Orientierungssatz

Zur fehlerhaften Beweiswürdigung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs eines Magengeschwürleidens mit dem Wehrdienst.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.07.1956)

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Juli 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger wurde im September 1940 wegen chronischer Mittelohreiterung links aus der Wehrmacht (einer Luftnachrichtenkompanie) entlassen. Alsdann war er beim Reichsarbeitsdienst im Innendienst tätig. Vom Februar 1943 bis zur Einstellung der Kampftätigkeit leistete er erneut Wehrdienst bei einer Luftnachrichteneinheit. Im Juni 1945 wurde er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.

Das Versorgungsamt Landshut erkannte auf den Antrag des Klägers vom 10. Mai 1947 mit Bescheid vom 19. Januar 1951 nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) und dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ein altes chronisches Mittelohrleiden links als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung an, lehnte es aber ab, dem Kläger Rente zu gewähren, weil die auf der anerkannten Schädigungsfolge beruhende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) weniger als 25 % betrage. Zugleich gab es dem Kläger auf, die erhaltenen Rentenvorschüsse in Höhe von DM 260,-- zurückzuzahlen.

Das Oberversicherungsamt Landshut wies die Berufung des Klägers (alten Rechts) gegen diesen Bescheid mit Urteil vom 10. März 1952 zurück. Das Bayerische Landessozialgericht, auf das der Rekurs des Klägers als Berufung neuen Rechts überging, wies die Berufung gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Landshut durch Urteil vom 17. Juli 1956 zurück. Es kam zu dem Ergebnis, daß der wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil für das Ohrenleiden des Klägers nur einer MdE. um 10 % entspreche und daher keinen Anspruch auf Rente begründe. Im Gegensatz zu dem Gutachten der II. Medizinischen Klinik der Universität München vom 15. Mai 1956 verneinte das Landessozialgericht den ursächlichen Zusammenhang des Magen- und Darmleidens des Klägers mit dem Wehrdienst. In diesem Gutachten war der Zusammenhang bejaht worden, weil die giftigen Wirkstoffe der chronischen Mittelohreiterung auch auf die Magen- und Darmschleimhaut sich nachteilig ausgewirkt und die Manifestation eines Geschwürleidens begünstigt haben. Das Landessozialgericht folgte der ärztlichen Beurteilung nicht, da sie die wesentliche Tatsache nicht berücksichtige, daß nach dem ohrenfachärztlichen Gutachten der Verschlimmerungsanteil für das Ohrenleiden nur mit 10 % bewertet werden könne. Bei einer derart geringen verschlimmernden Einwirkung des Wehrdienstes auf das Ohrenleiden könne der von der chronischen Mittelohreiterung durch giftige Wirkstoffe herrührenden allgemeinen körperlichen Umstimmung, soweit es sich um rein wehrdiensteigentümliche Einflüsse handle, nicht gleichzeitig auch die Bedeutung einer Verschlechterung des Geschwürleidens beigemessen werden.

Die Rückforderung des Rentenvorschusses in Höhe von DM 260,-- ist nach der Auffassung des Landessozialgerichts gerechtfertigt; die Zahlungen seien von vornherein nur vorschußweise und unter Vorbehalt geleistet worden. Nur wenn diese Vorschüsse dem Kläger unter Umständen gewährt worden wären, die ihren Verbrauch zum Lebensunterhalt unvermeidlich gemacht hätten, könnte der Beklagte die Rückzahlung nicht verlangen. Der Kläger habe sich aber nicht in einer wirtschaftlichen Notlage befunden; denn er sei nach dem Kriege berufstätig gewesen, u.a. auch als Leiter eines Straßenverkehrsamtes. Das Landessozialgericht hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 7. September 1956 zugestellte Urteil Revision eingelegt. Die Revisionsschrift ist am 6. Oktober 1956, die Revisionsbegründung nach Fristverlängerung bis 7. Dezember 1956, am 30. November 1956 beim Bundessozialgericht eingegangen.

Der Kläger beantragte in der mündlichen Verhandlung,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger macht zur Begründung der Revision geltend, das Landessozialgericht habe die Vorschriften über die freie Beweiswürdigung (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) verletzt. Das Fachgutachten der II. Medizinischen Klinik der Universität München vom 15. Mai 1956 habe festgestellt, daß eine Verschlimmerung des Magenleidens mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auf den Wehrdienst zurückgeführt werden müsse. Es habe den verschlimmernden Anteil des Wehrdienstes für das Magenleiden nicht davon abhängig gemacht, ob das Ohrenleiden als Schädigungsfolge anerkannt war. Es habe lediglich festgestellt, daß wegen der bestehenden chronischen Mittelohreiterung die Anfälligkeit des Klägers so erhöht war, daß die Wehrdiensteinflüsse ausreichten, um das bestehende Magenleiden zu verschlimmern. Wenn dagegen das Landessozialgericht ohne genügende medizinische Fachkenntnisse eine Verschlimmerung des Magenleidens abgelehnt habe, überschreite es die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung.

Der Kläger rügt ferner, das Landessozialgericht habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) dadurch verletzt, daß es, wenn es dem Gutachten vom 15. Mai 1956 nicht habe folgen wollen, es unterlassen habe, ein weiteres Fachgutachten einzuholen.

Er rügt außerdem, das Landessozialgericht habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Hierzu führt er aus, nach Art. 1, 2 KBLG, § 1 BVG genüge für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Diese sei nach dem Fachgutachten vom 15. Mai 1956 hinsichtlich der Verschlimmerung des Magenleidens gegeben.

Der Beklagte hat beantragt, die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen. Er ist der Ansicht, daß die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG nicht vorliegen.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Klägers (§ 164 SGG) ist statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat und dieser Mangel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Revision ist daher zulässig.

Bei der Entscheidung der Beweisfrage, ob das Magengeschwürleiden im tatsächlichen Sinne wehrdienstbedingte Schädigungsfolge ist, hat sich das Landessozialgericht darauf beschränkt zu prüfen, ob der im Gutachten der II. Medizinischen Klinik der Universität München vom 15. Mai 1956 ermittelte wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil der chronischen Mittelohreiterung links (MdE. um 10 %) das beim Kläger bestehende Magengeschwürleiden hervorgerufen oder verschlimmert hat. Das Landessozialgericht hat also den ursächlichen Zusammenhang des Magengeschwürleidens nur unter dem Gesichtspunkt beurteilt, ob das Magengeschwürleiden mittelbare Schädigungsfolge des als Versorgungsleiden im Sinne der Verschlimmerung anerkannten Ohrenleidens ist. Damit hat es aber den medizinischen Sachverhalt nur zum Teil gewürdigt. Da nach der Feststellung des Landessozialgerichts das Magengeschwürleiden noch während der Wehrdienstzeit begonnen hat, hätte das Landessozialgericht auch prüfen müssen, ob und mit welchem Anteil die Belastungen der Wehrdienstzeit unmittelbar die Entstehung oder Verschlimmerung des Magengeschwürleidens beeinflußt haben. Diese Frage ist im tatsächlichen Sinne von dem Universitätsgutachten vom 15. Mai 1956 mit der Begründung bejaht worden, daß ein Verschlimmerungsanteil deshalb anzuerkennen sei, weil die durchschnittlichen Belastungen des Wehrdienstes auf eine Person eingewirkt haben, welche in ihrer körperlichen Widerstandskraft durch das chronische Ohrenleiden "umgestimmt", d.h. beeinträchtigt war. Dadurch, daß das Landessozialgericht es unterlassen hat, unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Einwirkung aller wehrdienstlichen Einflüsse auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Magengeschwürleidens den ursächlichen Zusammenhang zu prüfen, hat es verkannt, daß zu den für die Beurteilung maßgebenden Umständen auch die allgemeinen Belastungen des Wehrdienstes rechnen, welche unmittelbar auf die Gesundheit des Klägers eingewirkt haben. Das Landessozialgericht hat insbesondere trotz der Hinweise in dem Gutachten vom 15. Mai 1956 nicht berücksichtigt, daß der Kläger den Belastungen des Wehrdienstes ausgesetzt war als ein Mann, der mit beschränkter Verwendungsfähigkeit eingezogen und in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft geschwächt war. Den Kläger konnten in rechtlich erheblicher Weise auch solche schädigende Ereignisse in seiner Gesundheit beeinträchtigen, für die ein gesunder Soldat unempfänglich ist (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (1954) Nr. 7). Da das Landessozialgericht nicht geprüft hat, ob der Wehrdienst unmittelbar das Magengeschwürleiden begünstigt und damit ursächlich beeinflußt hat, hat es versäumt, den ursächlichen Zusammenhang unter einem für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Durch diese Unterlassung hat das Landessozialgericht die gesetzliche Vorschrift verletzt, auf Grund des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Verletzung der Vorschriften über das Recht der freien Beweiswürdigung begründet einen wesentlichen Mangel des Verfahrens (SozR. SGG § 128 Bl. Da 3 Nr. 8). Das angefochtene Urteil beruht auf diesem Mangel (§ 162 Abs. 2 SGG), da es nicht ausgeschlossen ist, daß das Landessozialgericht den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst des Klägers und seinem Magen und Darmleiden im tatsächlichen Sinne bejaht und daher im Ergebnis anders entschieden hätte, wenn es § 128 SGG zutreffend angewandt hätte (BSG. 2, 197 [201]). Die Revision ist daher auch begründet.

Das angefochtene Urteil war gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die Feststellung des Landessozialgerichts über den Ursachenzusammenhang im tatsächlichen Sinne nach § 163 SGG nicht verwertbar ist. Ohne diese Feststellung kann die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Wehrdienst und Magengeschwürleiden nicht entschieden werden. Auf diese Feststellung kommt es aber bei der Entscheidung an. Der Rechtsstreit war daher an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Bei der erneuten Entscheidung wird das Landessozialgericht das gesamte Verhandlungsergebnis für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Magengeschwürleidens mit dem Wehrdienst heranzuziehen haben. Es wird dabei auch nicht an der gutachtlichen Äußerung vorübergehen können, daß das Magengeschwürleiden in Schüben verläuft und daß nur diejenigen wehrdienstlichen belastenden Vorgänge als Ursache oder Mitursache in Betracht kommen können, welche in dem Zeitpunkt noch wirksam waren, von dem an frühestens der Versorgungsanspruch beginnt.

Falls das Landessozialgericht den Rentenanspruch für unbegründet hält, wird es bei der Entscheidung über die Rückforderung von Versorgungsbezügen zu berücksichtigen haben, daß § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202) (VerwVG) anzuwenden ist. Dessen Absatz 1 bis 3 wirkt nach § 51 VerwVG auf alle am 1. April 1955 anhängigen Rechtsstreitigkeiten zurück (BSG. 3, 234; SozR. Verwaltungsverfahrensgesetz § 47 Bl. Ca 2 Nr. 3).

Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2314051

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