Entscheidungsstichwort (Thema)
Satzungsmäßige Unternehmerversicherung. Bildung der Gefahrklasse. einheitliche Gefahrklasse für Unternehmer. Gefahrklasse nach Gewerbszweig. Rechtsnatur des Gefahrtarifes
Orientierungssatz
Eine Berufsgenossenschaft hat sich dadurch, daß sie in den Gefahrtarifen eine eigene Tarifstelle für die satzungsmäßig versicherten knapp 20.000 Unternehmer und die in den Unternehmen mittätigen Ehegatten gebildet hat, noch im Rahmen der ihr gesetzlich eingeräumten Gestaltungsfreiheit gehalten. Auch in unterschiedlichen Gewerbszweigen weisen die - vielfältigen - unternehmerischen Tätigkeiten ihrer Art nach Gemeinsamkeiten und gegenüber den Arbeitnehmern auch gemeinsame Unterschiede auf, an die bei der Bildung einer eigenen Gefahrtarifstelle angeknüpft werden kann. Die Herausnahme derjenigen Unternehmer, die eine Zusatzversicherung abgeschlossen haben, aus dieser Tarifstelle kann nicht verlangt werden.
Normenkette
RVO § 543 Abs 1, §§ 730, 731 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.10.1983; Aktenzeichen III UBf 30/82) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 18.06.1982; Aktenzeichen 24 U 30/81 24 U 30/81) |
Tatbestand
Die Beklagte hat die Versicherung durch ihre Satzung auf Unternehmer und ihre im Unternehmen tätigen Ehegatten erstreckt (§ 543 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Der nicht verheiratete Kläger unterhält seit dem Jahre 1965 ein Farbfoto-Fachlabor ohne Beschäftigte. Mit Wirkung vom 1. Januar 1975 nahm ihn die Beklagte in ihr Unternehmerverzeichnis auf, erteilte ihm einen Mitgliedsschein und veranlagte sein Unternehmen zu den Klassen des ab 1. Januar 1972 und des ab 1. Januar 1977 geltenden Gefahrtarifs (Bescheide vom 29. Mai 1980). Die Veranlagung erfaßt die Gefahrtarifstelle 2 - kaufmännisches Personal - (Gefahrklassen 0,3 bzw 0,7), Gefahrtarifstelle 6 - Herstellung von Fotografien - (Gefahrklassen 1,5 bzw 1,6) sowie Gefahrtarifstelle 1 - "Pflichtversicherung Unternehmer und mittätiger Ehegatte" - mit den Gefahrklassen 1,7 bis zum 31. Dezember 1976 und 2,4 für die anschließende Tarifzeit. Mit dem Widerspruch gegen die Veranlagungsbescheide machte der Kläger insbesondere geltend, die Bildung einer einheitlichen Gefahrklasse für die Unternehmerversicherung sei unzulässig, weil dies dazu führe, daß Kleinbetriebe die Gefahren von Großbetrieben mittragen müßten; eine Benachteiligung für ihn als Kleinunternehmer liege ua auch darin, daß er als Selbständiger in eine höhere Gefahrklasse eingestuft werde, als wenn er in derselben Weise unselbständig tätig wäre. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 19. Dezember 1980).
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat dem Antrag des Klägers folgend die Bescheide der Beklagten bezüglich der Veranlagung des Unternehmens des Klägers zu den Klassen des Gefahrtarifs aufgehoben (Urteil vom 18. Juni 1982). Es ist der Auffassung, der Gefahrtarif der Beklagten in den seit 1972 geltenden Fassungen verstoße gegen das Gebot der Beitragsgerechtigkeit und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, wenn - wie hier - ein zwangsversicherter Unternehmer nur deshalb einen höheren Beitrag zahlen müsse, weil eine Reihe anderer Unternehmer sich freiwillig zusatzversichert habe und damit durch die größeren Aufwendungen der Beklagten eine höhere Gefahrklasse resultiere.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Berufung des Klägers hat es - mangels Beschwer - verworfen (Urteil vom 26. Oktober 1983). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Der vom SG zugrunde gelegte Sachverhalt habe sich insofern als unzutreffend herausgestellt, als in Wirklichkeit die Zusatzversicherung nicht auf Kosten der anderen pflichtversicherten Unternehmer durchgeführt worden sei. Auch im übrigen verstoße der Gefahrtarif der Beklagten nicht gegen höherrangige Normen. Das Gewerbszweigprinzip sei nicht zwingend vorgeschrieben. Beachtliche historische und versicherungsrechtliche Gründe für die Besonderheit der Unternehmerversicherung in Abweichung von der überwiegend als Arbeitnehmerversicherung konzipierten gesetzlichen Unfallversicherung ließen es als gerechtfertigt erscheinen, die pflichtversicherten Unternehmer und deren mittätige Ehegatten in einer Tarifstelle mit einheitlicher Gefahrklasse zusammenzufassen. Die knapp 20.000 bei der Beklagten pflichtversicherten Unternehmer bildeten auch eine für den erstrebten Risikoausgleich noch ausreichende Zahl. Demgegenüber würde eine weitere Unterteilung - etwa in Klein- und Großunternehmer - den wirtschaftlichen Sinn einer Versicherung hinfällig machen. Die für Unternehmer gebildete Tarifstelle erweise sich insofern als nicht atypisch und ungerecht, als sich bei einer Vielzahl anderer Tarifstellen höhere Gefahrklassen ergäben.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt, die Gefahrtarife der Beklagten verstießen mit der Gefahrtarifstelle 1 gegen den sich aus § 730 iVm § 731 RVO ergebenden Grundsatz, auf konkrete Tätigkeiten bzw Gewerbszweige und die ihnen erfahrungsgemäß anhaftende Unfallgefährlichkeit bezogene Gefahrklassen zu bilden. Der Unternehmer werde vielmehr als Betriebsinhaber ohne Rücksicht auf die Art seiner Tätigkeit pauschal der Gefahrtarifstelle 1 zugeordnet. Bei einer auf die Tätigkeit bzw den Gewerbszweig bezogenen Einstufung wäre seine - des Klägers - angemessene Gefahrklasse an der Gefahrtarifstelle 6 (Herstellung von Fotografien, Lichtpausen und Fotokopien) mit 1,5 bzw 1,6 statt 1,7 bzw 2,4 zu orientieren. Hinzu komme, daß die in Nr 2 der "Sonstigen Bedingungen" der Gefahrklassentarife vorgesehene Möglichkeit zur Herabsetzung der Gefahrklasse eines Gewerbszweiges in besonderen Fällen nicht auf pflichtversicherte Unternehmer anzuwenden sei, da sich die Gefahrstelle 1 nicht auf einen Gewerbszweig, sondern auf jeden Unternehmer als solchen beziehe.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), das Urteil des LSG Hamburg vom 26. Oktober 1983 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 18. Juni 1982 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Der Kläger wendet sich mit der Revision gegen die Veranlagungsbescheide der Beklagten vom 29. Mai 1980 insoweit, als er mit seinem Unternehmen in die Gefahrtarifstelle 1 - Versicherung der Unternehmer und ihrer mittätigen Ehegatten - mit der Gefahrklasse 1,7 (Tarifzeit bis zum 31. Dezember 1976) und der Gefahrklasse 2,4 (Tarifzeit ab 1. Januar 1977) eingestuft worden ist. Er macht geltend, die jeweiligen Gefahrtarife der Beklagten, auf denen die Veranlagung beruhe, verstießen gegen § 730 und § 731 RVO. Diese Auffassung teilt der Senat nicht.
Die Vertreterversammlung der Berufsgenossenschaft (BG) hat zur Abstufung der Beiträge nach dem Grad der Unfallgefahr durch einen Gefahrtarif Gefahrklassen zu bilden (s § 730 RVO). Nach § 731 hat der Vorstand den Gefahrtarif mindestens alle fünf Jahre mit Rücksicht auf die eingetretenen Arbeitsunfälle nachzuprüfen (Abs 1) und das Ergebnis der Nachprüfung mit einem nach Unternehmenszweigen geordneten Verzeichnis der Arbeitsunfälle, die einen Leistungsanspruch begründen, der Vertreterversammlung vorzulegen (Abs 2). Weitere Vorschriften über das Zustandekommen des Gefahrtarifs enthält das Gesetz nicht. In Erfüllung der ihnen gemäß § 730 RVO obliegenden Verpflichtung fassen die BG'en vergleichbare Risiken in Risikogemeinschaften (Gefahrengemeinschaften) zusammen und teilen sie im Gefahrtarif einer bestimmten Tarifstelle zu. Nach welchen Gesichtspunkten die Gefahrtarifstellen zu bilden sind, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Die Bildung kann nach verschiedenen Grundsätzen vorgenommen werden, und zwar in erster Linie nach Gewerbszweigen (Wirtschaftszweigen, Unternehmenszweigen, s § 731 Abs 2 RVO), aber auch nach Tätigkeiten, gemischten Prinzipien oder in einer Kombination dieser Verfahren (s auch Schulz, Gefahrtarif und Risikoausgleich bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften, 1981, Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen BG'en, S 86). Die Beklagte hat für die ihr als Mitglieder angehörenden, kraft Satzung versicherten Unternehmer (§ 543 RVO, § 42 der Satzung), zu denen der Kläger gehört, sowie die im Unternehmen tätigen Ehegatten durch die hier maßgebenden Gefahrtarife eine eigene Gefahrtarifstelle (1) gebildet. Die angefochtenen Veranlagungsbescheide tragen dem Rechnung. Die Auffassung der Revision, die Bildung der Gefahrtarifstelle 1 widerspreche den §§ 730, 731 RVO, trifft nicht zu.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Gefahrtarif seiner Rechtsnatur nach autonomes Recht des betreffenden Unfallversicherungsträgers. Er bildet kraft Gesetzes eine der von der Selbstverwaltung beschlossenen Rechtsgrundlagen, aufgrund deren die Verwaltung des Versicherungsträgers die diesem als Mitglieder angehörenden Unternehmer zur Beitragsleistung heranzieht. Im Rahmen der dem Versicherungsträger gesetzlich verliehenen Autonomie wird der Gefahrtarif von dem zuständigen Organ der Selbstverwaltung mit Rechtswirksamkeit für die in einer BG zusammengeschlossenen Unternehmer erlassen. Er ist somit objektives Recht (BSGE 27, 237, 240). Deshalb ist der Gefahrtarif, ungeachtet der autonomen Rechtssetzungsbefugnis des Versicherungsträgers, bei Streit über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts, der die Veranlagung zu einer bestimmten Gefahrklasse zum Inhalt hat, durch die Gerichte zwar auf seine Rechtsgültigkeit nachzuprüfen (BSGE aaO). Die richterliche Nachprüfung erstreckt sich insbesondere darauf, ob er Normen höherrangigen Rechts verletzt. Ähnlich wie dem Gesetzgeber ist aber auch den ihre Angelegenheiten selbst regelnden öffentlich-rechtlichen Körperschaften als Stellen der mittelbaren Staatsverwaltung und somit auch den Trägern der Sozialversicherung ein nicht zu eng bemessener Spielraum eingeräumt, soweit sie innerhalb der ihnen erteilten gesetzlichen Ermächtigung Recht setzen (BVerfG SozR 2200 § 543 Nr 6, BSGE aaO; 54, 232, 233; 54, 243, 244).
Die Vertreterversammlung der Beklagten hat sich dadurch, daß sie in den hier maßgebenden - vom Bundesversicherungsamt genehmigten - Gefahrtarifen eine eigene Tarifstelle für die satzungsmäßig versicherten knapp 20.000 Unternehmer und die in den Unternehmen mittätigen Ehegatten gebildet hat, noch im Rahmen der ihr, wie dargelegt, gesetzlich eingeräumten Gestaltungsfreiheit gehalten. Auch in unterschiedlichen Gewerbszweigen weisen die - vielfältigen - unternehmerischen Tätigkeiten ihrer Art nach Gemeinsamkeiten und gegenüber den Arbeitnehmern auch gemeinsame Unterschiede (vgl zB §§ 632 ff RVO und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 482 h) auf, an die bei der Bildung einer eigenen Gefahrtarifstelle angeknüpft werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Vorstand der Beklagten nach Teil II Nr 2 des jeweiligen Gefahrtarifs die Gefahrklasse um 10 bis zu 50 vH herabsetzen kann, wenn sich in Einzelfällen ergibt, daß infolge einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise geringere Gefahren vorliegen, als die, für welche die Gefahrklasse eines Gewerbszweiges im Teil I berechnet ist. Da die Versicherung der Unternehmer im Teil I des jeweiligen Gefahrtarifs in der Tarifstelle 1 unter der Überschrift "Gewerbezweige" aufgeführt sind, kann Teil II Nr 2 sinnvoll nur dahin ausgelegt werden, daß die Möglichkeit zur Herabsetzung der Gefahrklasse nach dieser Bestimmung auch für die Unternehmer besteht, wie übrigens die Praxis der Beklagten zeigt. Regelmäßig erfaßt jeder Gewerbszweig größere und kleinere Unternehmen, so daß sich dies nicht nur bei der von der Beklagten gewählten Tarifstellenbildung auswirkt. Auch die Herausnahme derjenigen Unternehmer, die eine Zusatzversicherung abgeschlossen haben, aus der Tarifstelle 1 kann nicht verlangt werden. Die Zusatzversicherten haben höhere Beiträge zu entrichten, obgleich eine erhöhte Unfallgefahr dieses Personenkreises aufgrund der Zusatzversicherung nicht ersichtlich und der größte Teil der Leistungen der BG (insbesondere Unfallverhütung, Heilverfahren, Verwaltung) unabhängig von der Höhe der Versicherungssumme ist. Unter Berücksichtigung dieser Umstände hält sich die von der Revision gleichwohl insoweit behauptete Belastung der nicht Zusatzversicherten nach den von der Revision nur für unzutreffend erachteten, aber nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat daher bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG in Grenzen. Der Senat hat nicht zu prüfen, ob die Vertreterversammlung der Beklagten die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Regelung der Tarifstellenbildung getroffen hat (BSGE 54, 232, 235 mwN). Danach kann der Kläger mit seinem Begehren keinen Erfolg haben.
Die Revision ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen