Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Invalidenversicherung und der knappschaftlichen Rentenversicherung. Berücksichtigung von Steigerungsbeträgen wegen Zivilinternierung. Kriegsgefangenschaft
Orientierungssatz
1. Zeiten einer Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges in Australien können nicht als rentensteigernde Ersatzzeiten angerechnet werden.
2. Kriegsgefangenschaft liegt vor, wenn jemand wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes gerät.
Normenkette
RVO § 1263 Nr. 4 Fassung: 1949-06-17; RVAusbauG § 119 Abs. 1 Fassung: 1937-12-21; HkG § 24 Fassung: 1950-06-19
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.06.1955) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 28.07.1954) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 7. Juni 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe des am 28. Dezember 1952 verstorbenen .... Mit Bescheid vom 7. März 1953 gewährte ihr die Beklagte auf ihren Antrag die Hinterbliebenenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Invalidenversicherung in Höhe von monatlich DM 133.30. Streitig ist noch, ob die Zeit der Zivilinternierung des ... während des ersten Weltkrieges rentensteigernd zu berücksichtigen ist. ... war bis zum 20. August 1914 invalidenversichert und ab 16. September 1919 mit Unterbrechungen - knappschaftlich versichert. Am 24. Juni 1914 wurde er als Heizer auf dem Dampfer "L" für eine Reise nach Australien auf unbestimmte Zeit angeheuert. Etwa 14 Tage nach Kriegsausbruch wurde er mit der gesamten Besatzung seines Schiffes im Hafen von M (Australien) interniert. Er wurde erst im Jahre 1919 wieder entlassen.
Da die Beklagte bei der Berechnung der Steigerungsbeträge die Zeit der Internierung von August 1914 bis September 1919 unberücksichtigt gelassen hatte, legte die Klägerin Einspruch gegen den Bescheid der Beklagten ein. Diesen wies der Geschäftsausschuß in H mit der Begründung zurück, daß die Zeit der Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges nicht als Kriegsdienst gelte und Steigerungsbeträge für diese Zeit daher nicht gewährt werden könnten. Die von der Klägerin gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht in Dortmund über. Durch Urteil vom 28. Juli 1954 wies das Sozialgericht die Klage mit der Begründung ab, ... habe sich bei Ausbruch des ersten Weltkrieges auf einem Schiff der Handelsmarine befunden, habe also nicht in einem militärischen Dienstverhältnis gestanden; er habe daher weder Kriegsdienste noch kriegsähnliche Dienste verrichtet, so daß diese Zeit nicht rentensteigernd berücksichtigt werden könne. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin weitere Berufung bei dem Landessozialgericht ein. Dieses wies die Berufung durch Urteil vom 7. Juni 1955 mit im wesentlichen gleicher Begründung wie das Sozialgericht zurück. Es hat die Revision zugelassen. Das Urteil wurde der Klägerin am 25. Juni 1955 zugestellt. Sie legte hiergegen mit Schriftsatz vom 12. Juli 1955 am 13. Juli 1955 durch ihren Prozeßbevollmächtigten Wuttke vom Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands e. V., Revisionsabteilung Kassel, Revision ein und begründete diese, nachdem die Begründungsfrist bis zum 26. September 1955 verlängert worden war, am 21. September 1955. Sie ist der Auffassung, daß die Zeit der Internierung ihres verstorbenen Ehemannes nach § 1263 Nr. 4 RVO, § 119 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 und § 24 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer vom 19. Juni 1950 bei der Berechnung der Rente aus der Invalidenversicherung berücksichtigt werden müsse.
Sie beantragt,
1) unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 28. Juli 1954 die Beklagte zu verurteilen, die Zeit der Internierung ihres verstorbenen Ehemannes von August 1914 bis August 1919 rentensteigernd zu berücksichtigen,
2) die ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beklagten aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Sie hält die Gründe des angefochtenen Urteils für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat; sie ist jedoch nicht begründet.
Der Ehemann der Klägerin hat vor seiner Zivilinternierung ausschließlich der Invalidenversicherung angehört. Die zu entscheidende Frage, ob diese Internierungszeit rentensteigernd zu berücksichtigen ist, beurteilt sich daher, wie der 1. Senat des erkennenden Gerichts bereits entschieden hat (Urt. v. 21.3.1956 - 1 RA 46/55 -), nach dem Recht dieses Versicherungszweiges. Wie der 1. Senat in diesem Urteil weiterhin entschieden hat, können in der Invalidenversicherung Zeiten der Zivilinternierung des ersten Weltkrieges nicht rentensteigernd angerechnet werden. In der Invalidenversicherung werden Steigerungsbeträge für Zeiten gewährt, in denen der Versicherte während des ersten Weltkrieges dem deutschen Reich oder einem mit ihm verbündeten oder befreundeten Staat Kriegs-, Sanitäts- oder ähnliche Dienste geleistet hat, wenn die Versicherung vorher bestand (§ 119 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937). Die Zeit der Kriegsgefangenschaft wird als Kriegsdienstzeit angerechnet, wenn nicht nachgewiesen ist, daß eigenes Verschulden vorgelegen hat (§ 2 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 1. September 1938). Eine Vorschrift, daß auch die Zeit einer Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges als rentensteigernde Ersatzzeit anzurechnen ist, fehlt. Kriegsgefangenschaft und Zivilinternierung sind wesensverschieden. Kriegsgefangenschaft liegt vor, wenn jemand wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes gerät. Sie setzt die Eingliederung in eine organisierte militärische Einheit voraus. Internierungen erfolgen insbesondere wegen der Volks- oder Staatsangehörigkeit. Die Internierten gehören zuvor keinem kriegführenden Verband an. Das Sozialrecht unterscheidet folgerichtig zwischen beiden schon seit der Zeit des ersten Weltkrieges. Aus dem Gebrauch des Wortes "Kriegsgefangenschaft" und dem Fehlen eines Hinweises auf die Zivilinternierung in § 2 der Verordnung vom 1. September 1938 folgt deshalb, daß in der Invalidenversicherung die Zeit der Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges keine Ersatzzeit bei der Berechnung des Steigerungsbetrages ist.
Der erkennende Senat hat keine Bedenken, sich insoweit der Rechtsprechung des 1. Senats anzuschließen. Diese Vorschriften können also den Anspruch der Klägerin nicht begründen, da der Ehemann der Klägerin weder Kriegs-, Sanitäts- oder ähnlichen Dienst geleistet hat noch in Kriegsgefangenschaft geraten ist. Er stand, als er interniert wurde, in einem privaten Arbeitsverhältnis zu der Reederei seines Schiffes. Etwas anderes könnte höchstens dann gelten, wenn das Schiff als Hilfskriegsschiff der Seekriegsführung unterstanden hätte. Diese Frage bedarf hier jedoch keiner Untersuchung, da dies unstreitig nicht der Fall gewesen ist.
Die Klägerin kann sich auch nicht auf § 1263 Abs. 4 RVO stützen, da diese Vorschrift nur die Wartezeit betrifft und die für die Erfüllung der Wartezeit maßgebenden Ersatzzeiten - bei Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Vorschrift - nicht auch ohne weiteres rentensteigernd zu berücksichtigen sind.
Das Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer vom 19. Juni 1950 (BGBl. S. 221) i. d. F. des Gesetzes vom 30. Oktober 1951 (BGBl. I S. 875) und des Gesetzes vom 17. August 1953 (BGBl. I S. 931) kann schon deshalb nicht angewandt werden, weil es nach § 1 Abs. 3 nur Internierte betrifft, die nach dem 8. Mai 1945 entlassen worden sind.
Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen