Leitsatz (amtlich)

Die Zeit zwischen dem Ende einer Fachschulausbildung und dem Beginn einer versicherungspflichtigen Lehrzeit kann auch nicht in erweiternder Auslegung des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 AVG (= § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 RVO) als Ausfallzeit angesehen werden.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Wertung eines kurzen Zeitraumes zwischen zwei Ausbildungsabschnitten als Ausfallzeit setzt voraus, daß die beiden Ausbildungen selbst als Ausfallzeit iS des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG anerkennungsfähig sind.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.09.1981; Aktenzeichen L 13 An 19/81)

SG Augsburg (Entscheidung vom 03.12.1980; Aktenzeichen S 13 An 71/80)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung des Monats August 1970 als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG).

Die Klägerin besuchte bis Juli 1969 die höhere Schule und sodann bis zum 31. Juli 1970 den Vorkurs an der Deutschen Meisterschule für Mode. Im August 1970 nahm sie an einem Sprachkurs in England teil. Am 1. September 1970 begann sie die Lehrzeit im Damenschneiderhandwerk und legte am 27. September 1971 die Gesellenprüfung ab.

Mit der Begründung, der Sprachkurs in England sei kein Fachschulbesuch, lehnte es die Beklagte ab, außer dem Kurs an der Meisterschule auch den Monat August 1970 als Ausfallzeit vorzumerken. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat seine Entscheidung damit begründet, daß es sich bei dem streitigen Monat zwar um eine Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten handele, daß jedoch der zweite Abschnitt keine Ausfallzeit, sondern eine Beitragszeit sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, für die hier streitige Zeit könne nichts anderes gelten als für sonstige unvermeidliche Zwischenzeiten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten. Da der Beginn der Lehrzeit zum 1. September 1970 festgestanden habe, sei ihr nicht zuzumuten gewesen, für einen Monat eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen.

Die Klägerin beantragt,

die angefochtenen Vorentscheidungen aufzuheben

und die Beklagte zur Vormerkung des Monats August 1970

als Ausfallzeit zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet, die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung des Monats August 1970 als Ausfallzeit.

Nach § 36 Abs 1 AVG sind Ausfallzeiten nur die Zeiten, in denen die dort bezeichneten Tatbestandsmerkmale erfüllt sind; die unverschuldete Nichtentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung reicht danach in keinem Falle aus. Die hier streitige Nummer 4 wertet zu Ausfallzeiten die "Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden a) abgeschlossenen, nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit, b) einer weiteren Schulausbildung oder einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung". Der Monat August 1970 fällt weder unter Buchst a) noch unter Buchst b). Er ist eine Lehrzeit iS des Buchst a) schon deswegen nicht, weil sich die Klägerin damals in keiner Lehre befand; davon abgesehen kann Buchst a) überhaupt nur Lehrzeiten vor dem 7. September 1949 erfassen (Urteil des Senats vom 16. Juni 1982 - 11 RA 68/81 -), weil seitdem die Lehrzeiten stets versicherungspflichtig sind; dementsprechend hat die am 1. September 1970 begonnene Lehrzeit der Klägerin eine Beitragszeit begründet. Bei den Tatbeständen des Buchst b) wäre allenfalls zu fragen, ob der Sprachkurs in England - was das LSG nicht erkennbar geprüft hat - eine Fachschulausbildung darstellt. Das ist jedoch unzweifelhaft zu verneinen. Es ist schon nicht ersichtlich, daß dieser Kurs eine fachliche Ausbildung zum Ziele hatte und nicht lediglich der (sprachlichen) Allgemeinausbildung diente. Zudem kommen, wie der Senat in seinem Urteil vom 16. Juni 1982 - 11 RA 56/81 - näher ausgeführt hat, Lehrgänge mit einer Dauer von weniger als 6 Monaten nur dann als Fachschulausbildung in Betracht, wenn die Gesamtstundenzahl mindestens 600 beträgt; diesem Erfordernis kann bei einem Monatskurs offensichtlich nicht genügt sein.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat allerdings, losgelöst vom Gesetzeswortlaut und wohl in entsprechender Anwendung oder Ergänzung des Gesetzes, als "Ausfallzeit iS von § 36 Abs 1 Nr 4 AVG" auch die Zeit angesehen, die zwischen der Schulentlassung des Abiturienten und dem zum nächstmöglichen Termin aufgenommenen - später abgeschlossenen - Hochschulstudium liegt, soweit mit den Zeiten der (bis zu 4 Jahren anrechenbaren) Schulausbildung und der (bis zu 5 Jahren anrechenbaren) Hochschulausbildung die anrechenbare "Höchstdauer von 9 Jahren" nicht erreicht wird (BSGE 24, 241); das gleiche geschah bei zwischenzeitlicher Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst für die Zeit zwischen Schulentlassung und Einberufung, wenn ihretwegen die Aufnahme der Hochschulausbildung erst nach der Dienstleistung möglich war und dann zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgte (SozR 2200 § 1259 Nr 51; vgl in diesem Zusammenhang auch Nr 34). Zu Unrecht will die Klägerin diese Rechtsprechung auch in ihrem Fall angewandt wissen.

Wenn die Rechtsprechung die genannten Zeiten, obwohl in ihnen die Tatbestandsmerkmale des § 36 Abs 1 Nr 4 AVG nicht erfüllt sind, gleichwohl als Ausfallzeiten anerkannt hat, so beruhte dies darauf, daß es sich um einen kurzen, häufigen und ferner typischen Zeitabschnitt zwischen zwei anrechenbaren Ausbildungs- und Ausfallzeiten handelt; in einem solchen Fall wurde die Schul- und die Hochschulausbildung als eine einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung und die unvermeidliche Zwischenzeit als Schul- und Semesterferien gleichstehend erachtet (BSGE aaO Seite 242). Von diesen Erwägungen mögen zwar einzelne auf den vorliegenden Fall übertragbar sein. Das LSG hat es jedoch zu Recht für entscheidend angesehen, daß hier der streitige Monat August 1970 anders als in den vorgenannten Fällen nicht zwischen zwei anrechenbare Ausfallzeiten fällt. Erst die gemeinsame Umschließung durch Ausfallzeiten iS des § 36 Abs 1 Nr 4 AVG konnte es aber letztlich rechtfertigen, auch die unvermeidliche Zwischenzeit an dem beiderseits gleichen Rechtscharakter der vorangehenden und der nachfolgenden Zeit teilnehmen zu lassen. Auch nur unter dieser Voraussetzung hat die Rechtsprechung deshalb die anrechenbare Höchstdauer für die Schulausbildung von 4 Jahren und die anrechenbare Höchstdauer für die Hochschulausbildung von 5 Jahren zusammenrechnen und für die Schulausbildung, die Zwischenzeit und die Hochschulausbildung eine anrechenbare Gesamthöchstdauer von 9 Jahren zugrunde legen können. Es erscheint darum nicht zulässig, § 36 Abs 1 Nr 4 AVG darüber hinaus auf die Fälle zu erstrecken, in denen eine Zeit zwar von Ausbildungszeiten umschlossen wird, die vorherige und die nachfolgende Ausbildungszeit jedoch nicht gleichermaßen den Rechtscharakter von Ausfallzeiten haben. So war dies aber im vorliegenden Falle; hier ist nur die vorhergehende Zeit als Fachschulausbildung eine Ausfallzeit, die nachfolgende Zeit dagegen eine Beitragszeit.

Aber auch vom Rechtscharakter der nachfolgenden Zeit abgesehen, ist der hier gegebene Fall mit dem Sachverhalt in den früheren Urteilen des BSG nicht zureichend vergleichbar. Es mag zwar - insbesondere im Hinblick auf die Arbeitsmarktlage - häufig nicht möglich sein, in unmittelbarem Anschluß an eine Schul- oder Fachschulausbildung eine Lehre anzutreten; doch fehlt es dann an jener durch die Organisation des Unterrichtswesens bedingten Typizität, die die Unterbrechung des Ausbildungsganges beim Übertritt von der allgemeinbildenden Schule auf eine Hochschule (bzw Fachschule) kennzeichnet und als für alle Betroffene in gleicher Weise unvermeidlich erscheinen läßt. Es fehlt auch an einem notwendigen, eine Einheit begründenden Zusammenhang zwischen Schule und Lehre. Im Verhältnis zwischen Schulausbildung und Hochschulausbildung wird dieser Zusammenhang dadurch hergestellt, daß die Aufnahme des Studiums das Bestehen der Reifeprüfung, die regelmäßig nur nach einem entsprechenden Schulbesuch abgelegt werden kann, zwingend voraussetzt, während hier jedenfalls rechtlich eine solche Verknüpfung von Fachschulausbildung und Lehre nicht gegeben ist.

Die Klägerin ist somit nicht anders zu behandeln als andere Versicherte, die ebenfalls nicht unmittelbar im Anschluß an eine Ausbildungszeit, sondern erst nach einer Zwischenzeit Beitragszeiten erwerben; sie erhalten durchweg keine Ausfallzeiten, selbst wenn sie an dem Beitragsausfall in der Zwischenzeit kein Verschulden tragen. Da die Lehrzeiten seit längerem Beitragszeiten sind, tritt nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein Versicherter schon mit einer versicherungspflichtigen Lehrzeit ebenfalls in das Arbeitsleben ein; er muß daher folgerichtig denen gleichstehen, die nach dem Ende der Schulzeit eine nicht der Ausbildung dienende Beschäftigung aufnehmen möchten, aber nicht sogleich einen Arbeitsplatz finden.

Da sich nach alledem das angefochtene Urteil als zutreffend erweist, war die Revision mit der sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 SGG).

 

Fundstellen

Breith. 1983, 140

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