Leitsatz (amtlich)

Der deutsche Rentenversicherungsträger hat die in der Freien Stadt Danzig in den Jahren 1937/38 zurückgelegte Zeit eines entlohnten Arbeitsverhältnisses mit einer glaubhaft gemachten, aber nicht nachgewiesenen Beitragsentrichtung nach dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen vom 9.10.1975 - entsprechend dem polnischen Recht - ungekürzt zu berücksichtigen.

 

Normenkette

RV/UVAbk POL Art. 4 Fassung: 1975-10-09, Art. 5 Fassung: 1975-10-09; RV/UVAbkPOLG Art. 2 Fassung: 1976-03-12

 

Verfahrensgang

SG Hildesheim (Entscheidung vom 30.04.1980; Aktenzeichen S 9 An 136/78)

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 10.07.1981; Aktenzeichen L 1 An 83/80)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Zeit einer Beschäftigung des Klägers in Danzig vom 15. Juni 1937 bis zum 30. September 1938 bei der Rentenberechnung ungekürzt zu berücksichtigen ist.

Der Kläger bezieht Altersruhegeld. Dieses hatte die Beklagte zunächst nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes (FGR) berechnet und dabei die streitige Zeit, da eine Beitragsentrichtung zwar glaubhaft gemacht, aber nicht nachgewiesen sei (§ 19 Abs 2 FRG), nur gekürzt (zu fünf Sechstel) als Beitragszeit angerechnet. Im angefochtenen Bescheid stellte die Beklagte das Altersruhegeld für die Zeit ab 1. August 1978 unter Berücksichtigung des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 9. Oktober 1975 ( DPSVA ) neu fest; für die streitigen Danziger Zeiten verblieb es bei der Kürzung, weil diese vom Abkommen nicht erfaßt würden (Bescheid vom 16. Oktober 1978). Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 30. April 1980); das Landessozialgericht hat die Beklagte zur ungekürzten Anrechnung verurteilt. Das LSG meint, unter Versicherungs-, Beschäftigungs- und gleichgestellten Zeiten "im anderen Staat" im Sinne des Art 4 Abs 2 des DPSVA seien solche Zeiten zu verstehen, die im anderen Staat nach dem Gebietsstand zur Zeit des Vertragsabschlusses zurückgelegt seien. Das Abkommen behandele die von Polen übernommenen Gebiete des Deutschen Reiches als zur Volksrepublik Polen gehörend, ohne die völkerrechtliche Zugehörigkeit dieser Gebiete anzusprechen. Die Auffassung der Beklagten, die polnische Abkommenszeit umfasse nur Zeiten, die jeweils unter der Geltung polnischen Sozialversicherungsrechts oder in zum jeweiligen polnischen Staatsgebiet gehörenden Orten zurückgelegt seien, komme im Text des Art 4 Abs 2 des Abkommens nicht zum Ausdruck. Nach Art 2 Abs 2 des Zustimmungsgesetzes vom 12. März 1 1976 seien zwar polnische Zeiten, für die Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden sind, nicht zu berücksichtigen; hierzu seien jedoch die zur Rentenversicherung der früheren Freien Stadt Danzig entrichteten Beiträge nicht zu rechnen. Die Zeit der Beschäftigung des Klägers "im entlohnten Arbeitsverhältnis" in Danzig sei nach polnischem Recht ungekürzt anzurechnen. Die Einschränkung im polnischen Recht, daß Beschäftigungszeiten in der Freien Stadt Danzig wie in den wiedergewonnenen Gebieten bei der Feststellung des Rentenanspruchs nach polnischem Recht nur für Personen mit Wohnsitz in Polen berücksichtigt werden, rechtfertige es nicht, die Voraussetzungen des Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes zu verneinen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, nach Sinn und Zweck des DPSVA seien die Worte "im anderen Staat" in Art 4 Abs 2 DPSVA nicht ausschließlich unter territorialen Gesichtspunkten auszulegen. Die Formulierung umfasse nicht Beschäftigungszeiten, die im heutigen Staatsgebiet der Volksrepublik Polen früher unter Geltung der reichsgesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt worden seien. Im Hinblick auf die geschichtliche Verknüpfung Danzigs mit dem Deutschen Reich müßte dies auch für Versicherungszeiten bei den Versicherungsträgern der Freien Stadt Danzig gelten. Damit will die Beklagte, wie in der mündlichen Verhandlung klargestellt, nicht das Vorliegen einer Abkommenszeit bestreiten, sondern deren Verdrängung nach Art 2 Abs 2 letzter Halbsatz des Zustimmungsgesetzes rechtfertigen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des

Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim

zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, für Bezugszeiten ab 1. August 1978 die streitige Danziger Beschäftigungszeit ungekürzt zu berücksichtigen.

1. Das ergibt sich aus dem DPSVA vom 9. Oktober 1975, das durch Gesetz vom 12. März 1976 (BGBl 1976 II, 393) ratifiziert und am 1. Mai 1976 laut Bekanntmachung vom 31. März 1976 (BGBl 1976 II 463) in Kraft

getreten ist, iVm Art 2 des Zustimmungsgesetzes.

Nach Art 4 Abs 2 des DPSVA hat der Rentenversicherungsträger des

Wohnlandes Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen

gleichgestellte Zeiten im anderen Staat bei Feststellung der Rente

nach den für ihn geltenden Vorschriften so zu berücksichtigen, als ob

sie im Gebiet des Wohnlandes zurückgelegt worden wären.

Hierzu bestimmt Art 2 des Zustimmungsgesetzes, daß Zeiten, die nach

dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind,

gemäß Art 4 Abs 2 des Abkommens in demselben zeitlichen Umfang in der

deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung

des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu

berücksichtigen sind, solange der Berechtigte im Geltungsbereich

dieses Gesetzes wohnt (Abs 1); soweit sich Zeiten nach Abs 1 mit

Zeiten überschneiden, die nach deutschem Recht zu berücksichtigen

sind, werden die erstgenannten Zeiten berücksichtigt; dies gilt nicht

für Zeiten, für die Beiträge zur deutschen gesetzlichen

Rentenversicherung entrichtet worden sind (Abs 2).

2. Die streitige Danziger Zeit gehört aus der Sicht der Beklagten als

Versicherungsträger des Wohnlandes zu den Zeiten "im anderen Staat".

Denn das DPSVA rechnet die unter polnischer Verwaltung stehenden

deutschen Ostgebiete und damit auch Danzig in Ansehung des Abkommens

zum Gebiet der Volksrepublik Polen, ohne über die völkerrechtliche

Zuordnung im übrigen zu entscheiden (BSGE 42, 249; vgl auch BVerfG

SozR 2200 § 1318 Nr 5). Die Abkommensbestimmung stellt auch für

zurückliegende Zeiten allein auf den Gebietsstand bei

Vertragsschluß ab. Die Vertragschließenden waren sich der

Gebietsveränderungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, deren

Auswirkungen auf die Sozialversicherung der Vertrag gerade regeln

sollte (vgl Denkschrift zum Abkommen und zur Vereinbarung unter A I

Abs 1), durchaus bewußt. Dennoch findet sich weder in Art 4 Abs 2 DPSVA noch an anderer Stelle ein Hinweis darauf, daß "Zeiten im

jeweiligen Gebiet des anderen Staates" gemeint seien (vgl Denkschrift

unter A II zu Art 2 und zu Art 4). Im übrigen steht einem

Zurückgehen auf frühere Gebietsstände auch entgegen, daß dem Abkommen

nur eine Einigung über den Gebietsstand bei Abschluß des Abkommens in

Ansehung des Abkommens entnommen werden kann, nicht aber eine

Einigung über frühere Gebietsveränderungen.

Ob un in welchem Umfang eine Zeit im anderen Staat als

Versicherungszeit, Beschäftigungszeit oder diesen gleichgestellte

Zeit sozialversicherungsrechtlich relevant ist, bestimmt sich gem Art

4 Abs 2 des DPSVA nach dem Recht des anderen Staates, wie dies in Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes verdeutlicht wird. Das LSG hat zu der

damit gebotenen Anwendung des nicht revisiblen (§ 162

Sozialgerichtsgesetz -SGG-) polnischen Rechte entschieden, daß die

streitige Zeit einer Beschäftigung auf dem Gebiet der früheren

Freien Stadt Danzig "für Personen, die ihren Wohnsitz in Polen haben",

(ungekürzt) Beschäftigungszeit sei. Das reicht für die Anwendung des

Art 4 Abs 2 des DPSVA . Der in Art 5 des Abkommens für den Fall der

Übersiedlung getroffenen Regelung, aber auch dem dem Abkommen

zugrundeliegenden Eingliederungsgedanken ist zu entnehmen, daß eine

im bisherigen Wohnland zurückgelegte Versicherungs-, Beschäftigungs-

bzw gleichgestellte Zeit im gleichen zeitlichen Umfang, wie sie im

früheren Wohnland bei dortigem Wohnsitz zu berücksichtigen war,

nunmehr im neuen Wohnland berücksichtigt werden soll. Das bestätigt

ferner Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes, der für die nach dem

polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigenden Zeiten

die Berücksichtigung in demselben zeitlichen Umfang verlangt, ohne die

Zeiten auszunehmen, die nach polnischem Recht lediglich bei einem

Wohnsitz in Polen berücksichtigt werden können. Die streitige Zeit

ist daher nach Art 4 Abs 2 des DPSVA als polnische Abkommenszeit voll anrechenbar. Das wird von der Revision der Beklagten, wie in der

mündlichen Verhandlung klargestellt, auch nicht mehr angezweifelt.

3. Der Ansicht der Revision, die Zeit sei gleichwohl nach Art 2 Abs 2 des

Zustimmungsgesetzes vom deutschen Rentenversicherungsträger nicht zu

berücksichtigen, vermochte der Senat nicht zuzustimmen. Für die

streitige Zeit sind keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung

entrichtet, wie dies die angeführte Vorschrift voraussetzt. Danzig

ist mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages - 10. Januar 1920 -

aus dem Verband des Deutschen Reiches ausgeschieden und als Freie

Stadt Danzig staats- und völkerrechtlich ein selbständiges Gebiet

geworden. Erst zum 1. Januar 1940 wurde die Danziger Versicherung auf

die reichsgesetzliche Sozialversicherung übergeleitet (Verordnung

-VO- vom 22. Januar 1940 RGBl I 260). Dementsprechend erfolgte die

glaubhaft gemachte Beitragsentrichtung für die Zeit von Juni 1937

bis September 1938 zur Danziger Sozialversicherung.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ergeben auch die §§ 17 und 15 FRG

nicht, daß die Beiträge zur Danziger Versicherung als Beiträge zur

deutschen Rentenversicherung gelten. In § 17 Abs 1 FRG ist lediglich

angeordnet, daß § 15 auch auf Personen Anwendung findet, die nicht

zum Personenkreis des § 1 Buchstaben a - d gehören, wenn die Beiträge

entrichtet sind an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen

Rentenversicherung und ein deutscher Träger der gesetzlichen

Rentenversicherung sie bei Eintritt des Versicherungsfalles wie nach

den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete

Beiträge zu behandeln hatte. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift

sind erfüllt. Die nach Danziger Recht erworbenen Leistungen und

Anwartschaften waren nach näherer Vorschrift der angeführten VO vom

22. Januar 1940 von den Trägern der Reichsversicherung zu übernehmen.

Die Aufhebung dieser VO durch das FANG steht der Anwendung des § 17

FRG nicht entgegen, wie die dort gewählte Zeitform (hatte) zeigt.

In dem damit anwendbaren § 15 FRG sind jedoch lediglich,

Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen oder nach dem

30. Juni 1945 bei einem außerhalb des Geltungsbereichs dieses

Gesetzes befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen

Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht

zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt. Das ist keine

Gleichstellung mit einer Beitragsentrichtung zu einem deutschen

Rentenversicherungsträger.

Im übrigen könnte die auf fünf Sechstel gekürzte anerkannte

Beitragszeit auch nur in diesem zeitlichen Umfang die polnische

Abkommenszeit verdrängen. Die Beklagte übersieht, daß Art 2 Abs 2 des

Zustimmungsgesetzes mit den Worten beginnt: "Soweit sich Zeiten nach

Abs 1 mit Zeiten überschneiden, die nach deutschem Recht zu

berücksichtigen sind"; eine hiervon abweichende erweiternde Auslegung

wäre mit dem DPSVA nicht zu vereinbaren, weil dieses gerade im jeweils anderen Staat die zeitlich gleiche Anrechnung will.

4. Schließlich kann auch der Einwand der Beklagten keine andere

Entscheidung rechtfertigen, daß die für eine nach Reichsrecht

versicherte Beschäftigung in Art 2 Abs 2 2. Halbsatz des

Zustimmungsgesetzes getroffene Regelung entsprechend auf jede

Beschäftigung anzuwenden sei, deren Versicherungspflicht sich nach

Reichsrecht richtete, was wiederum entsprechend für eine nach Danzig

Recht zu beurteilende Beschäftigung gelten müsse. Die Beklagte meint,

es könne vom Zustimmungsgesetz nicht gewollt sein, daß eine nach

Reichsrecht zurückgelegte nicht versicherungspflichtige Beschäftigung

dann als Beschäftigungszeit zu berücksichtigen sei, wenn der

Beschäftigungsort in dem heute polnischen Gebiet liege.

Die Frage einer entsprechenden Anwendung auf versicherungsrechtlich

nach Reichsrecht zu beurteilende Beschäftigungen hat der Senat hier

nicht zu entscheiden. Selbst wenn - was zweifelhaft ist - der

Anwendungsbereich der in Art 2 Abs 2 2. Halbsatz des

Zustimmungsgesetzes geregelten Ausnahme in diesem Umfang erweitert

werden könnte, erschiene eine nochmalige Erweiterung auf das Danziger

Recht nicht gerechtfertigt. Zwar galten zunächst die

reichsgesetzlichen Vorschriften als Gesetze der Freien Stadt Danzig

weiter; Danzig übernahm auch bis Ende 1923 jeweils das materielle

Recht der deutschen Sozialversicherung (vgl BSGE 33, 123, 125 und

126); gleichwohl ist wegen der staatsrechtlichen Selbständigkeit der

Freien Stadt Danzig ein Vergleich mit der derzeitigen Geltung von

Bundesrecht in Berlin ausgeschlossen. Es kann deshalb dahinstehen,

inwieweit sich das Danziger Sozialversicherungsrecht z Zt der

Beschäftigung ab 1937 vom Reichsrecht unterschied. Jedenfalls

schließt die staatsrechtliche Selbständigkeit der Freien Stadt Danzig

nicht nur eine Gleichstellung von Danziger Beiträgen mit Beiträgen

zur deutschen Rentenversicherung, sondern auch eine Gleichstellung

von Beitragszeiten unter Danziger Recht mit solchen unter Reichsrecht

aus.

Der Senat braucht daher nicht auf die Frage einzugehen, ob eine

Regelung des deutschen Gesetzgebers, die zu den polnischen

Abkommenszeiten gehörenden Danziger Zeiten auch ohne

Beitragsentrichtung zur deutschen Rentenversicherung unberücksichtigt

zu lassen, gegen das Abkommen verstoßen würde.

Die Revision der Beklagten war mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 51

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