Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung des Veranlagungsbescheides
Leitsatz (amtlich)
Zu den Wirkungen der Veranlagung zur Gefahrklasse.
Orientierungssatz
Die Rücknahme eines verbindlichen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes kann auch nicht incidenter im Gerichtsverfahren durch ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit erfolgen. Vielmehr wäre sie durch die zuständige Behörde vorzunehmen. Es gilt der allgemeine Grundsatz, wonach die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Bescheide, die formell wirksam und daher beachtlich geworden sind, ohne vorherige Überprüfung durch die Behörde nicht beseitigen oder als rechtswidrig ansehen dürfen.
Normenkette
RVO § 725 Abs 1, §§ 730, 731 Abs 1, § 734 Abs 1, § 734 Abs 2, § 749 Nr 1; SGG § 77; SGB 10 § 39 Abs 2, § 44 Abs 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, durch ihren Bescheid vom 26. März 1981 (Widerspruchsbescheid vom 24. März 1983) für die Jahre 1978 und 1979 insgesamt Beiträge in Höhe von DM 56.215,92 von der Klägerin nachzufordern. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 14. März 1984) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 19. Februar 1985) haben dies angenommen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie betreibt Ingenieur-, Hoch- und Tiefbau. Für die Beitragsberechnung nach dem Grade der Unfallgefahr (§ 725 Abs 1, § 73O der Reichsversicherungsordnung -RVO-) ist in der Satzung der Beklagten bestimmt, daß sog "fremdartige Unternehmensteile" (hier: Straßen- und Kanalbau) so berücksichtigt werden, als ob die für den betreffenden Unternehmenszweig zuständige Berufsgenossenschaft -BG- (hier: Tiefbau-BG) die Beiträge berechnet.
Die Tiefbau-BG hatte Straßenbau und Kanalbau zunächst gemeinsam in ein und dieselbe Gefahrklasse - nämlich die Gefahrklasse 12 - eingeordnet. Ab Januar 1978 wurde für die Beklagte die Trennung dieser Gewerbezweige in unterschiedliche Gefahrklassen (Straßenbau Gefahrklasse 10, Kanalbau Gefahrklasse 15) wirksam. Die Beitragsnachberechnung ergibt sich aus dieser Aufspaltung und der Tatsache, daß die Klägerin nur wenig Straßenbau, jedoch in größerem Umfang Kanalbau, betrieb, die Beklagte jedoch die Beiträge zunächst so errechnete, als ob die Klägerin nur Straßenbau und keinen Kanalbau durchführte.
Die Beklagte veranlagte die Klägerin hinsichtlich des Straßen- und Kanalbaues entsprechend den Veränderungen im Gefahrtarif der Tiefbau-BG zu den Gefahrklassen (s § 734 Abs 1 RVO). Die letzte gemeinsame Einstufung erfolgte durch Bescheid vom 2. April 1976. Die Veranlagung ab 1. Januar 1978 durch den Bescheid vom 30. November 1978 erfaßte den Kanalbau irrtümlich nicht. In dem weiteren Bescheid vom 17. Februar 1981, ebenfalls wirksam für die Zeit ab 1. Januar 1978, erfolgte die Veranlagung des von der Klägerin betriebenen Kanalbaues.
Die genannten Veranlagungsbescheide wurden nicht angefochten.
Gegen die Nachforderung von Beiträgen wandte die Klägerin sich vor allem mit der Begründung, daß die Änderung bei der Einstufung in Gefahrklassen während der von 1976 bis 1980 laufenden Tarifzeit (§ 731 RVO) der Beklagten und zudem rückwirkend (durch Bescheid vom 26. März 1981 für die inzwischen abgelaufene Tarifzeit) erfolgt sei; außerdem sei der Veranlagungsbescheid vom 17. Februar 1981 unklar gewesen.
In dem Urteil des SG heißt es, satzungsgemäß seien für die Einstufung und die Beitragsberechnung der Unternehmensteile Strassen- und Kanalbau die für die Fach-BG - Tiefbau-BG - maßgeblichen Bestimmungen anzuwenden. Die danach geltenden Gefahrklassen seien von der Beklagten mit einjähriger Verschiebung anzuwenden gewesen; insoweit komme es auf die Tarifzeit bei der Tiefbau-BG an.
Auch nach der Auffassung des LSG durfte die Beklagte die fraglichen Beiträge nachfordern. Dies beruhe auf dem bindend gewordenen Änderungsbescheid vom 17. Februar 1981, dessen Rechtmässigkeit anläßlich der Überprüfung der angefochtenen Bescheide incidenter mitüberprüft werde. Die durch den Bescheid vom 17. Februar 1981 erfolgte Veranlagung des Unternehmensteils Kanalbau der Klägerin sei nicht zu beanstanden. Es handele sich dabei nicht um eine unzulässige Neuveranlagung während einer laufenden Tarifzeit; denn für fremdartige Unternehmensteile gelte die Tarifzeit der jeweiligen Fach-BG, so daß es auf die Voraussetzungen des § 734 Abs 2 RVO nicht ankomme. Der Bescheid vom 17. Februar 1981 sei auch ausreichend verständlich. Die Nachberechnung der Beiträge sei daher zulässig und beruhe auf § 749 Nr 1 RVO.
Nach Meinung der Revision hätte die Beitragsnachberechnung nicht mehr nach Ablauf der maßgeblichen Tarifzeit Ende 1980 erfolgen dürfen. Eine Aufsplitterung von Tarifzeiten je nach Unternehmensteil sei nicht zulässig. Sie habe der Beklagten die Unterlagen für die Beitragsberechnung entsprechend den ihr vorliegenden Veranlagungsbescheiden unterbreitet. Die Beklagte sei auch danach verfahren und habe einen Vertrauenstatbestand geschaffen, welcher Schutz verdiene. Darüber hinaus enthalte der Gefahrtarif der Beklagten bezüglich der fremdartigen Unternehmensteile nur lückenhafte Regelungen.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Februar 1985 abzuändern und das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 14. März 1984, den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1981 und deren Widerspruchsbescheid vom 24. März 1983 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, daß für fremdartige Unternehmensteile die Tarifzeit der Fach-BG maßgebend sei, allerdings notgedrungen mit einjähriger Verzögerung. Die Klägerin sei von ihr ausführlich über die einschlägige Rechtslage ins Bild gesetzt worden. Im übrigen sei die nachträgliche Neuveranlagung wegen der mangelnden Mitwirkung der Klägerin nicht rechtzeitig vorgenommen worden. Ein achtenswerter Vertrauenstatbestand liege daher nicht vor.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten über die Beitragsnachforderung in der Form des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1983 ist rechtmäßig.
SG und LSG haben zutreffend geprüft, ob die in § 749 RVO festgelegten Voraussetzungen für eine nachträgliche Erhöhung der Beiträge vorlagen. Sie haben diese Frage mit Recht bejaht.
Gemäß Nr 1 dieser Vorschrift - die Erfordernisse der Nrn 2 und 3 sind erkennbar nicht erfüllt - setzt die nachträgliche Festsetzung höherer Beiträge eine entsprechende Änderung der Veranlagung zu den Gefahrklassen voraus. Diese hier maßgebliche Änderung erfolgte durch den Bescheid vom 17. Februar 1981. Mit ihm ist der von der Klägerin getätigte Kanalbau ab 1. Januar 1978 entsprechend den Satzungsvorschriften der Tiefbau-BG neu eingestuft worden, und zwar in eine ungünstigere als die bisherige Gefahrklasse. Die Nichtanfechtung der Neuveranlagung im Bescheid vom 17. Februar 1981 führte zu deren Verbindlichkeit unter den Beteiligten (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), und zwar selbst für den von der Klägerin angenommenen Fall, daß der Bescheid wegen eines angeblich unzulänglichen Inhalts rechtswidrig war. Diese Bindungswirkung ist von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu beachten.
Das LSG weist allerdings richtig darauf hin, daß auch verbindlich gewordene Verwaltungsakte ihre Wirksamkeit verlieren können, nämlich dann, wenn sie im Rahmen der maßgebenden Vorschriften zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben werden oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt sind. Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil "incidenter" (Seite 8) die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 17. Februar 1981 "mitgeprüft". Diese Prüfung war nach der Überzeugung des erkennenden Senats jedoch nicht zulässig, vielmehr war ohne weiteres von den Festlegungen in diesem Bescheid auszugehen.
Die Vorschriften über die Wirksamkeit von Bescheiden unterscheiden zwischen anfechtbaren und nichtigen Verwaltungsakten. Nur die letzteren bedürfen nicht der formellen Aufhebung; sie sind gem § 39 Abs 3 SGB X unwirksam und brauchen daher von niemanden beachtet und befolgt zu werden (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 231 z I; Schroeder-Printzen/ Engelmann/Wiesner/v. Wulffen, Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren - SGB X, § 39 Anm 11 mwN; Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch SGB X, § 39 Rz 23). Demgegenüber bleiben andere Verwaltungsakte, auch wenn sie rechtswidrig sein sollten, bis zur Rücknahme oder bis zum Widerruf oder bis zur anderweitigen Aufhebung wirksam, wenn sie sich nicht durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigen (s § 39 Abs 2 SGB X). Da der Bescheid vom 17. Februar 1981, durch welchen der Unternehmensteil Kanalbau der Klägerin ab 1. Januar 1978 in eine andere - ungünstigere - Gefahrklasse eingestuft wurde, nicht an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies auch nicht offenkundig wäre (§ 40 SGB X), ist von seiner Wirksamkeit auszugehen.
Die Rücknahme dieses nicht begünstigenden Verwaltungsaktes kann wegen seiner Verbindlichkeit auch nicht incidenter im Gerichtsverfahren durch ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit erfolgen. Vielmehr wäre sie (s auch § 44 Abs 3 SGB X) durch die zuständige Behörde vorzunehmen. Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz, wonach die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Bescheide, die formell wirksam und daher beachtlich geworden sind, ohne vorherige Überprüfung durch die Behörde nicht beseitigen oder als rechtswidrig ansehen dürfen. Das LSG war daher nicht befugt, die Veranlagung zur Gefahrklasse, wie sie im Bescheid vom 17. Februar 1981 erfolgte, mitzuprüfen. Vielmehr mußte es - wie auch der erkennende Senat - von seinem Bestehen und Bestand ausgehen.
Damit erübrigt sich die Beantwortung der von der Klägerin in den Mittelpunkt der Erörterung gestellten Frage, ob die Beklagte die Beitragsnachberechnung deshalb rechtswidrig vornahm, weil sie die Berechnung "rückwirkend", dh nach Ablauf der Tarifzeit und unter Verletzung eines der Klägerin zukommenden Vertrauensschutzes vornahm; denn die Voraussetzungen für dieses Vorgehen schuf die Klägerin durch den Bescheid vom 17. Februar 1981. Dieser war der Klägerin bekannt, so daß sie auf seine Nichtanwendung nicht vertrauen konnte. Der Bescheid traf eine Regelung für die Zeit ab 1. Januar 1978.
Durch den Bescheid vom 17. Februar 1981 änderte die Beklagte die Veranlagung der Klägerin zur Gefahrklasse nachträglich, nämlich ab 1. Januar 1978, so daß nunmehr die Voraussetzungen vorlagen, unter denen nach § 749 Nr 1 RVO die Feststellung höherer Beiträge zulässig ist. Gleichzeitig legte die Beklagte ein wichtiges Element für die Beitragsberechnung ab 1. Januar 1978 fest. Denn außer nach dem Entgelt der Versicherten richtet sich die Höhe der Beiträge nach dem Grade der Unfallgefahr in dem Unternehmen (§ 725 Abs 1 RVO). Die unterschiedliche Unfallgefahr in den Unternehmen kommt in den Gefahrtarifen der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung dadurch zum Ausdruck, daß Unternehmen verschiedener Gewerbezweige entsprechend der wirklichen Unfallgefahr in Gefahrklassen eingestuft werden (hierzu BSGE 43, 289, 290/291; 55, 26, 28). Diese für eine Tarifzeit - etwa fünf Jahre - wirksame Veranlagung zur Gefahrklasse (§§ 731, 734 RVO) liegt der Nachberechnung der Beiträge in dem angefochtenen Bescheid zugrunde, ohne daß insoweit Fehler festgestellt oder auch nur geltend gemacht sind.
Damit bleibt festzuhalten, daß einerseits von der nachträglich vorgenommenen Veranlagung durch den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 1981 auszugehen war, und daß die Beklagte andererseits die Regelung dieses Bescheides dem angefochtenen Bescheid fehlerfrei zugrunde legte.
Die Revision der Klägerin war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen