Leitsatz (amtlich)
1. Aus den Urteilen der Tatsacheninstanzen muß sich ergeben, weshalb die Voraussetzungen für die begehrte Rente nicht vorliegen (Anschluß an BSG 1974-05-09 11 RA 252/73 = SozR 1500 § 136 Nr 1).
2. Zur Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht der Tatsachengerichte, wenn die die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder wegen Berufsunfähigkeit begehrende und in ihrer Leistungsfähigkeit zeitlich eingeschränkte Versicherte bei der Deutschen Bundespost in einem grundsätzlich unkündbaren Arbeitsverhältnis steht, das eine Ganztagsbeschäftigung betrifft.
Leitsatz (redaktionell)
Die Prüfung des Teilzeitarbeitsmarktes iS der Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 1969-12-10 darf selbst dann nicht unterbleiben, wenn der in seiner beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkte Versicherte zu dem Personenkreis der nach dem BAT unkündbaren Angestellten gehört.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG §§ 103, 136 Abs. 1 Nr. 6
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1974 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist, ob die Klägerin erwerbsunfähig oder wenigstens berufsunfähig ist und ihr deshalb die entsprechende Versichertenrente zusteht (§§ 23 und 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Die 1916 geborene ledige Klägerin ist - von einer 1 1/2 jährigen Unterbrechung abgesehen - seit 1938 als Postangestellte versicherungspflichtig beschäftigt. Den im Juni 1972 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß durch die ärztlicherseits festgestellte allgemeine Gefäßverhärtung ohne Zeichen einer Herzleistungsminderung, die chronische Gallenblasenfunktionsstörung, die Verschleißerscheinungen im Bereich der Wirbelsäule mit Neigung zu Muskelverspannungen sowie die Unausgeglichenheit des unbewußten Nervensystems mit Neigung zu Verstimmungszuständen die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht in einem die Berufsunfähigkeit oder gar die Erwerbsunfähigkeit rechtfertigenden Ausmaß eingeschränkt werde (Bescheid vom 1. November 1972).
Das Sozialgericht (SG) beauftragte Obermedizinalrat Dr. ... mit der Erstattung eines umfassenden Gutachtens. Dieser stellte bei der Klägerin folgende krankhafte Veränderungen fest: Herzmuskelschaden, Aortensklerose, Fehlhaltung der Halswirbelsäule und degenerative Lendenwirbelsäulenveränderungen, Schleimhautpolyp in der Gallenblase, leichtgradige vegetative Labilität, Hallux-valgus-Bildung beiderseits, Senkspreizfußbildung beiderseits und Verformung der Zehen 2 bis 5 beiderseits zu Hammerzehen. Das SG verpflichtete die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Mai 1973 an (Urteil vom 26. April 1973). Im Berufungsverfahren holte das Landessozialgericht (LSG) vom Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen eine Auskunft über folgende Fragen ein:
1. Wieviel weibliche Angestellte sind im Bundesgebiet im Innendienst der Bundespost als Teilzeitarbeitskräfte oder Halbtagskräfte beschäftigt?
2. Besteht für die Bundespost die Möglichkeit, eine ledige Mitarbeiterin, die bisher über 30 Jahre im einfachen Dienst (Postzeitungsstelle) ganztätig beschäftigt war und daher erhöhten Kündigungsschutz genießt, nunmehr aber infolge verschiedener Gesundheitsschäden nur noch 4 bis 5 Stunden täglich eingesetzt werden kann, als Teilzeitarbeitskraft bzw. Halbtagskraft innerhalb des Bundesgebietes weiter zu beschäftigen?
Das LSG hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. Es ging davon aus, daß die Klägerin entsprechend dem Beurteilungsergebnis des ärztlichen Sachverständigen Dr. ... nur noch leichte Arbeiten vorwiegend in sitzender Stellung in geschlossenen, heizbaren Räumen etwa fünf Stunden täglich verrichten könne. Nach den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 sei ihr mit dieser eingeschränkten Leistungsfähigkeit zwar im allgemeinen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, weil sich aus den in den Vierteljahresstatistiken der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA) II/1972 bis III/1973 für die Berufsgruppe der Verwaltungs-, Organisations- und Büroberufe ausgewiesenen Zahlen ergebe, daß das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen und für die Klägerin in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger sei als 75 : 100. Bei der Klägerin bestehe jedoch die Besonderheit, daß sie ihren Arbeitsplatz noch innehabe und somit nicht gezwungen sei, sich eine neue Stelle zu suchen. Allerdings sei hierbei zu berücksichtigen, daß ihr aufgrund ihres Gesundheitszustandes die Fortführung der noch ausgeübten Ganztagsbeschäftigung nicht mehr zugemutet werden könne, weil diese auf Kosten ihrer Gesundheit gehe. Deshalb liege auch der Hinweis der Beklagten auf die erschwerten Voraussetzungen einer Kündigung neben der Sache. Nach dem Auskunftsschreiben des Bundespostministeriums vom 29. November 1973 müsse indes generell davon ausgegangen werden, daß die Deutsche Bundespost in der Lage sei, eine Mitarbeiterin wie die Klägerin trotz der bei ihr vorliegenden Gesundheitsschädigungen als Halbtagskraft weiter zu beschäftigen, wenn man dabei alle Dienststellen des bundesweiten Verwaltungsbereichs als mögliche Beschäftigungsstellen in Betracht ziehe. Da sich die Klägerin auf das gesamte Wirtschaftsgebiet der Bundesrepublik verweisen lassen müsse, könne dahingestellt bleiben, ob ihr bei ihrer bisherigen Dienststelle in Bingen oder einer anderen Poststelle in der näheren Umgebung ihres Wohnortes eine Stelle als Halbtagskraft angeboten werden könnte. Bei dieser Sachlage könne es auch nicht mehr darauf ankommen, ob speziell bei der Deutschen Bundespost das Verhältnis der dort vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze für weibliche Hilfskräfte zur Zahl der dafür in Betracht kommenden Interessenten günstiger oder ungünstiger sei als 75 : 100. Gründe sozialer oder sonstiger Art, die es rechtfertigen könnten, für die ledige Klägerin einen etwaigen Umzug an einen anderen Ort als unzumutbar erscheinen zu lassen, seien nicht gegeben. Die Klägerin sei demnach weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig (Urteil vom 24. Januar 1974).
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Aufklärungspflicht.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Speyer, Zweigstelle Mainz vom 26. April 1973 zurückzuweisen; hilfsweise beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Das LSG hat das Vorliegen von Berufsunfähigkeit bei der Klägerin verneint, ohne daß sich aus seiner Entscheidung ergibt, inwiefern die nach § 23 Abs. 2 AVG für die Rente rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen fehlen. So hat das LSG nicht geprüft, ob der Klägerin die gesundheitlich allein noch in Betracht kommenden leichten Halbtagstätigkeiten unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 23 Abs. 2 Satz 2 AVG). Die Entscheidung über die soziale Zumutbarkeit des Verweisungsberufes richtet sich u.a. nach einem Vergleich der tariflichen Einstufung des bisher ausgeübten Berufes mit der tariflichen Bewertung der noch gesundheitlich in Betracht kommenden Tätigkeiten (vgl. BSG in SozR Nrn. 61, 102, 103 zu § 1246 RVO), wobei die etwaige Weiterzahlung des Gehalts aus Gründen des Besitzstandes nicht rechtserheblich sein kann (vgl. hierzu eingehend Hnida in DAngVers 1974, 162, 164 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG). Das LSG hat aber weder die tarifliche Einstufung der bisherigen Beschäftigung der Klägerin als Postangestellte festgestellt, noch geprüft, welcher Vergütungsgruppe eine Tätigkeit zuzuordnen wäre, die ihrem restlichen Leistungsvermögen entspräche. Zu dieser Prüfung dürfte die Beiziehung der Personalakten der Klägerin von ihrem bisherigen Dienstherrn zweckmäßig sein. Selbst wenn sie danach auf die gesundheitlich allein noch ausführbaren leichten sitzenden Tätigkeiten zumutbar im Sinne von § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG verwiesen werden könnte, wäre gemäß § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG gleichwohl noch zu prüfen gewesen, ob ihre Erwerbsfähigkeit im Verweisungsberuf mindestens die Hälfte des Durchschnittseinkommens einer Vergleichsperson im bisherigen Beruf erreicht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15. Juli 1969 in SozR Nr. 75 zu § 1246 RVO). Da die Klägerin - zeitlich gesehen - nur noch eine modifizierte Leistungsfähigkeit von 5 Stunden täglich besitzt, ist dies nicht von vornherein selbstverständlich (vgl. hierzu das von Hnida aaO S. 165 angeführte Beispiel, ferner BSG-Urteil vom 9. Mai 1974 - 11 RA 252/73). Der nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG erforderliche Vergleich zwischen der Erwerbsfähigkeit der Klägerin und der Vergleichsperson ist vom LSG aber ebenfalls nicht vorgenommen worden; jedenfalls enthält das Urteil auch hierzu weder tatsächliche Feststellungen noch rechtliche Erwägungen.
Da somit die Ausführungen des LSG nicht ausreichend erkennen lassen, daß die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit fehlen, kann das angefochtene Urteil schon deswegen keinen Bestand haben. Die für die abschließende Entscheidung insoweit noch erforderlichen Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht selbst treffen. Der Rechtsstreit ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sollte das LSG bei seiner neuen Entscheidung hinsichtlich des der Klägerin verbliebenen Leistungsvermögens wiederum die Beurteilung des Obermedizinalrates Dr. ... zu - Grunde legen, so wird das LSG - worauf die Revision zutreffend hinweist - zu beachten haben, daß dieser ärztliche Sachverständige in seinem Gutachten vom 9. März 1973 die Leistungsfähigkeit nicht nur - entsprechend der bisherigen Annahme des LSG - auf körperlich leichte, vorwiegend im Sitzen auszuführende Halbtagsarbeiten in geschlossenen heizbaren Räumen, sondern darüber hinaus auch auf nervlich nicht belastende und nicht zu einer Zwangshaltung führende Tätigkeiten (Maschinenschreiben) beschränkt hat. Schon deswegen ist die bisherige Anfrage des LSG beim Bundespostministerium, in welcher diese gesundheitlichen Leistungseinschränkungen der Klägerin nicht vollständig wiedergegeben sind, für die erforderliche Prüfung, ob der für sie noch in Betracht kommende Teilzeitarbeitsmarkt im Sinne der Beschlüsse des GS des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 192) offen oder praktisch verschlossen ist, nicht geeignet.
Unter Berücksichtigung des vom LSG festgestellten Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses der Klägerin beim Postamt Bingen und im Hinblick auf die naheliegende Möglichkeit einer Halbtagsbeschäftigung bei Heranziehung sämtlicher Dienststellen der bundesweiten Postverwaltung ist es zwar nicht zu beanstanden, daß das LSG seine Ermittlungen der in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zunächst auf eine Auskunft des Bundespostministeriums beschränkt hat. Dem LSG kann aber nicht in der Annahme gefolgt werden, im Falle der Klägerin komme es nicht mehr darauf an, ob das Verhältnis der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze für weibliche Kräfte mit dem Leistungsvermögen der Klägerin zur Zahl der dafür in Betracht kommenden Interessenten günstiger oder ungünstiger ist als 75 : 100. Ansonsten würde bei der Klägerin ein anderer rechtlicher Bewertungsmaßstab zu Grunde gelegt als er in den genannten Beschlüssen für sämtliche Versicherte mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit vorgesehen ist. Der GS hat die Feststellung, in welchem Ausmaß es geeignete Teilzeitarbeitsplätze für einen in seiner Leistungsfähigkeit geminderten Versicherten gibt, für entbehrlich gehalten, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich innehat (vgl. BSG 30, 167, 185). Dieser Ausnahmefall scheidet indes hier aus, weil nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG das zwischen der Klägerin und der Deutschen Bundespost noch bestehende Arbeitsverhältnis eine Ganztagsbeschäftigung betrifft, welche die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Das BSG hat als weitere Ausnahme von der notwendigen Feststellung des genauen Ausmaßes geeigneter Teilzeitarbeitsplätze auch die Fälle anerkannt, in denen ein Versicherter es ohne triftigen Grund ablehnt, einen ihm angebotenen oder sonst wie bekanntgewordenen zumutbaren Arbeitsplatz einzunehmen, der seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit entspricht (vgl. BSG aaO). Unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes darf das LSG die sonst für die Frage des praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes maßgeblichen Verhältniszahlen allenfalls dann unbeachtlich lassen, wenn die noch erforderlichen Ermittlungen ergeben sollten, daß die Klägerin im Bereich ihres bisherigen Wohnortes einen ihrem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz bei der Deutschen Bundespost erhalten oder von dem für ihren Wohnort zuständigen Arbeitsamt auf einen anderen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz vermittelt werden könnte (vgl. hierzu BSG in SozR Nrn. 111 und 115 zu § 1246 RVO).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen