Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Pannenhilfe
Leitsatz (redaktionell)
Eine Person, die einem Halter eines Kraftfahrzeuges Pannenhilfe leistet, wird wie ein Versicherter iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 1 tätig und unterliegt nach RVO § 539 Abs 2 dem Unfallversicherungsschutz; bei Privatkraftfahrzeugen ist der Fahrzeughalter Unternehmer (RVO § 658 Abs 2 Nr 2).
Orientierungssatz
Unfallversicherungsschutz bei Pannenhilfe
Der Hilfeleistende ist auch dann nach RVO § 539 Abs 2 versichert, wenn er als Mitfahrer an einer alsbaldigen Beseitigung der Panne interessiert gewesen ist. Auf das Motiv der Hilfeleistung kommt es nicht an.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 658 Abs. 2 Nr. 2
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Mai 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Januar 1972 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Aufwendungen aus Anlaß des Arbeitsunfalls des Felix S am 7. Februar 1969 im Rahmen des § 1504 RVO zu ersetzen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten, hilfsweise von dem Beigeladenen, nach § 1504 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Ersatz der Kosten, die sie für den bei ihr krankenversicherten Felix S (S.) aus Anlaß des Unfalls am 7. Februar 1969 aufgewendet hat.
S. wurde am 7. Februar 1969 von einem Bekannten in dessen privatem Fahrzeug zusammen mit seiner Ehefrau und einer Bekannten des Fahrzeughalters nach einer Gastwirtschaft mitgenommen. Auf der Rückfahrt setzte plötzlich der Motor des Fahrzeuges aus. S. und die Bekannte des Fahrzeughalters stiegen aus, um den Wagen anzuschieben. Als das nicht gelang, wendete man das Fahrzeug in der Annahme, daß die Straße in entgegengesetzter Richtung abschüssig sei. Während des Anschiebens fuhr, nachdem zwei andere Kraftfahrzeuge bereits überholt hatten, ein dritter Wagen von hinten auf das Fahrzeug auf, dessen Beleuchtung in Betrieb war. Dabei zog sich S. beiderseits komplizierte Unterschenkelbrüche zu.
Die Klägerin hat am 13. Oktober 1969 Klage erhoben mit der sie die Erstattung ihrer Aufwendungen aus Anlaß des Unfalls vom 7. Februar 1969 - zunächst in Höhe von 6.748,70 DM - verlangt hat. Sie ist der Auffassung, im Zeitpunkt des Unfalls habe für S. Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO bestanden.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 13. Januar 1972 die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Verletzte habe nicht gemäß § 539 Abs. 2 RVO unter Versicherungsschutz gestanden, da es sich bei seiner Hilfeleistung nicht um eine wirtschaftlich meßbare Arbeitsleistung gehandelt habe. Auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO scheide aus, da der liegengebliebene PKW keine erhebliche Gefahr gebildet habe.
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 17. Mai 1972 zurückgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt: S. habe im Zeitpunkt des Unfalles nicht gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO unter Versicherungsschutz gestanden, da das Aussetzen des Motors keinen Unglückfalls i. S. dieser Vorschrift gebildet habe. Auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO sei nicht gegeben gewesen, weil die Pannenhilfe für einen privaten Fahrzeughalter keine Tätigkeit sei, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werde, die in einem dem allgemeinen Erwerbsleben zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis zu ihm stehen. Es komme darauf an, ob die Pannenhilfe auch zu den regelmäßigen und üblichen Verrichtungen eines bei einem nichtgewerblichen Fahrzeughalter Beschäftigten gehöre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie hält entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts einen Versicherungsschutz des S. gemäß § 539 Abs. 2 RVO und auch gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO für gegeben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 17. Mai 1972 aufzuheben und die Revisionsbeklagte, hilfsweise den Beigeladenen, zu verurteilen, Ersatz ihrer Aufwendungen aus Anlaß des Arbeitsunfalls des Felix S am 7. Februar 1969 im Rahmen des § 1504 RVO zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend, soweit es ihre Leistungspflicht verneint. Sofern ein Versicherungsschutz gemäß § 539 Abs. 2 RVO gegeben wäre, sei nicht sie, sondern der Beigeladene der entschädigungspflichtige Versicherungsträger, da der Besitz eines Kraftwagens zumindest als Nebenunternehmen dem Haushalt zuzurechnen sei.
Der Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist weiterhin der Auffassung, daß der Versicherungsschutz des S. nicht gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO gegeben gewesen sei.
II
Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg.
Zu Unrecht wendet sich die Revision allerdings gegen die Auffassung des LSG, daß die Voraussetzungen für die Anwendung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO nicht gegeben seien. Nach dieser Vorschrift sind u. a. Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die bei Unglücksfällen Hilfe leisten. Ein Unglücksfall i. S. dieser Vorschrift kann zwar auch ein Ereignis sein, das keinen Personenschaden, sondern einen Schaden nur an Sachgütern zur Folge hat (vgl. BSG SozR Nr. 39 zu § 539 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 472 x; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 53 zu § 539; Teutsch, SozVers. 1947, 125). Die Nr. 9 Buchst. a des § 539 Abs. 1 RVO bezweckt jedoch, wie aus dem Vergleich mit den anderen durch diese Vorschrift erfaßten Fällen hervorgeht - Hilfeleistungen bei gemeiner Gefahr oder Not, Rettung aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit - und sich aus dem Sinn der Vorschrift ergibt, Versicherungsschutz nur zu gewähren, solange ein Unglücksfall mit seinen unmittelbaren Schadensfolgen noch nicht abgeschlossen ist; es muß in diesem Sinn noch ein weiterer Schaden drohen (vgl. BSG aaO; Lauterbach, aaO; Teutsch, aaO; Brackmann, aaO, S. 474 a; Wittmann, SGb 1971, 420). Dies würde beispielsweise zutreffen, wenn ein Kraftfahrzeug an einer unübersichtlichen Stelle oder nachts ohne Beleuchtung auf der Straße liegenbleibt und deswegen der Eintritt eines weiteren Schadens für Personen oder Sachwerte unmittelbar zu befürchten ist. § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO bezweckt nicht, Versicherungsschutz auch zu gewähren, wenn jemand- wie dies hier der Fall gewesen ist - tätig wird, um ein betriebsunfähiges Kraftfahrzeug anzuschieben und dadurch lediglich den bereits eingetretenen Schaden zu beheben. Es ist nicht festgestellt, daß von dem auf der Straße stehenden PKW für andere Verkehrsteilnehmer eine unmittelbare Gefahr ausging, die S. durch sein Eingreifen abwenden wollte. Vielmehr hatten bereits zwei andere Fahrzeuge den beleuchteten PKW passiert. S. wurde nicht tätig, um den PKW von der Straße weg-, sondern um ihn auf der anderen Straßenseite anzuschieben. Diente somit die Hilfeleistung des S. nicht der Abwehr eines drohenden, sondern der Behebung eines bereits abgeschlossenen Schadens, so bestand kein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO.
Der Versicherungsschutz des S. ist jedoch - entgegen der Auffassung des SG und des LSG - auf Grund des § 539 Abs. 2 RVO i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 dieser Vorschrift gegeben. S. ist dadurch, daß er half, den PKW anzuschieben, wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter - nämlich wie ein in der privaten Kraftfahrzeughaltung seines Bekannten auf Grund eines Arbeitsverhältnisses Beschäftigter - tätig geworden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats ist es für die Anwendung dieser Vorschrift nicht erforderlich, daß ein Abhängigkeitsverhältnis vorliegt. Es genügt, daß es sich um eine Tätigkeit handelt, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen, wobei allerdings eine nur theoretische Möglichkeit hierfür nicht ausreicht. Es muß also der Art nach eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit sein. Entgegen der Ansicht des LSG kommt es nicht darauf an, daß die Tätigkeit üblicherweise von in dem betreffenden Unternehmen beschäftigten Personen im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses verrichtet wird (s. BSG SozR Nr. 39 zu § 539 RVO). Dem Versicherungsschutz des S. gemäß § 539 Abs. 2 RVO steht nicht, wie die Revision meint, entgegen, daß der später Verletzte in dem PKW mitfuhr und deshalb die Hilfe auch mit im eigenen Interesse leistete, um selbst den restlichen Heimweg nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen. Der Beweggrund für das Handeln ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats für die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVO unerheblich. Entscheidend ist, daß der später verletzte S. eine ernstliche Arbeit für den Halter des PKW geleistet hat.
Der später Verletzte ist bei seinem Eingreifen in dem Unternehmen des privaten Kraftfahrzeughalters tätig geworden (s. BSG SozR Nr. 39 aaO). Sein Bekannter war insoweit Unternehmer i. S. der Unfallversicherung. Dies folgt aus § 658 Abs. 2 RVO, nach der bei nicht gewerbsmäßigem Halten von Fahrzeugen Unternehmer ist, wer das Fahrzeug hält. Der Senat hat bereits wiederholt entschieden, daß der Begriff des Unternehmer i. S. der Unfallversicherung keinen Geschäftsbetrieb oder eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeit voraussetzt (BSG 14, 1, 2; BSG SozR Nr. 39 aaO und Nr. 1 zu § 658 RVO). Der Versicherungsschutz ist auch im Falle des § 539 Abs. 2 RVO nicht davon abhängig, daß für die jeweilige Tätigkeit Beiträge an die Berufsgenossenschaft geleistet werden. Einer der Hauptanwendungsbereiche dieser Vorschrift bezieht sich gerade auf Fälle eines unvorhergesehenen, vorübergehenden Tätigwerdens.
Zur Entschädigungsleistung und damit zum Ersatz der Aufwendungen der Klägerin gemäß § 1504 RVO ist die für Fahrzeughaltungen sachlich zuständige Beklagte verpflichtet (vgl. BSG SozR Nr. 39 zu § 539 RVO). Der für Versicherte in Haushaltungen zuständige Versicherungsträger (§ 657 Abs. 1 Nr. 3 RVO) kommt als leistungspflichtig nicht in Betracht; selbst wenn - wie die Beklagte meint - das Halten eines Kraftfahrzeuges noch in den Rahmen der Haushaltung fällt so ergibt sich doch aus der ausdrücklichen Regelung in § 658 Abs. 2 Nr. 2 RVO daß als Unternehmer der privaten Kraftfahrzeughaltung nicht der Haushaltsvorstand, sondern der Halter des Fahrzeuges anzusehen ist. Nach dieser gesetzlichen Vorschrift richtet sich die Zuständigkeit des Versicherungsträgers.
Die hier vom Senat vertretene Auffassung kann zwar u. U. merkbare finanzielle Belastungen der Beklagten aus Unfällen zur Folge haben, die bei Autopannen helfenden Personen zustoßen. Diese Erwägung rechtfertigt es aber nicht, wegen dieser Fallgruppe von den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu § 539 Abs. 2 RVO abzuweichen wie sie z. B. auch hinsichtlich der Personen gelten, die für einen Privathaushalt vorübergehend wie Versicherte nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO tätig werden (vgl. z. B. BSG SozR Nr. 16 zu § 537 RVO aF). Im übrigen ist bei der Pannenhilfe nicht stets die Zuständigkeit der Beklagten gegeben so z. B. wenn nach Lage des Falles Versicherungsschutz auf Grund des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO - ebenfalls ohne Beitragsleistung - besteht oder die Hilfeleistung auch dem Unternehmen eines anderen Gewerbezweiges zuzurechnen ist.
Auf die Revision der Klägerin waren somit das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben, und die Beklagte war zu verurteilen, der Klägerin die Aufwendungen aus Anlaß des Unfalls des S. im Rahmen des § 1504 RVO zu ersetzen.
Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen