Leitsatz (amtlich)
Die Bestimmung in den Versicherungsbedingungen einer Ersatzkasse, wonach Nichtversicherungspflichtige für sich und ihre anspruchsberechtigten Familienangehörigen keinen Anspruch auf Krankenhauspflege und Heilstättenbehandlung haben, deren Kosten nach dem BSHG von anderer Seite zu tragen sind, ist auch wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (12. AufbauV vom 1935-12-24 Art 2 § 2 Abs 2 iVm VAG vom 1931-06-06 § 21 Abs 1) ungültig (Ergänzung zu BSG 1972-05-24 3 RK 40/69 = SozR Nr 34 zu § 184 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
1. Ist die Gewährung von Krankenhauspflege nach Art und Schwere der Krankheit (zB Tuberkulose) medizinisch erforderlich, so würde die KK bei der Ablehnung dieser Leistung die Grenzen ihres Ermessens überschreiten; der Anspruch des Versicherten auf richtigen Ermessensgebrauch verdichtet sich in derartigen Fällen zu einem Anspruch auf die Leistung selbst.
2. Krankenhauspflege (RVO §§ 184, 205) wegen Tuberkulose ist gegenüber der Tuberkulosenhilfe des Sozialhilfeträgers oder des öffentlichen Dienstherrn vorrangig zu gewähren; entgegenstehende Bestimmungen der Versicherungsbedingungen einer Ersatzkasse sind unzulässig.
3. Hat der Dienstherr für die Ehefrau eines freiwillig krankenversicherten Beamten die Kosten der Tuberkulosebehandlung übernommen, kann er nach BSHG § 90 den Leistungsanspruch gegen die KK auf sich überleiten.
Normenkette
RVO § 184 Abs. 4 Fassung: 1911-07-19, § 205 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1930-12-01; BSHG § 90 Abs. 1-2; RVO § 184 Abs. 1 Fassung: 1911-07-19; VAG § 21 Abs. 1 Fassung: 1931-06-06; SVAufbauV 12 Art. 2 § 2 Abs. 2 Fassung: 1935-12-24
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. August 1969 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, wer für die Krankenhauspflege bei Lungentuberkulose der Ehefrau eines niedersächsischen Landesbeamten aufzukommen hat.
Der Versicherte P ist als Beamter freiwilliges Mitglied der Beklagten. Seine Ehefrau wurde auf Antrag des Gesundheitsamtes wegen einer Tuberkulose (Tbc) zur stationären Heilbehandlung in eine Lungenklinik eingewiesen und verblieb dort vom 3. März bis zum 26. April 1964 und vom 11. Mai 1964 bis zum 10. April 1965. Die Beklagte lehnte es sowohl dem Versicherten wie auch dem Kläger gegenüber ab, für die Kosten der stationären Heilbehandlung aufzukommen, weil sie nach § 11 Ziff. 3 b ihrer Versicherungsbedingungen (VB) nicht leistungspflichtig sei. Mit Schreiben vom 9. Juni 1964 übernahm der Kläger die Kosten der Heilbehandlung, leitete zugleich die Ansprüche des Versicherten gegen die Beklagte auf sich über und kündigte an, nach Abschluß der Behandlung seine Ansprüche geltend zu machen.
Für die Behandlung und Aufnahme im Krankenhaus zahlte der Kläger insgesamt 11.095,60 DM. Er forderte vom Versicherten, sich nach § 84 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entsprechend seinem Einkommen mit 400,- DM monatlich an den entsprechenden Kosten zu beteiligen. Der Versicherte zahlte insgesamt 5.133,33 DM und erhielt von seinem Dienstherrn auf Grund dienstrechtlicher Bestimmungen späterhin darauf eine Beihilfe von 70 % der Eigenbeteiligung. Die Beklagte ihrerseits erklärte sich mit einem Schreiben vom 30. Dezember 1964 bereit, nach der Gewährung der Beihilfe im Rahmen der gesetzlichen Leistungsfristen die dem Versicherten verbliebenen Kosten zu übernehmen. Dieser Verpflichtung ist die Beklagte nachgekommen.
Nachdem der Kläger erfolglos von der Beklagten die Zahlung von 11.095,60 DM gefordert hatte, hat er vor dem Sozialgericht (SG) Hannover Klage auf Zahlung dieses Betrages erhoben. Er hat die Regelung des § 11 Ziff. 3 b VB als rechtsunwirksam angesehen und die Beklagte für leistungspflichtig gehalten. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. September 1968): Als Angehöriger des öffentlichen Dienstes stehe dem Versicherten bei Tbc nach § 127 BSHG ein unmittelbarer Anspruch auf Gewährung von Krankenhauspflege gegen seinen Dienstherrn zu. Daher habe die Beklagte die Leistung nicht ermessenswidrig versagt. Die Krankenversicherung (KrV) bezwecke zwar, den Versicherten zu schützen, nicht aber dessen Dienstherrn.
Die Berufung des Klägers an das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 27. August 1969): Die Tbc-Hilfe des Dienstherrn gehe im öffentlichen Dienst den auf Rechtsvorschriften beruhenden Ermessensleistungen Dritter vor. Die Krankenhauspflege des Krankenversicherungsträgers sei ihrem rechtlichen Charakter nach eine Ermessensleistung, rangiere demgemäß hinter der Tbc-Hilfe. Die Beklagte sei berechtigt, in einem solchen Fall die Leistung satzungsmäßig auszuschließen, ohne gesetzliche Bestimmungen damit zu verletzen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung des § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. §§ 127 Abs. 4, 48 Abs. 3, 2 Abs. 2 Satz 2 BSHG. Die Beklagte sei verpflichtet, der Ehefrau des Versicherten stationäre Heilbehandlung zu gewähren, weil sie medizinisch erforderlich gewesen sei. Mit der Versagung der Leistung überschreite sie die Grenzen ihres Ermessens. Da ein Anspruch auf Krankenhauspflege bestehe, sei der Dienstherr nur nachrangig zur Tbc-Hilfe verpflichtet. Diese Rechtslage könne nicht durch Satzungsbestimmungen geändert werden. Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. August 1969 und des Sozialgerichts Hannover vom 25. September 1968 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 11.095,60 DM zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß dem Versicherten ein Rechtsanspruch auf Tbc-Hilfe für seine Ehefrau gemäß § 127 BSHG gegen seinen Dienstherrn zustehe. Er gehe dem Anspruch auf Krankenhauspflege nach § 184 RVO, der nur auf Ermessen beruhe, vor. Zumindest müsse es dem Versicherten als Beamten freistehen, ob er auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn oder auf die Leistungen der Krankenkasse zurückgreifen wolle. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle der Träger der KrV bei aktiver Tbc nicht in Anspruch genommen werden, deswegen mache § 1244 a RVO den Rentenversicherungsträger leistungspflichtig. Dementsprechend sei es sachgerecht, die Krankenkasse auch von der Leistungspflicht für freiwillig Versicherte zu entlasten; diesem Zweck diene der Leistungsausschluß in § 11 Ziff. 3 b VB, der sich im Rahmen der der Kasse zur Verfügung stehenden Gestaltungsmöglichkeiten halte. Die Forderung des Klägers sei auch der Höhe nach unbegründet, da der Versicherte einen Kostenanteil selbst getragen habe. Darüber hinaus sei bisher nicht nachgeprüft worden, ob sich der Kläger einen weiteren Anteil von seinem Auftraggeber habe erstatten lassen.
II
Die Revision ist begründet. Die Beklagte ist dem Grunde nach verpflichtet, die Kosten für die Krankenhauspflege der Ehefrau des Versicherten dem Kläger zu erstatten.
Der Kläger hat durch die schriftliche Anzeige vom 9. Juni 1964 die Ansprüche auf sich übergeleitet, die dem Versicherten P. aus dem zwischen ihm und der Beklagten bestehenden Versicherungsverhältnis erwachsen (§ 90 Abs. 1 und 2 BSHG). Er ist mithin aktiv legitimiert, diese Ansprüche im Rechtsstreit geltend zu machen.
Vorgehende Leistungsverpflichtungen des Rentenversicherungsträgers stehen dem Anspruch aus der KrV nicht entgegen, weil weder der Versicherte noch seine Ehefrau die Voraussetzungen des § 21 a Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erfüllen.
Nach dem Recht der KrV war die Beklagte verpflichtet, der Ehefrau des Versicherten im Wege der Familienhilfe Krankenhauspflege zu gewähren (§ 205 Abs. 1 Satz 1 RVO i. V. m. § 184 Abs. 1 und 4 RVO); denn ihre stationäre Behandlung war auf Grund der Tbc medizinisch erforderlich. In einem solchen Fall darf die Krankenkasse, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl. Urteil vom 16. Oktober 1968 - 3 RK 59/65 - in SozR § 184 RVO Nr. 21; BSG 31, 112, 114), die Krankenhauspflege nicht verweigern. Die medizinisch notwendige Krankenhauspflege geht als Pflichtleistung i. S. des § 2 Abs. 1 BSHG den entsprechenden Leistungen des Trägers der Tuberkulosehilfe vor, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 17. April 1970 (BSG 31, 112, 115) näher dargelegt hat. Der Senat hat sich hierbei bereits mit dem neuerlich von Dellinger (Die Sozialgerichtsbarkeit 1972, 247) hervorgehobenen Argument der Fassung des Gesetzestexts auseinandergesetzt; er hält daran fest, daß der systematische Zusammenhang, die historische Entwicklung, die im Gesetzgebungsverfahren erkennbar gewordene Motivation des Gesetzgebers und der Zweck der Regelung die von ihm vertretene Auslegung gebieten.
Steht einem Versicherten auf Grund gesetzlicher Regelung ein bestimmter Anspruch zu, so kann dieser nicht durch die Satzung eines Versicherungsträgers oder durch die Satzung ergänzende Versicherungsbedingungen ausgeschlossen werden. Zwar ist die Regelung der Versicherung für Versicherte nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht gemäß § 4 Abs. 2 der 12. Verordnung (VO) zum Aufbau der Sozialversicherung i. d. F. der 15. VO vom 1. April 1937 (RGBl I 439) grundsätzlich der Satzung vorbehalten; jedoch findet die autonome Rechtsetzungsbefugnis der Krankenkasse ihre Grenze in den übergeordneten gesetzlichen Normen (§ 323 RVO). § 11 Ziff. 3 b VB ist schon aus diesen Gründen rechtsunwirksam (vgl. Urteil vom 24. Mai 1972 - 3 RK 40/69 - in SozR, § 184 RVO, Nr. 34 und schon früher für die Zeit der Geltung des Tuberkulosehilfegesetzes vom 23. Juli 1959, Urteil vom 23. November 1966 - 3 RK 16/64 - in SozR, 12. AufbauVO § 4, Nr. 8).
In Ergänzung der erstgenannten Entscheidung, in der die Frage offengelassen worden war, leitet der Senat die Ungültigkeit des § 11 Ziff. 3 b VB auch aus der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes her, wie er - insofern mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) übereinstimmend - seinen Niederschlag in Art. 2 § 2 Abs. 2 der 12. VO zum Aufbau der Sozialversicherung vom 24. Dezember 1935 (RGBl I 1537) i. V. m. § 21 des Gesetzes über die Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmungen und Bausparkassen i. d. F. der Bekanntmachung vom 6. Juni 1931 (RGBl I 315, 750) gefunden hat. Hiernach dürfen Mitgliederbeiträge und Vereinsleistungen an die Mitglieder bei gleichen Voraussetzungen nur nach gleichen Grundsätzen bemessen sein. Der Ausschluß der Gewährung von Krankenhauspflege ist aber in § 11 Ziff. 3 b VB nur für diejenigen nichtversicherungspflichtigen Mitglieder vorgesehen, denen nach dem BSHG Ansprüche darauf zustehen. Die Satzung differenziert mithin unter der Gruppe der - im übrigen nach den gleichen Bedingungen versicherten - freiwilligen Mitglieder die Gewährung von Leistungen, obwohl kein sich aus der Sache ergebender Grund dafür vorliegt. Die Tatsache, daß Mitgliedern mit beamtenrechtlichem Status nach den Vorschriften des BSHG Ansprüche erwachsen, kann nicht als hinreichend sachgerechte Begründung für den Leistungsausschluß anerkannt werden, weil die Krankenkasse damit die Gewährung oder Versagung einer Regelleistung von Ansprüchen aus einem anderen Rechtsverhältnis - dem Dienstverhältnis des Beamten - abhängig macht, das mit dem Versicherungsverhältnis in keinem rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang steht.
Zum anderen kann der Ausschluß der Kassenleistungen für bestimmte Mitglieder zu einer Belastung dieses Personenkreises führen und wird das auch häufig tun. Wenn das freiwillige Mitglied gemäß der Regelung in § 11 Ziff. 3 b VB Tbc-Hilfe in Anspruch nimmt, so ist es gesetzlich verpflichtet, sich entsprechend dem Gebot der Subsidiarität jener Leistung (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2, § 2 Abs. 1 BSHG) mit eigenen finanziellen Mitteln zu beteiligen. Von der Höhe seines Einkommens oder Vermögens hängt es ab, in welchem Umfang das Mitglied Kosten für die Krankenhauspflege selbst aufzubringen hat. Diese am Maßstab der Hilfsbedürftigkeit orientierte Differenzierung im Bereich der Sozialhilfe entspricht jedoch nicht den Prinzipien der gesetzlichen KrV und bietet daher kein sachgerechtes Kriterium, um Unterschiede in der Gewährung von Krankenversicherungsleistungen begründen zu können.
Die Beklagte erkennt offenbar selbst den Unrechtsgehalt der streitigen Satzungsbestimmung; denn sie versucht, wenn auch mit untauglichen Mitteln, die unterschiedliche Behandlung ihrer Mitglieder wieder zu beseitigen. Gerade in dem vorliegenden Rechtsstreit hat die Leistungsversagung seitens der Beklagten dazu geführt, daß der Versicherte erhebliche eigene Mittel für die stationäre Behandlung seiner Ehefrau hat aufbringen müssen. Auch wenn er dazu von seinem Dienstherrn eine Beihilfe erhalten hat, so ist ihm doch ein beträchtlicher Restbetrag als Eigenbelastung verblieben. Diese Summe hat die Beklagte späterhin zwar übernommen, ohne allerdings anzugeben, auf welche rechtliche Grundlage sie dabei zurückgegriffen hat. Anscheinend handelt es sich um eine auf freiem Ermessen beruhende Mehrleistung der Beklagten; denn deren Versicherungsbedingungen enthalten keine spezielle Regelung für eine derartige Leistung. Auch diese Zahlung vermag jedoch nicht als Äquivalent die ungleiche Behandlung bei der Gewährung bzw. Versagung einer Regelleistung wettzumachen; sie ist für den Versicherten weder ihrem Umfang noch dem Zeitpunkt ihrer Gewährung nach voraussehbar oder auch nur erkennbar. Die Beklagte hat denn auch den Versicherten zunächst aus seinen Mitteln leisten lassen und an ihn erst dann gezahlt, als der Dienstherr seinerseits Beihilfe gewährt hatte. Für die Zwischenzeit ist der Versicherte in jedem Fall belastet gewesen. Zusammenfassend ergibt sich demnach, daß die Regelung des § 11 Ziff. 3 b VB rechtsunwirksam ist.
Die Beklagte war demgemäß verpflichtet, ihrem Mitglied, dem Versicherten P., Krankenhauspflege seiner Ehefrau als Leistung der Familienhilfe zu gewähren. Sie hat jedoch bei Beginn der Krankenhauspflege sowohl dem Versicherten wie auch dem Kläger gegenüber die Gewährung der Leistung ausdrücklich verweigert; daraus folgt ihre Verpflichtung, nunmehr die Kosten zu tragen, die durch die Krankenhauspflege entstanden sind, da die stationäre Behandlung in dem Umfang stattgefunden hat, in dem sie auch von der Beklagten selbst zu gewähren gewesen wäre.
Da der Kläger die Ansprüche des Versicherten auf sich übergeleitet hat, kann er sie im Rechtsstreit geltend machen. Ob der dem Grunde nach berechtigte Anspruch auch im einzelnen der Höhe nach besteht, vermag der Senat nicht zu erkennen, weil das angefochtene Urteil dazu keine Feststellungen trifft. Auf die Revision des Klägers ist deshalb das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen