Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Dezember 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der 1942 geborene Kläger erlernte den Schlosserberuf und ist als solcher beschäftigt. Mit Bescheid vom 11. Februar 1976 stellte das Versorgungsamt als Behinderungen „angeborene Taubstummheit” mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vH und mit weiterem Bescheid vom 14. September 1979 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF” fest.
Am 20. September 1994 beantragte der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „H”. Zur Begründung machte er unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1993 – Az 9/9a RVs 1/91 – geltend, er habe infolge seiner Gehörlosigkeit im täglichen Leben bei seiner Arbeit, bei Einkäufen, Arztbesuchen und Behördengängen erhebliche Verständigungsschwierigkeiten und sei ohne Kommunikationshilfen als hilflos iS des Schwerbehindertenrechtes zu betrachten.
Mit Bescheid vom 26. September 1994 lehnte das Versorgungsamt den Antrag des Klägers ab: Bei Taubheit sei Hilflosigkeit in der Regel bis zur Beendigung der Ausbildung anzunehmen; hierzu zählten der Schul-, Fachschul- und Hochschulbesuch, eine berufliche Erstausbildung und Weiterbildung sowie vergleichbare Maßnahmen der beruflichen Bildung. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor.
Widerspruch und Klage des Klägers blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. April 1995/Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 6. Dezember 1995). Zur Begründung führte das SG aus, das Kommunikationsdefizit des Klägers wirke sich nach abgeschlossener Berufsausbildung nicht mehr so gravierend aus wie in der Lebensphase des Kenntnis- und Fertigkeitserwerbes.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der Kläger eine Verletzung des § 4 Abs 4 und 1 Schwerbehindertengesetz iVm § 3 Abs 1 Nr 2 der Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz und des § 33b Einkommensteuergesetz (EStG). Aus der Rechtsprechung des BSG ergebe sich, daß der Nachteilsausgleich „H” nicht nur auf den Personenkreis begrenzt werden sollte, der sich noch in einer Berufsausbildung befinde. Vielmehr seien auch solche Taubstumme einzubeziehen, die ihre Ausbildung abgeschlossen hätten. Das Kommunikationsdefizit bei Gehörlosen bestehe lebenslang. Geistige Entfaltung und Entwicklung schlössen nicht mit einer Berufsausbildung ab. Mängel im Lautsprachenerwerb führten ein Leben lang zu Mißerfolgen, die Angst, Minderwertigkeitsgefühle und Rückzugsverhalten auslösten. Dies gelte nicht nur bis zum Abschluß einer Berufsausbildung, sondern lebenslang. Auch aus der am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Neufassung des § 33b Abs 6 Satz 2 EStG, die den Begriff der Hilflosigkeit neu umschreibe, ergäben sich für den Begriff der Hilflosigkeit nach der Entscheidung des BSG vom 8. März 1995 – 9 RVs 5/94 – keine unterschiedlichen Maßstäbe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Dezember 1995 sowie den Bescheid vom 26. September 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „H” festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß bei ihm die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „H” festgestellt werden. Er ist nicht hilflos, weil er nicht zu dem im Einkommensteuerrecht beschriebenen Kreis von Personen gehört, die „für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd” bedürfen (§ 33b Abs 3 Satz 3, Abs 6 Satz 2 EStG in der seit dem 1. Januar 1995 geltenden Fassung des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994 ≪BGBl I S 1014≫, durch das die Vorschrift, ohne sie inhaltlich zu ändern, neu gefaßt worden ist: BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12). Zwar können auch gehörlos geborene oder vor Spracherwerb ertaubte Personen hilflos iS dieser Vorschrift sein, obwohl sie nur bei e i n e r Verrichtung des täglichen Lebens – nämlich bei der ständig erforderlichen Kommunikation – fremder Hilfe bedürfen. Ob das Kommunikationsdefizit fremde Hilfe in erheblichem Umfang erforderlich macht, läßt sich nicht schematisch nach der Anzahl der Verrichtungen festlegen. Die Hilfsbedürftigkeit in einem entscheidenden und zentralen Punkt kann ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf die gesamte Lebensführung prägt. Das Kommunikationsdefizit der vor Spracherwerb Ertaubten prägt deren gesamte Lebensführung aber regelmäßig nur bis zum Ablauf einer ersten Berufsausbildung, in der Lebensspanne also, während derer Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb zu den zentralen Verrichtungen des täglichen Lebens gehören (BSGE 72, 285, 290 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6).
Der Kläger hat die Ausbildung zum Schlosser vor langer Zeit abgeschlossen. Seit 1965 ist er ohne Unterbrechung bei demselben Arbeitgeber, einem Motorenhersteller, beschäftigt. Zwar bewirkt der Kommunikationsmangel weiter eine Behinderung, die mit einem Grad der Behinderung von 100 bewertet wird, für den der Kläger den damit verbundenen Steuervorteil eines Pauschbetrages von jährlich 2.760,00 DM erhält. Neben diesem für außergewöhnliche Belastungen gewährten Ausgleich besteht aber kein weiterer Hilfebedarf in dem Umfang, wie ihn das Einkommensteuerrecht für den Nachteilsausgleich „H” und den daran geknüpften mehr als doppelt so hohen Pauschbetrag von 7.200,00 DM jährlich fordert.
Zu Unrecht macht der Kläger demgegenüber geltend, daß auch nach Ende der Erstausbildung ein hoher Hilfebedarf bestehe. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Anforderungen des heutigen Wirtschafts- und Bildungswesens hin. Die strikte Trennung in Abschnitte der Berufsausbildung und einer anschließenden beruflichen Tätigkeit sei inzwischen aufgehoben. Jeder Berufstätige müsse berufsbegleitend und lebenslang neue Fähigkeiten erlernen und weiteres Fachwissen erwerben. Daran ist richtig, daß nur noch in seltenen Fällen mit den einmal während einer mehrjährigen Berufsausbildung erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen eine gesicherte Stellung im Beruf erreicht, gesichert und auf Dauer behauptet werden kann. Daraus läßt sich aber nicht generell der Schluß ziehen, daß ein Gehörloser lebenslang hilflos iS des Einkommensteuerrechts ist. Das wäre er nur, wenn sich das Kommunikationsdefizit wegen der Notwendigkeit der ständigen Anpassung des beruflichen Könnens und Wissens während des Berufslebens prägend auf die Lebensführung auswirken würde. Daran fehlt es, weil zu den zentralen Verrichtungen im täglichen Leben eines Arbeitnehmers regelmäßig nicht die Anpassung und Erweiterung seiner beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten gehört, sondern die Verrichtung von Arbeit im erlernten Beruf. Auch kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, daß der Gehörlose nach Abschluß der Erstausbildung im nichtberuflichen Bereich weiter hilflos iS von § 33b Abs 3 Satz 3 EStG ist, wenn er in dem einem Gehörlosen möglichen Umfang (vgl dazu BSGE 72, 285, 288 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) Schreiben und Lesen erlernt hat.
Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß ein Gehörloser nach Wegfall der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „H” mit Abschluß der Erstausbildung und nach anschließender beruflicher Integration erneut hilflos werden kann. Davon geht auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in seinem Rundschreiben vom 27. April 1994 (BArbBl 1994, 6/69) aus. Danach besteht bei einem Gehörlosen nicht nur während einer beruflichen Erstausbildung Hilflosigkeit, sondern auch während einer Weiterbildung und während vergleichbarer Maßnahmen der beruflichen Bildung (vgl das Urteil des Senats vom 12. November 1996 – 9 RVs 9/95 –). Der Kläger macht einen solchen besonderen beruflichen Hilfebedarf nicht geltend.
Der Kläger gehört auch nicht zu den Gehörlosen, bei denen die Kommunikationsstörung ausnahmsweise eine lebenslange Hilflosigkeit bedingt. Eine solche Annahme kommt nur in Betracht, wenn der Gehörlose wegen Minderbegabung, einer geistigen Behinderung oder einer zusätzlichen Gesundheitsstörung nicht in der Lage ist, das Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten mit der hörenden Umwelt zu erlernen, das bei einem erfolgreichen Besuch einer Gehörlosenschule vermittelt wird. Da bei dem Kläger als Behinderung nur „angeborene Taubstummheit” festgestellt ist und er die Gehörlosenschule mit Erfolg besucht hat, ist er – wenn auch stark eingeschränkt – in der Lage, sich mit anderen Menschen ohne Gebärdendolmetscher zu verständigen und schriftliche Informationen aufzunehmen. Während der anschließenden Berufsausbildung blieb er nur deshalb hilflos, weil das Informationsbedürfnis in dieser Lebensphase deutlich gesteigert ist. Der Abschluß einer berufsqualifizierenden Ausbildung markiert aber, gleichgültig, in welchem Lebensalter er erreicht wird, und gleichgültig, ob es sich um eine Lehre, ein Fachschul- oder ein Hochschulstudium handelt, das Ende der seit „Beginn der Frühförderung” (vgl Nr 22 Abs 4 Buchst h der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz) bestehenden Hilflosigkeit. Von diesem Zeitpunkt an läßt sich Hilflosigkeit nicht mehr allgemein annehmen, sondern nur noch aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall feststellen. Durch den erfolgreichen Abschluß einer Berufsausbildung zeigt ein Gehörloser, daß er die erworbenen Verständigungsmöglichkeiten in einem wichtigen Lebensbereich zu nutzen versteht. Damit ist es regelmäßig ausgeschlossen, seine Behinderung als prägend für die gesamte Lebensführung und damit ihn selbst als hilflos iS des Steuerrechts anzusehen.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen