Leitsatz (redaktionell)
Feststellung des Beschwerdewertes iS von SGG § 149:
Bei einer Ersatzstreitigkeit zwischen Behörden oder Körperschaften des öffentlichen Rechts gilt der vom SG festgestellte Erstattungsbetrag auch dann als Beschwerdewert iS von SGG § 149, wenn der Verpflichtete bereits einen Teilbetrag - ohne gerichtliches Anerkenntnis - zugesagt hat.
Normenkette
SGG § 149 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. November 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob das klagende Landratsamt von der beklagten Allgemeine Ortskrankenkasse den Ersatz der Kosten für die kieferorthopädische Behandlung des Kindes E B verlangen kann.
Im September 1967 legte der Versicherte H R der Beklagten einen Kostenvoranschlag des Zahnarztes Dr. P über eine kieferorthopädische Behandlung des 1956 geborenen und seiner Pflege anvertrauten Kindes E B vor. Der Kostenvoranschlag belief sich auf 1.250,- DM. Die Beklagte sagte einen Kostenzuschuß von 500,- DM und die Landesversicherungsanstalt (LVA) R einen solchen von 200,- DM zu.
Auf Anfrage der Beklagten teilte die Vertrauensärztliche Dienststelle der LVA jener mit, bei der vorgesehenen kieferorthopädischen Behandlung handele es sich um eine gesundheitsfürsorgerische Maßnahme; eine Krankheit i. S. der Reichsversicherungsordnung (RVO) liege nicht vor. Daraufhin lehnte die Beklagte das Begehren des Klägers ab. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger für die kieferorthopädische Behandlung des Kindes E B 900,- DM Ersatz zu leisten. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung mit dem Antrag eingelegt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen. Es hat die Auffassung vertreten, die Beschwerdesumme von 500,- DM werde nicht erreicht. 500,- DM habe die Beklagte zugesagt, so daß sie nur noch in Höhe von 400,- DM beschwert sei; mithin seien die Voraussetzungen des § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht gegeben. Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (§ 150 Nr. 2 SGG) liege nicht vor.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Die Beklagte hat dennoch dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 149 SGG. Anstelle eines Prozeßurteils hätte ein Sachurteil ergehen müssen: Das Berufungsgericht habe nicht beachtet, daß der Beschwerdewert über 500,- DM liege. Materiell-rechtlich stehe fest, daß es sich bei dem Kind E B um ein Pflegekind des Versicherten R handele. Pflegekinder seien jedoch nicht in den Personenkreis der Familienversicherten einbezogen (§ 205 Abs. 2 RVO). Zwar könne sich nach § 205 Abs. 3 RVO die Satzung für die Familienkrankenpflege unter bestimmten Voraussetzungen auf sonstige Versicherte erstrecken. § 24 Abs. 4 der Satzung der Beklagten sehe jedoch die Gewährung von Familienkrankenhilfe nur für solche Kinder vor, für die der Versicherte den vollen Unterhalt leiste. Der Kläger habe auf Anfrage des Berufungsgerichts mitgeteilt, daß das Kind E B bis zum 31. August 1971 ein Pflegegeld in Höhe von 250,- DM monatlich erhalten habe und ab 1. September 1971 eine Ausbildungshilfe in Höhe von 310,- DM monatlich. Auf den Inhalt der Prozeßakten werde im vorinstanzlichen Urteil im einzelnen Bezug genommen. Deswegen gehöre das genannte Schreiben mit zu der in dem Tatbestand aufgenommenen Sachschilderung.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 4. November 1971 und des SG Koblenz vom 18. Februar 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist begründet.
Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) wäre sie nur statthaft, wenn ein Mangel im Verfahren des LSG mit Erfolg gerügt worden wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und auch vorliegt (BSG 1, 150). Ein solcher Verfahrensmangel wäre dann gegeben, wenn das LSG, das die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen hat, dieses Prozeßurteil zu Unrecht erlassen hätte, anstatt in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. u. a. BSG 1, 283, 286; 15, 169, 172).
Das LSG hätte ein Sachurteil erlassen müssen. Es handelt sich im vorliegenden Fall um eine Ersatzstreitigkeit zwischen Behörden bzw. Körperschaften des öffentlichen Rechts; hier ist nach § 149 SGG die Berufung nur dann nicht zulässig, wenn der Beschwerdewert 500,- DM nicht übersteigt. Die Beklagte ist durch das Urteil des SG für verpflichtet erklärt worden, dem Kläger für die kieferorthopädische Behandlung des Kindes E B in Höhe von 900,- DM Ersatz zu leisten. Diese "Verpflichtung" stellt nichts anderes dar als die Verurteilung zur Zahlung.
Zu Unrecht geht das LSG davon aus, daß bei der Berechnung des Beschwerdewertes der bereits von der Beklagten zugesagte Zuschuß von 500,- DM abzuziehen ist. Ein gerichtliches Anerkenntnis liegt insoweit nicht vor; zur Wirksamkeit hätte das Anerkenntnis überdies angenommen werden müssen (§ 101 Abs. 2 SGG). Die Beklagte hat vielmehr im Verfahren vor dem Sozialgericht wie dem Berufungsgericht die volle Abweisung der Klage - also ohne Berücksichtigung der zugesagten 500,- DM - beantragt. Mit der Verurteilung zur Zahlung von 900,- DM an die Klägerin war sie mithin durch das Urteil des SG um diesen Betrag beschwert. Das LSG hätte daher, statt die Berufung als unzulässig zu verwerfen, eine Sachentscheidung treffen müssen. Wegen dieses wesentlichen Mangels des Verfahrens vor dem LSG war das angefochtene Urteil aufzuheben.
Der Senat konnte jedoch nicht selbst in der Sache entscheiden. Zwar hat das LSG festgestellt, daß es sich bei dem Kind E B um ein Pflegekind des klagenden Versicherten handelt. Diese Kinder sind jedoch nicht in den Personenkreis einbezogen, für den der Versicherte kraft Gesetzes Anspruch auf Leistungen der Familienhilfe hat (vgl. § 205 Abs. 2 RVO). Gemäß § 205 Abs. 3 Satz 1 RVO kann die Satzung die Familienkrankenpflege unter bestimmten Voraussetzungen auf sonstige Angehörige des Versicherten erstrecken. Die Beklagte hat in der für den hier maßgeblichen Zeitraum geltenden Satzung vom 28. September 1968 (idF des 2. Nachtrages) von der Ermächtigung des § 205 Abs. 3 RVO Gebrauch gemacht. Nach § 24 Abs. 4 dieser Satzung gewährte sie Familienkrankenpflege für Pflegekinder, für die der Versicherte den vollen Unterhalt leistet (vgl. Erlasse des Reichsarbeitsministers vom 13. Juli 1940 - AN 1940, 249 - und vom 8. März 1941 - AN 1941, 129 -).
Hinsichtlich der Frage, ob der Versicherte tatsächlich den vollen Unterhalt des Pflegekindes geleistet hat, meint die Beklagte, dieses sei durch das LSG festgestellt worden, weil in dem angefochtenen Urteil auf den Inhalt der Prozeßakten und des vorinstanzlichen Urteils Bezug genommen worden sei; in diesen Akten befinde sich eine Mitteilung des Klägers, daß die Pflegeeltern vom Kreisjugendamt bis zum 31. August 1971 ein Pflegegeld in Höhe von 250,- DM monatlich und ab 1. September 1971 eine Ausbildungshilfe in Höhe von 310,- DM monatlich erhalten hätten.
Diese Bezugnahme auf die Akten ersetzt jedoch nicht die tatsächlichen Feststellungen, wie sie § 163 SGG erfordert, sondern ist - wie sich aus § 136 Abs. 2 SGG ergibt - nur ein Teil der Darstellung des Tatbestandes (vgl. BSG vom 16. Dezember 1959 in SozR Nr. 87 zu § 136 SGG), dies um so mehr, als das Urteil des LSG sich nur mit der fahrensrechtlichen Frage der Zulässigkeit der Berufung befaßt hat.
Da somit nicht alle für eine Sachentscheidung des Senats erforderlichen Tatsachen festgestellt sind, mußte der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses wird auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zutreffen haben.
Fundstellen