Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. März 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht seit dem 1. März 1964 ein Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO); er begehrt ein höheres Altersruhegeld unter Anrechnung von Beitragszeiten, die er vom 1. November 1928 bis zum 31. März 1931 und vom 1. März 1935 bis zum 26. August 1939 in Berlin zurückgelegt haben will.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Beklagte am 14. März 1968 verurteilt, das Altersruhegeld des Klägers unter Berücksichtigung der genannten Zeiten als glaubhaft gemachter Versicherungszeiten zu erhöhen. Die Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen (VuVO) vom 3. März 1960 finde Anwendung. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die bei der früheren Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin für den Kläger verwahrten Unterlagen in Verlust geraten seien (§ 1256 Abs. 3 RVO). Klarheit darüber, welcher Teil dieses Kontenlagers abhanden gekommen sei und welche Unterlagen laufend ausgesondert würden, bestehe nicht. – Die Versicherungsunterlagen der früheren LVA Berlin seien „nicht erreichbar” i. S. des § 1 VuVO. Sie seien dem Direktzugriff der Versicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland entzogen. Daran ändere nichts, daß die Dienststellen Mitteldeutschlands den Austausch von Rentenakten und Versicherungsunterlagen mit der Bundesrepublik und West-Berlin förderten. Entscheidend sei, daß der Amts- und Rechtshilfeverkehr mit den dortigen Dienststellen nicht verbindlich geregelt und eine wirksame Kontrolle und Überprüfung der Versicherungsunterlagen und der Richtigkeit der Auskünfte, vornehmlich in Zweifelsfällen, nicht möglich sei. Den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sei es auch verwehrt, die Auskunft erteilenden Angestellten der Kartenverwaltung als Zeugen zu hören oder dienstliche Äußerungen von diesen einzuholen. – Die vom Kläger behaupteten Versicherungszeiten seien glaubhaft gemacht. – Die Revision ist zugelassen worden.
Die Beklagte hat mit ihrer Revision die Verletzung des § 1 VuVO gerügt. Es bedürfe einer Klärung der Frage, welche Voraussetzungen die Anwendung dieser Verordnung erfordere. Die Auskunft der Kartenverwaltung in Ost-Berlin habe ergeben, daß für den Kläger dort keine Quittungskarten verwahrt würden, obwohl der Kläger in den streitigen Zeiten in Berlin erwerbstätig gewesen sei. Die Praxis habe gezeigt, daß von den Dienststellen in Mitteldeutschland regelmäßig die Übersendung der dort vorhandenen Quittungskarten zum hiesigen Verbleib erfolge. Ausnahmen seien nicht bekannt geworden. An der Sorgfalt der dortigen Verwaltungen bei der Suche nach Quittungskarten könne man keine berechtigten Zweifel hegen. – Die vom LSG verlangte Überprüfbarkeit von Kartenarchiven habe nur theoretischen Wert; es sei kein Fall bekannt, in dem ein Gericht ein Kartenlager eingesehen habe. Im übrigen sei dem Wortlaut des § 1 VuVO nicht zu entnehmen, daß die Karten- und Kontenarchive für den Direktzugriff der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit erreichbar sein müßten. – Nur eine Glaubhaftmachung der behaupteten Versicherungszeiten nach § 1 VuVO sei im vorliegenden Fall nicht zulässig, der Nachweis (§ 1413 Abs. 2 RVO) der Versicherungszeiten dem Kläger nicht gelungen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet.
Die Beklagte, ist verpflichtet, dem Kläger das höhere Altersgeld zu gewähren. Die streitigen Versicherungszeiten sind nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –), glaubhaft gemacht. Dies reicht aus.
Nach § 1 Abs. 1 Satz VuVO genügt es für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, daß diese Tatsachen glaubhaft gemacht sind; Voraussetzung ist, daß Versicherungsunterlagen fehlen, und zwar solche, die von einem Versicherungsträger aufzubewahren gewesen sind, dessen Karten- oder Kontenarchiv vernichtet oder nicht erreichbar ist. Ist das Karten- oder Kontenarchiv des Versicherungsträgers nur teilweise vernichtet, so genügt die Glaubhaftmachung nach § 1 Abs. 2 VuVO nur, wenn die Unterlagen in dem vernichteten Teil aufzubewahren gewesen sind.
Das Kartenarchiv der früheren LVA Berlin ist teilweise vernichtet. Dies ergibt sich aus den – im wesentlichen übereinstimmenden – Mitteilungen der Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland und im Lande Berlin (vgl. für viele: Schieffer, Die Beschaffung von Versicherungsunterlagen, 1968, S. 15). Das LSG sprach die Vermutung aus, daß die Unterlagen über die streitigen Versicherungszeiten des Klägers in dem vernichteten Teil des Kartenarchivs der früheren LVA Berlin aufbewahrt worden sein könnten.
Einen Beweis für diese Vermutung gibt es nicht. Das LSG sah sich außerstande, den in Verlust geratenen Teil des Kartenarchivs der früheren LVA Berlin näher zu bestimmen. Damit fehlt es an der Anwendbarkeit des § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO, soweit diese Vorschrift die Vernichtung von Karten- und Kontenarchiven betrifft (§ 1 Abs. 2 VuVO; vgl. BSG, Urteil vom 28. August 1969 – 11 RA 188/67 –). – Das LSG hat jedoch nicht ausgeschlossen, daß die bei der früheren LVA Berlin für den Kläger verwahrten Unterlagen verloren gegangen sein können. Damit hat es festgestellt, daß diese Unterlagen von der genannten Anstalt aufzubewahren gewesen seien. Die Beklagte hat diese aus dem Lebens- und Versicherungsverlauf des Klägers gewonnene Erkenntnis in der Revisionsbegründung ausdrücklich bestätigt. Bei dieser Sachlage räumt der Senat dem Kläger die Vergünstigung der Glaubhaftmachung ein.
Unabhängig davon, ob und in welchem Umfang das Karten- oder Kontenarchiv eines Versicherungsträgers vernichtet ist, tritt diese Beweiserleichterung nämlich ein, wenn das Karten- oder Kontenarchiv „nicht erreichbar” ist. Die Vorschrift des § 1 VuVO stellt die beiden Tatsachen – „vernichtet” und „nicht erreichbar” – als gleichwertige Alternativen nebeneinander. Die Ermächtigungsnorm des § 1256 Abs. 3 RVO deckt diese Regelung. Das Gesetz spricht zwar davon, daß „die Versicherungsunterlagen nicht mehr vorhanden” sein müssen. Damit kann jedoch nicht nur der Fall gemeint sein, daß die Versicherungsunterlagen nicht mehr existieren, weil sie vernichtet worden sind. Der Wortlaut läßt die Auslegung zu, Versicherungsunterlagen seien auch dann nicht mehr vorhanden, wenn sie sich an einem Ort befinden, der für die Interessenten oder Betroffenen (Versicherungsträger und Versicherte) nicht erreichbar ist. Ein Versicherter gerät in die gleiche Beweisnot, ob nun seine Versicherungsunterlagen vernichtet sind oder ob sie für die Leistungsfeststellung nicht zur Verfügung stehen. Beide Umstände erfordern eine gleiche Behandlung. Die Voraussetzungen für die Beweiserleichterung sind allerdings erst dann erfüllt, wenn – auch – die Versicherungsunterlagen „fehlen”. Die Begriffe des „Fehlens” und der „Archivvernichtung” sind nicht identisch (vgl. BSG aaO). Dies hat seinen guten Grund; denn es sind Fälle denkbar, in denen zwar das Karten- oder Kontenarchiv des Versicherungsträgers vernichtet worden ist, bestimmte Versicherungsunterlagen aber trotzdem in den Besitz des Versicherten, des Versicherungsträgers oder der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gelangen. Soweit dann die Versicherungsunterlagen verfügbar sind, sie also nicht „fehlen”, kommt eine Rentenberechnung allein entsprechend dem Inhalt der Versicherungsunterlagen in Betracht. Dasselbe muß beim Vorhandensein der Versicherungsunterlagen für die andere Alternative gelten, daß nämlich das Karten- oder Kontenarchiv eines Versicherungsträgers nicht erreichbar ist.
Das Kartenarchiv der früheren LVA Berlin ist „nicht erreichbar” im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO. Der Senat hält dieses Tatbestandsmerkmal für erfüllt, wenn ein Karten- oder Kontenarchiv nicht jederzeit unmittelbar und unter den Garantien der Rechts- und Amtshilfepflicht wie auch des Prozeßrechts überprüfbar ist. Diese Anforderungen müssen gestellt werden, weil sonst die Durchführung sowohl eines ordnungsgemäßen Verwaltungsverfahrens als auch eines einem Rechtsstaat angemessenen sozialgerichtlichen Verfahrens zweifelhaft ist. Versicherungsträger, Versicherungsämter und Gerichte müssen die rechtliche Befugnis zur Benutzung aller möglichen Beweismittel haben. Die Versicherungskarte, die „normale” Versicherungsunterlage, die nach § 1411 Abs. 1 RVO zum Nachweis der Beitragsentrichtung dient, ist eine öffentliche Urkunde. Urkundenbeweis wird durch Vorlegung der Urkunde angetreten. Das erfordert, daß der, der den Beweis erhebt, in der Lage sein muß, jederzeit und ungehindert die Urkunde zu erlangen. Anderenfalls fehlt es an der erforderlichen Sicherheit, eine dem Gesetz entsprechende Entscheidung zu treffen. Ein Kartenarchiv, eine Urkundensammlung, ist „erreichbar”, wenn eine Verfügungsmacht in dem vorbezeichneten Sinne über die benötigten Archivteile besteht und man sich von dem Fehlen anderer, das Versicherungsverhältnis beeinflussender Urkunden überzeugen kann. Im Geltungsbereich der RVO und des SGG, der mit dem Geltungsbereich der VuVO identisch ist, ist die Rechtshilfepflicht der Versicherungsträger untereinander durch § 116 RVO, die Rechts- und Amtshilfepflicht der Organe der Versicherungsträger gegenüber den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit durch § 5 Abs. 1 SGG gewährleistet. Wenn übernationales Recht oder zwischenstaatliche Abkommen entsprechendes sicherstellen, ist die Rechtslage gleich zu beurteilen. Bestehen jedoch solche unmittelbaren rechtlichen Beziehungen nicht, so vermag der Senat ein Karten- oder Kontenarchiv außerhalb des Geltungsbereichs der VuVO nicht als „erreichbar” anzusehen. Der Austausch von Versicherungsunterlagen zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist nicht verbindlich geregelt. In der Regel gibt zwar die Kartenverwahrstelle in Ost-Berlin – wie auch die Beklagte vorgetragen hat – die Versicherungsunterlagen vollständig heraus und bemüht sich, den Wünschen der Versicherungsträger, die Versicherungsunterlagen anfordern, gerecht zu werden. Jedoch kann weder die Beklagte noch ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit zur Zeit und unter den gegebenen Umständen die vorhandenen Beweismittel ausschöpfen und mit Sicherheit feststellen, ob alle angeforderten Versicherungsunterlagen herausgegeben wurden bzw. herausgegeben werden konnten und ob etwa die Auskunft, Quittungskarten seien nicht vorhanden oder nicht auffindbar, richtig oder – aus welchen Gründen auch immer – unrichtig ist.
Die Worte „nicht erreichbar” lassen für sich auch andere Auslegungen zu. Der Wille des Verordnungsgebers ist nicht klar zu erkennen. Aus dem Allgemeinen Teil der amtlichen Begründung zur VuVO (Bundesrats-Drucks. 44/60) könnte man sogar den Eindruck gewinnen, nur die Vernichtung der Kartenlager habe zur Regelung der Rechtsstellung der betroffenen Versicherten geführt. Andererseits ist – worauf schon das LSG hingewiesen hat – in der amtlichen Begründung zu § 1 VuVO (aaO; vgl. Jantz-Zweng-Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl. 1960, S. 272) ausgeführt, daß „die Unterlagen von Versicherten der Versicherungsanstalt Berlin”, die sicher nicht vernichtet sind, „nicht erreichbar” seien (vgl. Stegner in WzS 1960, 109). Andeutungen im Schrifttum lassen auf die Rechtsmeinung schließen, die Karten- und Kontenarchive seien erreichbar, wenn man Versicherungsunterlagen „erhalten” könne (vgl. Kommentar zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Anhang C 3, Anm. 1 Abs. 2 zu § 1 VuVO), wenn „Anfragen möglich” seien (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 702 f IV und 702 f V), wenn sich „heute noch, wenngleich nicht absolut sicher, Versicherungsunterlagen beschaffen” ließen oder „greifbar” seien (vgl. Koch-Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, April 1968, Bd. V II. Teil, Anm. 3 zu § 1 VuVO, S. 9) oder wenn „Originalunterlagen angefordert werden können” (vgl. Langner in Nachrichten der LVA Hessen 1963, 46). Keiner dieser Definitionsversuche befriedigt. Wollte man danach handeln, so fehlte sowohl dem Versicherungsträger als auch im Streitfall den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit die gesetzlich garantierte Überprüfungsmöglichkeit. Auf diese Möglichkeit kommt es entscheidend an, nicht darauf, ob von ihr tatsächlich häufiger Gebrauch gemacht wird. Dies verkennt die Beklagte, wenn sie der Überprüfbarkeit nur einen theoretischen Wert beimißt. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist der Begriff „nicht erreichbar” weit auszulegen. Die Glaubhaftmachung setzt nach § 10 Abs. 1 VuVO immerhin voraus, daß die behauptete Tatsache unter Berücksichtigung aller erreichbaren Beweismittel überwiegend wahrscheinlich ist. Sind von der Kartenverwahrstelle in Ost-Berlin keine Versicherungsunterlagen über die geltend gemachten Versicherungszeiten oder andere rechtserhebliche Tatsachen zu erhalten, so muß der Versicherte diese zusätzliche Schranke mit seinen anderen Beweismitteln auch bei der Glaubhaftmachung überwinden.
Eine andere Beurteilung würde – unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Rechtsprechung des BSG (aaO) – ein nicht zu billigendes Ergebnis zeitigen. Unterstellt man, daß das nur teilweise erhalten gebliebene Kartenarchiv der früheren LVA Berlin im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO „erreichbar” sei, so müßte der Versicherte die Beweislast dafür tragen, daß seine „fehlenden” Versicherungsunterlagen gerade in dem vernichteten Archivteil aufzubewahren gewesen seien (§ 1 Abs. 2 VuVO). Diese Konsequenz sollte, weil weder die hiesigen Versicherungsträger noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit eine Sicherheit hinsichtlich der Ermittlung des hier bedeutsamen Sachverhalts, nämlich des Umfangs der Archivvernichtung haben, vermieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Penquitt, Müller, Dr. Straub
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.12.1969 durch Mackenroth RegHauptsekretär als Urk.Beamter d. Gesch.Stelle
Fundstellen