Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.07.1995) |
SG Ulm (Urteil vom 17.06.1994) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Juli 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anstatt einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) hat.
Der 1939 geborene Kläger stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und erlernte dort nach seinen Angaben den Maurerberuf. Von 1972 bis August 1990 war er in der Bundesrepublik Deutschland als Maurer beschäftigt. Im Sommer 1991 nahm er an einer auf Kosten der Beklagten durchgeführten Heilbehandlung teil, aus der er als arbeitsunfähig in ambulante ärztliche Weiterbehandlung entlassen wurde; im übrigen wurde er jedoch für fähig gehalten, leichte bis mittelschwere Arbeiten im Wechselrhythmus, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten sowie Klettern oder Steigen vollschichtig zu verrichten. Im September 1991 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte zunächst ab (Bescheid vom 13. August 1992) und gewährte dem Kläger sodann durch Teilabhilfebescheid vom 30. April 1993 iVm dem Bescheid vom 1. September 1993 aufgrund eines Versicherungsfalls vom 27. August 1990 ab 11. April 1992 (Einstellung einer Verletztengeldzahlung) Rente wegen BU. Der auf eine Rente wegen EU ab Antragstellung gerichtete Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1994). Das Sozialgericht (SG) Ulm hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei noch in der Lage, vollschichtig leichte körperliche Tätigkeiten, vorwiegend im Sitzen, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, häufiges Bücken und Klettern oder Steigen sowie Heben und Tragen oder Bewegen von Lasten zu verrichten (Urteil vom 17. Juni 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 17. Juli 1995). Es hat ausgeführt: Der Kläger sei nicht erwerbsunfähig. Auch der Senat sei wie die Beteiligten und das SG der Überzeugung, daß der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Störungen noch in der Lage sei, vollschichtig einer leichten Berufstätigkeit nachzugehen. Zu Recht unstreitig zwischen den Beteiligten sei ebenfalls, daß bei ihm nicht etwa eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, eine außergewöhnliche Behinderung, eine Einschränkung der Gehfähigkeit auf unter 500 m sowie das Erfordernis betriebsunüblicher Arbeitsbedingungen, eines sog Schonarbeitsplatzes oder eines Arbeitsplatzes, der auf dem Arbeitsmarkt nur in ganz geringem Umfang angeboten werde, vorliege. Der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt vor: Sofern die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen nicht bereits eine sog Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen darstellten und schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderten, sei eine Benennung jedenfalls deshalb notwendig, weil für die Versichertengruppe, welcher der Kläger angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat (GrS) des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Juli 1995 sowie das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 17. Juni 1994 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. August 1992, Änderung des Teilabhilfebescheides vom 30. April 1993 und des Bescheides vom 1. September 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 1994 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. September 1991 zu gewähren,
hilfsweise, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht keinen Anlaß, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Rente wegen EU zusteht.
Soweit der Kläger sich zur Begründung seiner Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat sein Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 = SGb 1995, 603 = NZS 1996, 228).
In dieser Entscheidung ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an einer Entscheidung nicht gehindert ist und der Kläger bei einer abweichenden Entscheidung des GrS nach Maßgabe der §§ 44 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.
Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94, aaO) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig. Insbesondere stellen die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um einige – wenn auch nicht unerhebliche – gewöhnliche Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten könnte.
Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von EU entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die Rente des Klägers, da über sie noch nicht abschließend (“rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht “begonnen”. Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590, S 19; 13/3697, S 1, 3 ff; 13/3907, S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder – wie im Falle des Klägers – nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung zu beurteilen ist.
Dem vom Kläger sinngemäß bzw ausdrücklich gestellten Antrag, den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des GrS auszusetzen oder das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, kann nicht entsprochen werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen (§ 114 SGG bzw § 202 SGG iVm § 251 Zivilprozeßordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen