Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbeschädigter. schädigungsbedingter Einkommensverlust. vorgezogenes Altersruhegeld. Beweiserleichterung
Leitsatz (amtlich)
Ein wegen Schädigungsfolgen Schwerbehinderter, der nach Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausscheidet und vorgezogenes Altersruhegeld erhält, erleidet einen schädigungsbedingten Einkommensverlust. Sein Berufsschadensausgleich ist nach dem ungekürzten Durchschnittseinkommen der vorausgegangenen Berufstätigkeit (Vergleichseinkommen) zu bemessen (Ergänzung zu BSG vom 4.7.1989 - 9 RV 16/88 = SozR 3100 § 30 Nr 78).
Normenkette
BVG § 30 Abs 3; BVG § 30 Abs 4 S 1; BVG § 30 Abs 5; BSchAV § 8 S 3
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.06.1989; Aktenzeichen L 11 V 1629/88) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 17.05.1988; Aktenzeichen S 12 V 3152/86) |
Tatbestand
Der Kläger ist 1985 nach Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und bezieht seitdem ein vorgezogenes Altersruhegeld aus der Rentenversicherung als Schwerbehinderter. Einen im Januar 1986 beantragten Berufsschadensausgleich hat der Beklagte abgelehnt (Bescheid vom 21. November 1986). Beim Kläger sind Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH anerkannt. Er war nach dem Krieg einige Jahre in seinem vor dem Kriegsdienst erlernten Beruf des Metzgers tätig, seit 1962 in der Elektroindustrie als Kantinenarbeiter, wobei er Fleisch und Wurstwaren zu portionieren hatte. Das Sozialgericht (SG) hat die auf einen Berufsschadensausgleich gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Mai 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab Januar 1986 Berufsschadensausgleich entsprechend einem Vergleichseinkommen der Leistungsgruppe 2 der männlichen Arbeiter im Industriebereich Elektrotechnik zu gewähren, ab 1. November 1988 gekürzt auf 75 vH. Soweit der Kläger einen Berufsschadensausgleich nach einem Vergleichseinkommen der Besoldungsgruppe A 9 - entsprechend einer ohne die Schädigung erreichten Stellung als Meister -, hilfsweise nach der Arbeiter-Leistungsgruppe 1 begehrte, hat es die Klageabweisung bestätigt. Das Berufungsgericht hat im Gegensatz zum SG nicht für entscheidend gehalten, ob der Kläger nach medizinischen Erkenntnissen wegen seiner Schädigungsfolgen als mindestens gleichwertiger Mitursache seine letzte Tätigkeit habe aufgeben müssen. Das vorgezogene Altersruhegeld zeige an, daß er wegen der MdE um 50 vH nach Vollendung des 60. Lebensjahres schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Das Vergleichseinkommen sei allerdings ab Vollendung des 63. Lebensjahres, wenn er ohne die Schädigungsfolgen die Erwerbstätigkeit hätte aufgeben können, um 25 vH zu mindern (Urteil vom 14. Juni 1989).
Der Beklagte beanstandet mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision, daß das Berufungsgericht auf die übliche und notwendige Kausalitätsbeurteilung verzichtet habe. Nach § 30 Abs 3 BVG müsse ein Einkommensverlust schädigungsbedingt entstanden sein. Der Kläger sei durch seine Schädigung nicht an einer weiteren Erwerbsarbeit gehindert gewesen. Ein schädigungsbedingtes Ausscheiden sei nicht stets anzunehmen, wenn ein Schwerbeschädigter die Vergünstigung des vorgezogenen Altersruhegeldes in Anspruch nehme. Die entgegenstehende Annahme des Berufungsgerichts verletze jenen Kausalitätsgrundsatz.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Daß der Kläger während seiner Erwerbstätigkeit keinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich hatte, ist nicht mehr streitig. Der allein noch umstrittene Berufsschadensausgleich wegen vorzeitigen schädigungsbedingten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben steht dem Kläger zu, wie das LSG zutreffend entschieden hat.
Der Berufsschadensausgleich hängt von einem durch die Schädigung verursachten Einkommensverlust ab; dieser bestimmt sich nach dem Unterschied zwischen dem gegenwärtig tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen und dem höheren Durchschnittseinkommen in dem Beruf, dem der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten sowie dem bisher betätigten Ausbildungs- und Arbeitswillen wahrscheinlich angehört hätte (§ 30 Abs 3 und 4 Satz 1 und Abs 5 BVG in der hier maßgebenden Fassung vom 22. Januar 1982 - BGBl I 21 - / 4. November 1985 - BGBl I 910 -). Die Verursachung eines solchen wirtschaftlichen Schadens im Beruf (§ 30 Abs 3 BVG) entspricht dem allgemeinen Grundsatz für die soziale Entschädigung der Kriegsopfer in § 1 Abs 1 und 3 Satz 1 BVG (st Rspr des Bundessozialgerichts -BSG-, Zitate in SozR 3100 § 30 Nr 72). Der Kläger bezöge ohne die Auswirkungen seiner kriegsbedingten Schädigung wahrscheinlich über die Vollendung des 60. Lebensjahres hinaus weiterhin ein Entgelt aus seiner Kantinentätigkeit in der Elektroindustrie, die das LSG, vom Kläger und vom Beklagten unangefochten, mit der Leistungsgruppe 2 der Arbeiter bewertet hat (§ 3 Abs 1 Satz 1 und 2 Nr 1 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 6 -BSchAV- vom 29. Juni 1984 - BGBl I 861 - / 4. Juni 1985 - BGBl I 910 -; RdSchr des BMA in Bundesversorgungsblatt 1960, 151). Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten ist in diesem Fall nicht nach dem genannten Kausalitätsgrundsatz in der üblichen Weise, vor allem mit Hilfe eines medizinischen Gutachtens, zu prüfen, ob die anerkannten Schädigungsfolgen die Alleinursache oder mindestens eine gleichwertige Mitursache für den Übertritt in den Ruhestand waren, wodurch sich das Einkommen verminderte, weil das Arbeitseinkommen durch das vorgezogene Altersruhegeld ersetzt wurde (vgl dazu zB BSGE 37, 80, 82 ff = SozR § 30 Nr 1).
Vielmehr gilt hier der beweiserleichternde Grundsatz, den der Senat bereits für die Bemessung des Vergleichseinkommens für die Fälle, in denen vorher schon ein Berufsschadensausgleich zugesprochen worden war, aus der Verbindung zwischen dem Recht der Kriegsopferversorgung und dem Recht der Rentenversicherung entwickelt hat (BSG SozR 3100 § 30 Nr 78; ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Senats vom 6. Dezember 1989 - 9 RV 31/88 -). An diese Rechtsprechung hat sich das LSG zutreffend gehalten.
Entsprechend der allgemeinen Erfahrung mit dem üblichen Berufsverlauf ordnet das Recht an, das Vergleichseinkommen, das dem durch den Übertritt in den Ruhestand regelmäßig verminderten Arbeitseinkommen gegenüberzustellen ist, pauschaliert um 25 vH zu mindern (§ 8 Satz 1 BSchAV). Ausnahmsweise ist von dieser Herabsetzung abzusehen, wenn der Beschädigte glaubhaft macht, daß er ohne die Schädigung noch erwerbstätig wäre (§ 8 Satz 3 BSchAV). Dies ist nach der Rechtsprechung des Senats stets anzunehmen, falls der Beschädigte wegen seiner Schwerbehinderung, die durch die anerkannten Schädigungsfolgen bedingt ist, nach Vollendung des 60. Lebensjahres vorgezogenes Altersruhegeld oder eine entsprechende beamtenrechtliche Altersversorgung in Anspruch nehmen kann und dies getan hat. Das beruht vor allem darauf, daß der Beschädigte ohne die Auswirkungen seiner Schädigung, die ihn zum Schwerbehinderten gemacht haben, nicht mit einer ausreichenden Altersversorgung aus dem Erwerbsleben hätte ausscheiden können. Es wird dabei unterstellt, daß kein Erwerbstätiger freiwillig aus dem Arbeitsleben ausscheidet, wenn nicht sein Lebensunterhalt durch Lohnersatzleistungen sichergestellt ist.
Dieser tragende Gedanke ist bei der Erstentscheidung über einen Berufsschadensausgleich - wie im Fall des Klägers - ebenfalls für die Kausalitätsprüfung iS des § 30 Abs 3 BVG maßgebend. Praktisch läßt sich in diesen Fällen ebensowenig wie für die Festlegung des Vergleichseinkommens bei bereits zuerkanntem Berufsschadensausgleich hinreichend sicher ermitteln, ob der Beschädigte unter Berücksichtigung seiner gesamten Lebensverhältnisse und der Gegebenheiten bei seinem Arbeitgeber gerade wegen seiner Schädigungsfolgen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist. Denn die Motive sind miteinander verwoben. Allerdings ist dem Beklagten zuzugeben, daß nicht jede notwendige Bedingung zugleich eine hinreichende ist. Wenn jedoch jemand mit 60 Jahren als Schwerbehinderter vorzeitig in den Ruhestand gehen kann, spricht dies nach dem Vorbild des Beweisregelsystems des § 8 BSchAV, insbesondere unter Beachtung des letzten Satzes, mindestens für eine wahrscheinliche Mitursache iS des Versorgungsrechts. Glaubhaftmachen bedeutet zwar definitionsmäßig nicht den gleichen Überzeugungsgrad wie Wahrscheinlichkeit (BSGE 52, 168, 171 = SozR 3870 § 3 Nr 13; SozR 3642 § 8 Nr 3); § 8 letzter Satz BSchAV gibt dem Glaubhaftmachen hier aber praktisch die gleiche Bedeutung. Die rentenversicherungsrechtliche Regelung, wonach ein Schwerbehinderter schon ab 60 Jahren ein vorgezogenes Altersruhegeld erhalten kann, genügt für ein Glaubhaftmachen. Angesichts der vielen möglichen Mitursachen ließe sich ohne eine solche beweiserleichternde Hilfskonstruktion nahezu niemals feststellen, daß die Schädigungsfolgen wahrscheinlich das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wesentlich verursacht haben. Ohne jene Beweiserleichterung für einen Personenkreis, der vom Gesetzgeber in den verschiedenen Altersversorgungssystemen besonders begünstigt und auch im Recht der Kriegsopferversorgung als besonders schutzbedürftig behandelt wird, wäre der Bezug eines Berufsschadensausgleichs allgemein ausgeschlossen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) hat diese Besonderheit in seinem Rundschreiben vom 28. Juli 1987 (BABl 1987 Heft 9 S 98 ff), auf das sich der Beklagte bezieht, nicht behandelt. Der Senat hat schon in seinem Urteil vom 3. Oktober 1984 (SozR 3100 § 30 Nr 64) die die Auslegung des § 8 BSchAV bestimmende Ausdehnung des beweiserleichternden Grundsatzes auf Fälle der Erstentscheidung über einen Berufsschadensausgleich vorgezeichnet, wie das LSG zutreffend erkannt hat. In diesem Urteil ist die gleiche Sachlage wie hier lediglich unter dem Gesichtspunkt des "Nachschadens" behandelt worden, was durch das Vorbringen der Beteiligten und die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts bedingt war. Der tragende Gesichtspunkt trifft aber auch für den hier gegebenen Fall zu, in dem zum ersten Mal nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben über einen Berufsschadensausgleich zu befinden ist und deshalb nach späterer Rechtsprechung (BSGE 62, 1, 3 = SozR 3100 § 30 Nr 69) ein Nachschaden nicht in Betracht kommt. Der vorgezogene Ruhestand für Schwerbeschädigte indiziert ein schädigungsbedingtes Ausscheiden.
Ob das Vergleichseinkommen schon von der Vollendung des 63. Lebensjahres an zu kürzen ist, bleibt offen, weil der Kläger keine Revision eingelegt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen