 548 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 481q, r mwN).

Zur Annahme eines Arbeitsunfalls nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits im inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis gestanden hat (Wertung), und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (haftungsbegründende Kausalität). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Der innere Zusammenhang ist gegeben. Zwar ist der Reisende während der Dienstreise nicht schlechthin bei allen Verrichtungen unfallversicherungsrechtlich geschützt; vielmehr lassen sich gerade bei längeren Dienstreisen im Ablauf der einzelnen Tage in der Regel Verrichtungen unterscheiden, die mit der Tätigkeit für das Unternehmen wesentlich im Zusammenhang stehen, und solche, bei denen dieser Zusammenhang in den Hintergrund tritt. Die besonderen Umstände bei einer dienstlich veranlaßten Reise bringen es aber mit sich, bei einer Reihe von Tätigkeiten anders als an sich am Wohn- oder Betriebsort einen inneren Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit zu begründen. Der betrieblich bedingte Aufenthalt in einem fremden Ort auch außerhalb der Arbeitszeit wird nämlich nicht in demselben Maße von rein eigenwirtschaftlichen Belangen beeinflußt, wie derjenige am Wohnort. Der Versicherungsschutz während einer Dienstreise kann sich daher auch auf solche Tätigkeiten erstrecken, die sonst dem privaten Bereich zuzurechnen sind (vgl BSG, Urteil vom 25. März 1964 - 2 RU 123/61 - in BG 1964, 373 zu Wegen in einem Restaurant; BSGE 50, 100 zu Wegen nach einem längeren Gaststättenaufenthalt; BSG, Urteil vom 26. April 1990 - 2 RU 54/89 - zum Erkunden der örtlichen Verhältnisse eines Tagungshotels). Der Versicherungsschutz entfällt allerdings dann, wenn sich der Reisende persönlichen, von der beruflichen Tätigkeit und den Besonderheiten des auswärtigen Aufenthalts nicht mehr wesentlich beeinflußten Belangen widmet (vgl BSG, Urteil vom 27. Juli 1989 - 2 RU 3/89 - zu einem Saunabesuch; BSG SozR 2200 § 539 Nr 110 zu einem Spaziergang; Brackmann aaO S 481v mwN).

Unter Berücksichtigung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Wertungsmaßstäbe stand der Kläger auch unter Versicherungsschutz, als er den Weg zum Hotel unterbrach und zum bereits abgestellten Pkw zurücklief, denn das ist nicht als wesentlich nur private Verrichtung zu qualifizieren. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG vergaß er die Herrenhandtasche auf dem versicherungsrechtlich geschützten Weg von der Arbeitsstelle zum Hotel. In der Tasche befanden sich ua sein Reisepaß und sein Personalausweis. Ein Ausweis wird in der Regel weder zur Ausübung der beruflichen Tätigkeit noch für Fahrten nach und von dem Ort der Arbeitsstätte mitgenommen oder benötigt. Anders verhält es sich jedoch bei längeren Dienstreisen. Hier ist es nicht nur üblich, einen Ausweis bei sich zu führen, sondern auch erforderlich, etwa um sich gegenüber Geschäftspartnern oder im Hotel auszuweisen, sich bei einer Bank oder Sparkasse Bargeld zu beschaffen oder einen Scheck einzulösen. Auf einer Dienstreise führt der Versicherte seinen Ausweis rechtlich wesentlich auch zu dem Zweck mit, um die Dienstreise ordnungsgemäß und störungsfrei abzuwickeln. Daher handelt jedenfalls derjenige, der, wie der Kläger, während einer Dienstreise auf einem mit der beruflichen Tätigkeit zusammenhängenden Weg seinen Ausweis im abgestellten Pkw vergißt und noch vor Beendigung des Weges dorthin zurückkehrt, um ihn zu holen, rechtlich wesentlich auch im betrieblichen Interesse. Für den inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis spricht im vorliegenden Fall außerdem, daß sich in der vergessenen Herrenhandtasche auch noch der Kraftfahrzeugschein und der Führerschein des Klägers befanden. Verwendet ein Versicherter zur Abwicklung einer Dienstreise seinen privaten Pkw, so wird dieser dadurch in der Regel zwar nicht zum Arbeitsgerät iS des § 549 RVO (vgl BSGE 24, 243, 246; BSG, Urteil vom 26. Juni 1985 - 2 RU 50/84 - in HV-Info 16/85 S 29; Brackmann aaO S 481n und Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 8 jeweils mwN), der Versicherte benutzt den Wagen aber im betrieblichen Interesse, und deshalb steht es im inneren Zusammenhang mit der Dienstreise, wenn er die erforderlichen Fahrzeugpapiere mit sich führt und sichert.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist auch die haftungsbegründende Kausalität gegeben. Der Unfall hat sich "bei" der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit ereignet. Deshalb hängt die Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente von dem bisher nicht festgestellten Ausmaß der unfallbedingten Gesundheitsstörungen ab. Da das LSG, von seiner Rechtsauffassung aus zutreffend, hierzu keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat und der Senat diese nicht selbst nachholen kann, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1667470

ZBR 1991, 93

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