Leitsatz (amtlich)

Die Bedürftigkeit im Sinne des BVG § 50 Abs 2 richtet sich nach den persönlichen Eigenschaften (Gebrechlichkeit, Lebensalter) und nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Berechtigten. Bedürftig ist nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, wer weder eigenes Einkommen noch einen Unterhaltsanspruch in Höhe der Einkommensgrenzen des BVG § 51 Abs 2 hat. Ein Unterhaltsanspruch ist dabei nur insoweit zu berücksichtigen, als er verwirklicht, das heißt nach den Vorschriften zum Schutze des Schuldners in der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden kann.

Bei nur einem versorgungsberechtigten Elternteil richtet sich die Bedürftigkeit nur nach seinem Einkommen und nach seinen Unterhaltsansprüchen.

 

Normenkette

BVG § 50 Abs. 2, § 51 Abs. 2

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1954 wird mit den ihm zugrunde liegen den Feststellungen insoweit aufgehoben, als über den Anspruch der Klägerin auf Rente für die Zeit vom 1. Oktober 1950 an entschieden ist.

Der Rechtsstreit wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der einzige Sohn der Klägerin aus ihrer ersten Ehe ist seit dem 22. Februar 1943 als Soldat in Rußland vermißt. Seit dem Jahre 1939 ist die Klägerin in zweiter Ehe verheiratet. Als Hinterbliebene ihres verschollenen Sohnes beantragte sie am 11. November 1950, ihr Versorgung auf Grund des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (Berliner KVG) zu gewähren. Das Versorgungsamt (VersorgA.) II B lehnte mit Bescheid vom 18. März 1952 den Anspruch auf Elternrente ab, weil der Ehemann der Klägerin Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) in Höhe von monatlich DM 117,- beziehe und deshalb die gesetzliche Einkommensgrenze (§ 23 Berliner KVG, § 51 Bundesversorgungsgesetz - BVG -) überschritten sei. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Berlin wies mit Entscheidung vom 11. Februar 1953 den Einspruch aus dem gleichen Grunde zurück, bemerkte aber hierbei, daß das VersorgA. wegen der Erhöhung der Einkommensgrenze prüfen werde, ob vom 1. April 1952 ab ein Anspruch auf Elternrente bestehe. Das VersorgA. II B stellte darauf unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung gemäß der zwischenzeitlichen Änderung des BVG durch Bescheid vom 16. Dezember 1953 eine Elternrente fest, und zwar für April 1952 in Höhe von DM 18,-, für Mai 1952 in Höhe von DM 20,- und für die Zeit ab 1. August 1953 bis auf weiteres in Höhe von monatlich DM 5,-.

Auf die Klage der Klägerin, mit der sie Aufhebung der Entscheidung des LVersorgA. Berlin vom 11. Februar 1953 und Gewährung einer höheren Elternrente verlangte, verurteilte das Sozialgericht (SG.) Berlin den Beklagten durch Urteil vom 10. Mai 1954, der Klägerin eine Elternrente in Höhe der Hälfte der einem Elternpaar zustehenden Elternrente zu gewähren und bei der Berechnung die Alfu des Ehemannes der Klägerin außer Ansatz zu lassen. Das SG. führte aus, daß bei einem Ehepaar auch dann, wenn nur ein Ehegatte Elternteil eines Gefallenen oder Vermißten ist, "die Maßstäbe für ein Elternpaar" anzulegen seien, daß aber eine "Aufschlüsselung der Elternrente" nur in der Weise möglich sei, "daß jedem Partner der elterlichen Ehegemeinschaft die Hälfte zur Deckung seines Lebensbedarfs zusteht". Wenn ein Elternteil einen neuen Ehepartner gewählt habe, könne ihm deswegen keine höhere Rente zustehen. Bei der Berechnung sei die Alfu als Fürsorgeleistung außer Ansatz zu lassen.

Das Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 16. Dezember 1954 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Auf die Anschlußberufung der Klägerin hat es das Urteil des SG. Berlin vom 10. Mai 1954 abgeändert und den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 1. Juli 1950 bis 31. Juli 1954 die volle Elternrente zu gewähren - mit Ausnahme des Monats Mai 1952, für den der Klägerin nur DM 36,- Elternrente zu zahlen sind - und ab 1. August 1954 Elternrente unter Berücksichtigung des Ruhegehalts ihres jetzigen Ehemannes als sonstiges Einkommen zu zahlen. Die entgegenstehenden Bescheide der Versorgungsbehörden wurden aufgehoben.

Das LSG. stellte fest, daß der Ehemann der Klägerin vom 1. Juli 1950 bis 30. November 1950 Arbeitslosenunterstützung (Alu) und dann mit einer kurzen Unterbrechung im April/Mai 1952 bis 31. Juli 1954 Alfu bezog. Mit diesen Unterstützungen, deren Monatsbeträge zwischen DM 117,25 und DM 131,50 lagen, sei es dem Ehemann nicht möglich gewesen, ausreichend für seine Ehefrau zu sorgen. Das LSG. hat aus den §§ 50 und 51 BVG gefolgert, daß kein Anlaß bestehe, einen Elternteil, der sich wieder verheiratet hat, anders zu versorgen als einen Elternteil, der allein geblieben ist. Deshalb stehe der Klägerin die Elternrente für einen Elternteil zu. Dagegen seien die für Elternpaare festgesetzten Einkommensgrenzen maßgebend. Die Alfu des Ehemannes der Klägerin sei nicht als "sonstiges Einkommen" anzurechnen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 29. Januar 1955 zugestellte Urteil des LSG. hat der Beklagte Revision eingelegt. Die Revisionsschrift ist am 23. Februar 1955 und die Revisionsbegründungsschrift am 11. März 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen.

Der Beklagte hat beantragt,

das Urteil des LSG. Berlin vom 16. Dezember 1954 aufzuheben und unter Abänderung des Urteils des SG. Berlin vom 10. Mai 1954 die Klage abzuweisen.

Er macht mit seiner Revision geltend, daß das LSG. die §§ 50 und 51 BVG verletzt habe. Er ist der Ansicht, die Alfu des nichtrentenberechtigten Ehemannes sei gegenüber der Elternrente des rentenberechtigten Ehegatten nicht subsidiär. Die Alfu werde nämlich dem Arbeitslosen unabhängig von der Gewährung der Elternrente an den anderen Ehegatten weitergewährt. Der dem Empfänger von Alfu für Einkommen von Familienangehörigen gewährte Freibetrag schließe eine Anrechnung der Elternrente im Ergebnis aus. Der Beklagte ist weiterhin der Ansicht, daß gemäß Nr. 5 Abs. 4 der Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 50 BVG vom Einkommen beider Ehegatten auszugehen sei, auch wenn nur ein Elternteil Anspruch auf Elternrente hat. Er führt dazu aus, daß diese Ansicht ihre Rechtfertigung im Unterhaltsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) finde. Der Ehefrau stehe nicht ein bestimmter Teil des Einkommens ihres Ehemannes zu, vielmehr habe der Ehemann sein Einkommen für die Bestreitung des gemeinschaftlichen Lebensunterhalts zu verwenden und mit der Ehefrau zu teilen. Schließlich macht der Beklagte geltend, daß die Verurteilung zur Zahlung von Elternrente für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1950 nach den Vorschriften des Berliner KVG unzulässig sei, da die Elternrente nach diesem Gesetz eine Kannleistung sei.

Die Klägerin hat beantragt,

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG. Berlin vom 16. Dezember 1954 als unbegründet zurückzuweisen und die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens dem Beklagten aufzuerlegen.

Sie hat zur Begründung ihres Antrags im wesentlichen die Begründung des angefochtenen Urteils, das sie für richtig hält, wiederholt.

Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und fristgerecht begründet worden (§ 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist infolge ihrer Zulassung durch das LSG. statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und daher zulässig (§ 169 Abs. 1 SGG). Die Revision ist auch begründet, abgesehen von dem Teil, der sich gegen die Verurteilung des Beklagten für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 richtet.

Der sachlich-rechtlichen Würdigung des Streits stand kein Hindernis entgegen, da die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen, insbesondere die Zulässigkeit des Klage- und Berufungsverfahrens, die das Revisionsgericht zunächst von Amts wegen zu prüfen hat (BSG. 1, 227 (230), BSG. 2, 225 und BSG. 2, 245) vorliegen. In dieser Beziehung bestanden insoweit keine Bedenken, als das LSG. die Berufung und die Anschlußberufung für zulässig gehalten hat. Ein Grund, der die Berufung ausschloß, lag nicht vor. Die unselbständige Anschlußberufung der Klägerin war statthaft. Der erkennende Senat schließt sich insoweit der im Urteil des 4. Senats vom 1. März 1956 (BSG. 2, 229 (231 ff.) vertretenen Auffassung an, daß eine unselbständige Anschlußberufung auch im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 521 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) statthaft ist. Da die Klägerin die im § 151 Abs. 1 SGG vorgeschriebene Form für die Anschlußberufung beobachtete, war auch diese zulässig.

Die Revision ist nur insoweit unbegründet, als das LSG. der verbundenen Aufhebungs- und Leistungsklage für den zeitlichen Geltungsbereich des Berliner KVG stattgegeben hat. Auf eine Verletzung der sachlich-rechtlichen Vorschriften dieses Gesetzes kann der Beklagte die Revision nicht stützen (§ 162 Abs. 2 SGG), da das Berliner KVG nicht revisibles Recht ist (BSG. 2, 106 (109)). Im übrigen ist die Revision des Beklagten begründet, nämlich insoweit, als das LSG. über den Anspruch der Klägerin auf Rente für die Zeit nach dem 1. Oktober 1950 nach den Vorschriften des BVG entschieden hat.

Der Anspruch der Kläger auf Elternrente nach § 50 Abs. 1 i. V. § 52 Abs. 1 BVG, das in Berlin als revisibles Landesrecht gilt (BSG. 1, 98 (100)), hängt davon ab, daß ihr verschollener Sohn ihr Ernährer gewesen ist oder geworden wäre. Das LSG. hat zwar in seinem Urteil nicht ausdrücklich ausgesprochen, daß diese Voraussetzung des Anspruchs erfüllt ist. Es hat sie aber als tatsächlich gegeben seiner Entscheidung zugrunde gelegt, zumal da sie unbestritten war. Da der Revisionskläger in dieser Hinsicht die Feststellungen des LSG. nicht angegriffen hat, konnte auch der Senat davon ausgehen, Der Anspruch der Klägerin auf Elternrente hängt somit von der weiteren Voraussetzung ab, ob die Klägerin bedürftig im Sinne des § 50 Abs. 3 BVG (in der Fassung der 6. Novelle v. 1.7.1957 = § 50 Abs. 2 BVG a. F.) ist.

Nach dem Gesetz hängt die Bedürftigkeit von zwei Gruppen von Voraussetzungen ab, die nebeneinander erfüllt sein müssen, nämlich von den persönlichen Eigenschaften und von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern oder des Elternteils. Als bedürftig nach den persönlichen Verhältnissen kommt nur in Betracht, wer körperlich oder geistig gebrechlich ist oder wer als Mutter das 50., als Vater das 65. Lebensjahr vollendet hat. Diese Voraussetzungen treffen für die Klägerin zu, da sie nach der Feststellung des LSG. im Jahre 1893 geboren ist und damit bereits zur Zeit der Antragstellung über 50 Jahre alt war.

Innerhalb dieses durch Gebrechlichkeit oder Lebensalter näher begrenzten Personenkreises ist nach den wirtschaftlichen Verhältnissen bedürftig, wer nicht seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann und auch nicht einen Unterhaltsanspruch gegen Personen hat, die imstande sind, ausreichend für ihn zu sorgen. Das Gesetz macht hiernach die Bedürftigkeit auf Grund der wirtschaftlichen Verhältnisse von den beiden Voraussetzungen abhängig, daß jemand weder seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, noch, wenn er dies nicht kann, wenigstens einen Unterhaltsanspruch gegen Personen hat, die imstande sind, für ihn ausreichend zu sorgen.

Um zunächst bei der ersten dieser wirtschaftlichen Voraussetzungen der Bedürftigkeit zu bleiben, so ist die Frage, ob jemand seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, in der Regel nicht von der Frage zu trennen, welches Einkommen er hat. Nur nach seinem Einkommen kann nämlich beurteilt werden, ob er sich daraus selbst unterhalten kann. Als Einkommen kann aber wiederum nur das angesehen werden, was das Gesetz auch sonst bei der Bemessung der Elternrente als Einkommen ansieht. Das bedeutet, daß die Vorschriften im § 51 Abs. 5 BVG (in der Fassung der 6. Novelle), der seinerseits auf § 33 Abs. 2 Satz 1 BVG verweist, herangezogen werden müssen. Es sind demnach bei der Prüfung der Bedürftigkeit grundsätzlich zunächst alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert voll zu berücksichtigen, wenn man die im § 51 Abs. 5 Satz 2 BVG erwähnten freiwilligen Leistungen außer Betracht läßt, die nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift nicht voll angerechnet werden sollen. Zu den Einkünften in Geldeswert gehört der Wert dessen, was den Eltern oder einem Elternteil tatsächlich an Verpflegung, Unterkunft, Bekleidung und sonstigem Unterhalt geleistet wird. Wird ein Elternteil, der allein anspruchsberechtigt ist, von dem anderen unterhalten, so muß er sich auch den Wert dieses Unterhalts als Einkommen anrechnen lassen. Nur nach diesen Leistungen kann beurteilt werden, ob er aus ihnen seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, d. h. ob er nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen noch bedürftig ist im Sinne des § 50 Abs. 2 BVG. Der Geldeswert dieses Einkommens aus den Unterhaltsleistungen des anderen Elternteils hängt davon ab, in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen die Eheleute leben.

Nach der anderen Voraussetzung ist die Bedürftigkeit - nach den wirtschaftlichen Verhältnissen gemessen - davon abhängig, daß jemand, der kein genügendes eigenes Einkommen hat, auch keine Unterhaltsansprüche hat, die allein oder zusammen mit seinem Einkommen seine Bedürftigkeit ausschließen. Jedoch sollen nicht alle Unterhaltsansprüche bei der Prüfung der Bedürftigkeit berücksichtigt werden, sondern nur Unterhaltsansprüche gegen solche Personen, "die imstande sind", ausreichend für den Berechtigten zu sorgen. Durch diesen Zusatz wollte der Gesetzgeber verhindern, daß Unterhaltsansprüche berücksichtigt werden, die zwar bestehen, aber nicht verwirklicht werden können. Es wäre unverständlich, wenn Ansprüche, die nur "auf dem Papier" stehen, aber keinen realen Wert besitzen, weil sie nicht verwirklichbar sind, dem Berechtigten bei der Beurteilung der Bedürftigkeit angerechnet werden sollten. Welche Unterhaltsansprüche so beschaffen sind, daß der Schuldner zu ihrer Erfüllung imstande ist, d. h. welche Unterhaltsansprüche gegen den Verpflichteten verwirklicht werden können und damit einen wirtschaftlichen Wert haben, darüber sagt das BVG selbst nichts. Es brauchte auch darüber nichts vorzuschreiben, denn aus den Vorschriften über die Zwangsvollstreckung - im wesentlichen aus den Vorschriften des Achten Buches der ZPO ergibt sich, inwieweit nach Auffassung des Gesetzgebers ein Schuldner imstande ist, - unterschiedlich nach Art der Verpflichtung und der Art seines Vermögens und Einkommens - seine Verpflichtung zu erfüllen. Das BVG hatte auch keine Veranlassung, dem Unterhaltsschuldner einen weitergehenden oder einen anderen Schutz angedeihen zu lassen, denn die Verpflichtung des Unterhaltsschuldners steht außerhalb des nach Versorgungsrecht geregelten Verhältnisses zwischen Versorgungsberechtigten und Versorgungsverpflichteten. Bei dieser Auslegung wird auch eine unbillige Verschiebung der Unterhaltslast vermieden. Es kann nicht die Absicht des BVG sein, dem Kostenträger der Kriegsopferversorgung zu Gunsten eines dritten Unterhaltsschuldners eine Versorgungslast lediglich deshalb aufzuerlegen, weil der Unterhaltsschuldner seine Schuld nicht erfüllt, obwohl er sie zu erfüllen imstande ist.

Welche Höhe das tatsächliche Einkommen und die Unterhaltsansprüche haben müssen, um die Bedürftigkeit auszuschließen, sagt das Gesetz nicht. Es schreibt zwar vor, daß die Unterhaltsansprüche - allein oder zusammen mit den tatsächlichen Einkünften - hoch genug sein müssen, damit durch ihre Erfüllung für den Unterhalt des Versorgungsberechtigten "ausreichend" gesorgt ist. Damit ist aber darüber, bei welcher Höhe ein Unterhaltsanspruch ausreichend ist, d. h. bei welcher Höhe er die Bedürftigkeit ausschließt, nichts Näheres bestimmt. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 20. Oktober 1955 (BSG. 1, 272 (274)) und der 9. Senat in seinem Urteil vom 5. Dezember 1956 (BSG. 4. 165 (168)) ausgesprochen haben, sind zur Auslegung des Begriffs "Bedürftigkeit" im § 50 Abs. 2 BVG die Vorschriften des § 51 Abs. 2 BVG über die Einkommenshöchstgrenzen heranzuziehen. Hiernach liegt eine Bedürftigkeit dann nicht vor, wenn die Einkommenshöchstbeträge erreicht sind, d. h. nach dem vorher Gesagten, wenn das tatsächliche Einkommen und die Unterhaltsansprüche gemäß § 50 Abs. 2 diese Einkommenshöchstbeträge erreichen. Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Wenngleich diese Einkommenshöchstbeträge durch die Änderungsgesetze zum BVG verschieden hoch in den einzelnen Zeitabschnitten bemessen worden sind, so erscheint es dem Senat durchaus gerechtfertigt, daß auch die Frage der Bedürftigkeit unterschiedlich in den einzelnen Zeitabschnitten zu beurteilen ist. Wie die Einkommenshöchstbeträge jeweils den veränderten allgemeinen Lebensverhältnissen angepaßt worden sind, so ist billigerweise auch die Bedürftigkeit nach den jeweils veränderten allgemeinen Lebensverhältnissen zu beurteilen.

Der Senat ist der Auffassung des 9. Senats in dessen Urteil vom 5. Dezember 1956 (BSG. 4, 165) auch weiter darin gefolgt, daß bei nur einem rentenberechtigten Elternteil dessen Bedürftigkeit nach der Einkommensgrenze für einen Elternteil zu beurteilen ist, und daß hierbei nur das tatsächliche Einkommen und der Wert der Unterhaltsansprüche des berechtigten Elternteils zu berücksichtigen sind. Zwar hat der Senat zu dieser Frage in seinem Urteil vom 20. Oktober 1955 (BSG. 1, 272) eine andere Ansicht vertreten, er hat jedoch diese Ansicht schon vor der Entscheidung des 9. Senats (BSG. 4, 165) aufgegeben. Er hält die in diesem Urteil angeführten Gründe für durchschlagend und ist ebenfalls der Ansicht, daß die VV Nr. 5 Abs. 4 im Widerspruch zum § 50 BVG steht und daß bei einem Anspruchsberechtigten die Bedürftigkeit stets nur nach seinen Verhältnissen allein zu beurteilen ist. Demgemäß sind als Grenze der Bedürftigkeit nur die Einkommenshöchstbeträge maßgebend, die für den Anspruchsberechtigten in § 51 Abs. 2 BVG festgesetzt sind. Mit Recht hat der 9. Senat darauf hingewiesen, daß das BVG im § 33 und in anderen Vorschriften, gemäß denen das "sonstige Einkommen" für die Bemessung von Versorgungsleistungen erheblich ist, stets nur das Einkommen des Anspruchsberechtigten selbst berücksichtigt wissen will, es sei denn, daß das BVG ausnahmsweise etwas anderes vorschreibt, wie z. B. in § 34 Abs. 2 BVG. Da die Frage der Bedürftigkeit bei der Elternrente ebenfalls vom Einkommen abhängig ist, kann mangels ausdrücklicher anderer Vorschriften auch hierbei jeweils nur das Einkommen des Anspruchsberechtigten angerechnet werden, also nur des einen Elternteils, wenn dieser allein versorgungsberechtigt ist. Dieses Ergebnis rechtfertigt sich nicht nur aus dem allgemeinen Einkommensbegriff des BVG, sondern auch aus den Vorschriften über die Elternrente selbst. Wenn das BVG im § 51 bei der Elternversorgung zwei besondere Ansprüche für einen berechtigten Elternteil und für ein berechtigtes Elternpaar gibt, wenn es diese Ansprüche der Höhe nach besonders bemißt, wenn es ferner für die Berechnung der Ansprüche besondere Einkommenshöchstgrenzen festsetzt, dann muß folgerichtig auch die Bedürftigkeit nur nach den besonderen Verhältnissen eines Elternteils oder eines Elternpaares beurteilt werden. Die Vorschrift des § 50 Abs. 2 BVG über die Bedürftigkeit unterscheidet zwar nicht so klar einen Elternteil und ein Elternpaar wie der § 51, jedoch spricht diese Vorschrift auf keinen Fall für die Annahme, daß bei einem versorgungsberechtigten Elternteil dessen Bedürftigkeit nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Elternpaares zu beurteilen sei. Nach seinem Wortlaut - "Bedürftig ist, wer ..." - behandelt § 50 Abs. 2 BVG überhaupt nicht die Bedürftigkeit eines Elternpaares, sondern nur die Bedürftigkeit einer Person, also eines versorgungsberechtigten Elternteils. Wenngleich keine Bedenken bestehen dürften, diese Vorschrift sinngemäß auch auf ein Elternpaar anzuwenden, so läßt die Vorschrift aber auf keinen Fall den Schluß zu, daß abweichend von dem im § 51 BVG durchgeführten Grundsatz der getrennten Behandlung sich die Bedürftigkeit aber bei einem Elternteil nach den wirtschaftlichen Verhältnissen eines Elternpaares richten soll.

Dieser Ansicht, daß die Bedürftigkeit des rentenberechtigten Elternteils allein nach dessen wirtschaftlichen Verhältnissen zu beurteilen ist, kann nicht entgegengehalten werden, daß eine solche Auslegung des Gesetzes zu einer ungleichmäßigen Behandlung gleicher wirtschaftlicher Verhältnisse führe. Nicht gleiche Verhältnisse werden ungleich behandelt, sondern ungleiche Ansprüche werden nach unterschiedlichen Verhältnissen beurteilt. Von einer ungleichmäßigen Behandlung könnte nur dann gesprochen werden, wenn gleiche Ansprüche vorlägen, zu denen gleiche wirtschaftliche Verhältnisse in Beziehung zu setzen sind. Handelt es sich aber um unterschiedliche Ansprüche, wie bei den Ansprüchen eines Elternteils und eines Elternpaares, so sind auch unterschiedliche wirtschaftliche Verhältnisse eines Elternteils und eines Elternpaares jeweils zu berücksichtigen. Zu einer ungleichen Behandlung würde es vielmehr führen, wenn trotz verschiedener Ansprüche dennoch gleicherweise stets die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Elternpaares berücksichtigt werden.

Es trifft auch nicht zu, daß diese Auslegung des Gesetzes den tatsächlichen Lebensumständen nicht gerecht werde, weil die Bedürftigkeit eines rentenberechtigten Elternteils, der in häuslicher Gemeinschaft mit dem anderen Ehegatten lebt, wesentlich davon abhänge, welches Einkommen dieser Ehegatte hat. Diesen Erwägungen trägt die aus dem Gesetz gewonnene Auslegung durchaus Rechnung. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des anderen Ehegatten sind nämlich ausschlaggebend dafür, was er an tatsächlichem Unterhalt dem versorgungsberechtigten Teil gewährt oder zu gewähren hat, so daß seine wirtschaftlichen Verhältnisse weitgehend die Bedürftigkeit des versorgungsberechtigten Elternteils - die sich nach dem tatsächlich gewährten Unterhalt als Einkommen und nach dem geschuldeten Unterhalt als Unterhaltsanspruch richtet - beeinflussen.

Schließlich kann dieser Auslegung des Gesetzes auch nicht entgegengehalten werden, daß danach ein Elternpaar, von dem beide Teile rentenberechtigt sind, gegenüber einem Elternpaar benachteiligt sei, von dem nur ein Teil Anspruch auf Rente hat. Da nach dem Gesetz die Rente eines berechtigten Elternteils mehr beträgt als die Hälfte der einem Elternpaar zustehenden Rente, so kann von einer "Benachteiligung" durch Auslegung des Gesetzes dann nicht gesprochen werden, wenn tatsächlich einmal ein Elternteil als rentenberechtigt angesehen wird, obwohl eine Rente nicht zu zahlen wäre, wenn auch sein Ehegatte versorgungsberechtigt wäre. Dieses Ergebnis ist die notwendige Folge davon, daß das Gesetz für einen Elternteil und ein Elternpaar besondere, verschieden hohe Ansprüche, Einkommenshöchstgrenzen und Bedürftigkeitsgrenzen festgesetzt hat, und daß die für einen Elternteil bemessenen Ansprüche und Grenzen höher sind als die Hälfte der für ein Elternpaar bemessenen Ansprüche und Grenzen. Aus ähnlichen Erwägungen ist auch die Ansicht abzulehnen, daß die aus dem Gesetz gewonnene Auslegung des Begriffs "Bedürftigkeit" deshalb unbefriedigend sei, weil unter Umständen der allein versorgungsberechtigte Elternteil, der allein Einkünfte hat, nicht mehr rentenberechtigt ist, obwohl er bei Berücksichtigung des Einkommens beider Ehegatten noch bedürftig und damit rentenberechtigt wäre. Auch dieses Ergebnis kann im Hinblick darauf, daß das Gesetz bei nur einem versorgungsberechtigten Elternteil nur diesem einen Anspruch gibt und nur dessen angemessenen Unterhalt durch eine Rente gewährleisten will, nicht als unbefriedigend bezeichnet werden. Ob im übrigen dies als "unbefriedigend" bezeichnete Ergebnis überhaupt eintreten kann, weil die Einkünfte des rentenberechtigten Elternteils bei der Prüfung der Bedürftigkeit insoweit nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind, als sie durch Unterhaltsverpflichtungen geschmälert werden, kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Bei einer etwa notwendig werdenden Entscheidung dieser Frage wird zu erwägen sein, ob nicht aus den Vorschriften über die Ausgleichsrente eines Beschädigten Folgerungen für die Elternrente zu ziehen sind. Nach §§ 32, 33 BVG sind die Unterhaltsverpflichtungen des Beschädigten gegenüber Ehefrau und Kindern jedenfalls insoweit vom Gesetz berücksichtigt worden, als Sie die Höhe der Ausgleichsrente und der Einkommenshöchstgrenzen beeinflussen. Bei den Elternrenten sind die Höhe der Rente und die Einkommenshöchstgrenzen allerdings nicht von Unterhaltsverpflichtungen beeinflußt. Wenn jedoch bei der Bedürftigkeit eines Elternteils dessen Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen sind, so liegt die Annahme nahe, daß andrerseits auch seine Unterhaltsverpflichtungen zu seinen Gunsten ins Gewicht fallen müssen.

Die gegen die Auslegung des Begriffs der Bedürftigkeit im § 50 Abs. 2 BVG erhobenen Bedenken geben somit keinen Anlaß, von dieser Auslegung abzugehen. Bedürftig ist demnach nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen im Sinne des § 50 Abs. 2 BVG; wer weder eigenes Einkommen noch einen Unterhaltsanspruch in Höhe der Einkommensgrenzen des § 51 Abs. 2 BVG hat. Ein Unterhaltsanspruch ist dabei nur insoweit zu berücksichtigen, als er verwirklicht, d. h. nach den Vorschriften zum Schutz des Schuldners in der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden kann. Bei nur einem versorgungsberechtigten Elternteil richtet sich die Bedürftigkeit nur nach seinem Einkommen und nach seinen Unterhaltsansprüchen.

Diesen Begriff der Bedürftigkeit hat das LSG. bei seiner angefochtenen Entscheidung verkannt. Es hat die Klägerin für bedürftig angesehen, ohne zu berücksichtigen, ob und in welcher Höhe sie durch Unterhaltsleistungen ihres Ehegatten eigenes Einkommen und darüber hinaus gegen ihn noch einen Unterhaltsanspruch hat, der verwirklicht werden kann. Es hat ferner bei der allein versorgungsberechtigten Klägerin die für ein Elternpaar festgesetzten Einkommenshöchstgrenzen als maßgebend angesehen. Auf diesem Rechtsirrtum beruht die Entscheidung des LSG. Das angefochtene Urteil mußte daher insoweit aufgehoben werden, als über den Anspruch der Klägerin für die Zeit ab 1. Oktober 1950 entschieden worden ist. Der Senat konnte in der Sache selbst nicht entscheiden, da die für die Beurteilung der Bedürftigkeit der Klägerin erforderlichen Feststellungen fehlen. Der Rechtsstreit war daher insoweit, als das angefochtene Urteil aufgehoben ist, zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Berlin zurückzuverweisen.

Soweit im angefochtenen Urteil über die Rentenansprüche der Klägerin für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 nach den Vorschriften des Berliner KVG entschieden worden ist, war die Revision zurückzuweisen. Von einer selbständigen Kostenentscheidung wegen des durch diese Entscheidung endgültig erledigten Teils des Rechtsstreits (Ansprüche der Klägerin für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950) war abzusehen, da dieser Teil der Entscheidung gegenüber dem Teil der Entscheidung, der an das LSG. zurückverwiesen werden mußte, nicht ins Gewicht fällt. Die Kostenentscheidung mußte daher einheitlich dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.

 

Fundstellen

NJW 1957, 1893

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