Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. April 1994 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die im Jahre 1938 in M. … (UdSSR, Gebiet Karaganda/Kasachstan) geborene Klägerin begehrt die Neufeststellung ihrer Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit unter Anrechnung weiterer Ersatzzeiten vom 1. April 1956 bis 9. März 1988 (soweit nicht mit Beitragszeiten nach §§ 15, 16 Fremdrentengesetz ≪FRG≫ belegt), weil sie durch feindliche Maßnahmen gehindert gewesen sei, aus der früheren UdSSR nach Deutschland auszureisen.
Die Klägerin reiste am 10. März 1988 in die Bundesrepublik Deutschland ein und ist im Besitz des Vertriebenenausweises „A” sowie einer Heimkehrerbescheinigung, wonach sie im November 1941 interniert und im März 1956 aus der Internierung entlassen worden ist.
Ihre Eltern waren Volksdeutsche und zunächst im deutschen Siedlungsgebiet an der Wolga ansässig. Im Rahmen der stalinistischen Kollektivierungsmaßnahmen, die sich auch gegen sowjetische Staatsbürger ohne deutsche Volkszugehörigkeit richteten, wurde die Familie bereits im Jahr 1931 in das Gebiet Karaganda/Kasachstan verschleppt, wo nach Angaben der Klägerin nur ca 10 % der Bevölkerung Volksdeutsche waren. In M. … lebten der Klägerin zufolge zwar vorwiegend Volksdeutsche, doch habe es dort praktisch nie deutsche kulturelle Einrichtungen gegeben. Nach Ausbruch des Krieges gegen die Sowjetunion wurde die Klägerin zusammen mit ihrer Familie im November 1941 interniert und erst im März 1956 aus der Kommandaturaufsicht entlassen. Sie blieb im Gebiet Karaganda/Kasachstan ansässig und arbeitete von April 1956 bis Februar 1988 mit kurzzeitigen Unterbrechungen vorwiegend im Steinkohlenbergbau als Lampenwärterin über Tage.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 19. Dezember 1989 diese Zeiten nach dem FRG inländischen Beitragszeiten gleich und gewährte hieraus der Klägerin eine Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit. Dem Antrag der Klägerin vom November 1991, die Rente rückwirkend neu festzustellen und die Zeit von der Vollendung des 14. Lebensjahres bis zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, entsprach die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. September 1992, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 8. April 1993, zum Teil: Nur die Zeit unter Kommandaturaufsicht vom 5. November 1952 bis 31. März 1956 sei als Ersatzzeit anzuerkennen, der anschließende Zeitraum jedoch nicht mehr. Eine Rückkehrverhinderung durch feindliche Maßnahme sei Voraussetzung für die streitige Ersatzzeit. Sie scheide schon deshalb aus, weil die Klägerin vor Kriegsausbruch im Gebiet von Karaganda geboren und zu keiner Zeit in ein anderes Gebiet der UdSSR verbracht worden sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1993), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 28. April 1994). Das LSG hat ausgeführt, der Ersatzzeittatbestand des § 51 Abs 1 Nr 3 Reichsknappschaftsgesetz ≪RKG≫ (Festgehaltenwerden im Ausland durch feindliche Maßnahmen) sei bei einem allgemeinen Ausreiseverbot, das sowjetische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit ebenso wie alle übrigen sowjetischen Staatsbürger gleichermaßen getroffen habe, nur dann erfüllt, wenn der Betroffene bei Kriegsausbruch in Vollzug einer kriegerischen Maßnahme aus seinem deutschsprachigen Heimatgebiet in der früheren UdSSR in andere Regionen verbracht worden sei und auch nach Aufhebung der Internierung die Entwurzelung fortbestanden habe. Die Klägerin habe dieses Schicksal nicht erlitten. Sie habe niemals in einem volksdeutschen Siedlungsgebiet in der UdSSR gelebt. An ihrem Geburtsort hätten keine deutschen kulturellen Einrichtungen bestanden. Selbst wenn auf das Schicksal der Eltern abgestellt werde, hätten diese ihre Heimat nicht durch eine feindliche Maßnahme des damaligen Kriegsgegners, sondern zehn Jahre zuvor durch stalinistische Verfolgung, die sowjetische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit ebenso wie alle übrigen sowjetischen Staatsbürger getroffen haben, verloren. Unerheblich sei, daß die Familie, wie alle Wolgadeutschen, spätestens im Jahre 1941 ebenfalls vertrieben worden wäre. Rentenrechtlich sei die Klägerin so zu behandeln, als seien ihre Eltern 1931 freiwillig nach Kasachstan gegangen oder als hätten sie von jeher dort gelebt. Mit Beendigung der Internierung 1956 habe für die Klägerin der gleiche Zustand wie zuvor bestanden; die gegen sie gerichteten feindlichen Maßnahmen seien beendet gewesen und sie sei den gleichen Ausreisebeschränkungen wie jeder Bürger der UdSSR unterworfen worden.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 51 Abs 1 Nr 3 RKG. Sie sei durch gegen Deutsche gerichtete feindliche Maßnahmen der früheren UdSSR bis zu ihrer Ausreise gegen ihren Willen festgehalten worden. In das deutsche Siedlungsgebiet ihrer Eltern habe sie nicht zurückkehren können. Dieses sei nach 1941 unwiederbringlich zerschlagen worden, so daß nur die Alternative der Ausreise nach Deutschland verblieben sei. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 8. April 1987 (SozR 2200 § 1251 Nr 126) das Festgehaltenwerden aller Volksdeutschen in der UdSSR nach Beendigung der Kommandaturaufsicht als eigenständigen Ersatzzeittatbestand anerkannt. Es komme nicht darauf an, daß die Betroffenen vorher eine Ortsveränderung erfahren mußten. Im übrigen seien Deutsche seit dem bilateralen Abkommen von 1955 nicht mehr von dem allgemeinen Ausreiseverbot betroffen gewesen, aber dennoch weiter festgehalten worden. Dies sei eine feindliche, nur gegen Deutsche gerichtete Maßnahme gewesen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18. Dezember 1989 sowie des Bescheides vom 8. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. April 1993 zu verurteilen, auch die Zeit vom 1. April 1956 bis zum 9. März 1988 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, soweit für diesen Zeitraum keine Zeiten nach §§ 15, 16 FRG angerechnet worden sind.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 1989 nicht nach § 44 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) teilweise zurückzunehmen und die Bergmannsrente der Klägerin unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. April 1956 bis 9. März 1988 als Ersatzzeit rückwirkend neu zu berechnen ist. Das bei Erlaß des Bescheides geltende Recht, also das am 31. Dezember 1991 außer Kraft getretene RKG, ist nicht unrichtig angewandt worden. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 1989 erweist sich als rechtmäßig. Der hier allein in Betracht kommende § 51 Abs 1 Nr 3 RKG (= § 1251 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫, § 28 Abs 1 Nr 3, ab 1. Januar 1992 § 250 Abs 1 Nr 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫) ist entgegen der Meinung der Revision nicht verletzt worden.
Danach sind auch solche Zeiten Ersatzzeiten, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung des Krieges ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin hinsichtlich des streitigen Zeitraums ab April 1956 nicht.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die für den Senat bindend sind, da insoweit keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben wurden (§ 163 SGG), unterlag die Klägerin seit April 1956 innerhalb der ehemaligen UdSSR keinen Aufenthaltsbeschränkungen mehr. Wie für jeden Staatsangehörigen der ehemaligen UdSSR galt für sie jedoch ein allgemeines Ausreiseverbot, das in der Regel nicht als feindliche Maßnahme angesehen werden kann, weil es sich gegen die gesamte Bevölkerung richtete und nicht speziell die deutsche Volksgruppe treffen sollte (vgl BSG vom 25. Oktober 1978, 20. Dezember 1978, 8. April 1987, 25. Juni 1987, BSGE 47, 113 = SozR 2200 § 1251 Nr 52, SozR 2200 § 1251 Nrn 58, 126, 129).
Zwar können neben der allgemeinen Zielsetzung auch die individuellen Modalitäten der Anwendung des allgemeinen Ausreiseverbots von Bedeutung sein (vgl BSG vom 25. Juni 1987, aaO, S 363), so daß sich die Verwaltungspraxis als feindliche Maßnahme darstellen könnte. Entsprechende Tatsachen sind aber weder vom LSG festgestellt noch wurden sie von der Klägerin vorgetragen.
Entgegen der Ansicht der Revision gibt das Urteil des 5a Senats des BSG vom 8. April 1987 (aaO) zu keiner anderen Beurteilung Anlaß. Das BSG hat bei Wolgadeutschen ausnahmsweise dann ein Festgehaltenwerden durch feindliche Maßnahmen auch nach Beendigung der Internierung 1956 angenommen, wenn diese 1941 aus dem deutschen Siedlungsgebiet nach Sibirien verbracht worden sind und nicht mehr in ein deutschsprachiges Siedlungsgebiet zurückkehren konnten. Diese Deutschen waren doppelt betroffen, durch die kriegsbedingte Verbringung nach Sibirien im Jahre 1941 einerseits und die Entwurzelung aus dem volksdeutschen Siedlungsgebiet, nach dessen Untergang sie in eine sprachliche und kulturelle Vereinsamung gerieten, andererseits. Bei einem solchen Volksdeutschen wirkt sich das allgemeine Ausreiseverbot ausnahmsweise derart aus, daß sich dessen Anwendung als über das Kriegsende hinaus fortwirkende feindliche Maßnahme darstellt. Diese Rechtsprechung käme auch den während der Deportationszeit geborenen Kindern von Wolgadeutschen zugute (vgl BSG vom 29. September 1994, SozR 3-2200 § 1251 Nr 6).
In einer solchen Lage befanden sich aber nach den Feststellungen des LSG weder die Klägerin selbst noch ihre Eltern. Die Familie der Klägerin lebte bereits seit dem Jahre 1931 aufgrund stalinistischer Verfolgungsmaßnahmen, die sich gegen die gesamte Bevölkerung richteten und die in keinem Zusammenhang mit den späteren Kriegsereignissen standen, in einer nicht deutschsprachigen Umgebung. Die Klägerin ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie stand nach der Aufhebung der Aufenthaltsbeschränkungen 1956 praktisch durchgehend in einem Beschäftigungsverhältnis. Unter diesen Voraussetzungen kann eine besondere Belastung durch das allgemeine Ausreiseverbot nicht angenommen werden. Dies hat mittlerweile der 5. Senat mit Urteil vom 18. Januar 1995 – 5 RJ 78/93 – in einem ähnlich gelagerten Fall klargestellt und ausgeführt, daß die Annahme einer „feindlichen Maßnahme” in seiner früheren Entscheidung vom 8. April 1987 (aaO) nur gilt, soweit ein Deutscher aus einem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet während des Krieges durch gegen Deutsche gerichtete Maßnahmen herausgerissen worden war und nunmehr gehindert wurde, sich wieder mit anderen Deutschen in einem solchen Gebiet zusammenzufinden.
Auch wenn davon ausgegangen wird, daß der Klägerin nach 1956 als Deutsche in der Sowjetunion unfreundlich begegnet wurde und nach der Auflösung der deutschen Siedlungsgebiete an der Wolga die Perspektive der Rückkehr in eine deutschsprachige Umgebung innerhalb der früheren UdSSR nicht mehr bestand, teilte sie doch nur das allgemeine Schicksal der bereits in der Vorkriegszeit deportierten Bevölkerung und war nicht Opfer einer speziell gegen Deutsche gerichteten Verfolgung während der Kriegsereignisse. Von der Rechtsprechung geschaffene Ausnahmetatbestände erfordern eine klare Abgrenzung zu anders gelagerten Sachverhalten, auch wenn der Klägerin einzuräumen ist, daß sie sich subjektiv im Jahre 1956 in einer ähnlichen Situation befand wie ein im Jahre 1941 nach Kasachstan deportierter Wolgadeutscher oder dessen dort geborene Kinder.
Unzutreffend ist der Vortrag der Klägerin in der Revisionsinstanz, Volksdeutsche sowjetischer Staatsangehörigkeit hätten nach bilateralen Abkommen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 das Recht zur Ausreise gehabt. Ein solches Recht auf Ausreise war für sowjetische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit von der Bundesrepublik auf dem Verhandlungswege niemals erreicht worden, wohl aber die Aufhebung der Aufenthaltsbeschränkungen, eine allgemeine Amnestie wegen der angeblichen Zusammenarbeit der Volksdeutschen mit der Deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg sowie die Zusammenführung auseinandergerissener Familien. Die Repatriierungsvereinbarungen, die aufgrund von Versprechungen sowjetischer Seite des Jahres 1955 (vgl die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 23. September 1955, BT-Drucks 2/1693) im Frühjahr 1958 erzielt werden konnten, betrafen ausschließlich deutsche Staatsangehörige, Personen mit zweifelhafter (früherer) deutscher Staatsangehörigkeit sowie deren durch den Krieg getrennte Familien (vgl Denkschrift zum Abkommen über Allgemeine Fragen des Handels und der Seeschiffahrt und zu dem Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, BT-Drucks 3/545 S 23, 25 f; Abschlußkommuniqué, BT-Drucks 3/545 S 31 f Anlage I, sowie die beidseitigen Repatriierungserklärungen dazu, aaO S 33 Anlage II). Aufgrund dieser und späterer Vereinbarungen zur Familienzusammenführung konnten im Zeitraum von 1955 bis ca 1970 ca 20.000 meist ältere und gebrechliche Menschen in die Bundesrepublik ausreisen (vgl S. Heitman „Eine Alternative zum Sprachschwund: Deutsche Auswanderung in komparativer Sicht” in „Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart: Ein internationaler Beitrag zur deutsch-sowjetischen Verständigung”, Herausgeber I. Fleischhauer und H. Jedig, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1990, S 253 ff, 261).
Erst danach entwickelte sich auf der Grundlage der deutschen Ost- und der internationalen Entspannungspolitik eine großzügigere Ausreisepolitik der UdSSR, von der (neben einer großen Zahl von Juden und Armeniern) auch Wolgadeutsche (ohne Verwandte in der Bundesrepublik und ohne – frühere – deutsche Staatsangehörigkeit) profitierten. Dabei wurde jedoch nur ein Bruchteil der Ausreisewilligen (nach Schätzungen zwischen 300.000 und 500.000 Menschen) berücksichtigt. So konnten zwischen 1971 und 1988, als der Klägerin die Ausreise gestattet wurde, ca 100.000 Volksdeutsche in die Bundesrepublik Deutschland und ca 11.000 in die frühere DDR emigrieren (vgl S. Heitman, aaO S 261 f, Tabelle I S 267).
Daß die Klägerin erst im Jahre 1988 in den Genuß jener Vergünstigungen für Volksdeutsche sowjetischer Staatsangehörigkeit (im Vergleich zu anderen Sowjetbürgern) kam, könnte allenfalls dann als „feindliche Maßnahme” gewertet werden, wenn dies Ergebnis einer extrem deutschfeindlichen Handhabung gewesen wäre. Davon kann aber angesichts des auch im übrigen fortgeltenden allgemeinen Ausreiseverbots keine Rede sein. Im Falle der Klägerin ist dazu auch nichts vorgetragen oder vom LSG festgestellt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen