Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1994 geändert.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgericht Dortmund vom 1. Dezember 1992 wegen Anerkennung besonderen beruflichen Betroffenseins wird zurückgewiesen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei dem Kläger sind nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH anerkannt. Nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 80. Mit 60 Jahren wurde dem Kläger ab 1. Oktober 1982 Altersruhegeld wegen Schwerbehinderung gewährt.
Im Juni 1980 beantragte er höhere Beschädigtenrente wegen besonderer beruflicher Betroffenheit und im September 1982 Berufsschadensausgleich (BSchA). Der Beklagte lehnte letztlich beides ab (Bescheide vom 21. März und 19. April 1989; Widerspruchsbescheide vom 15. Februar und 14. Oktober 1990). Das Sozialgericht (SG) hat die Klagen abgewiesen (Urteile vom 1. Dezember 1992). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, ab Oktober 1982 BSchA und Beschädigtenrente – unter zusätzlicher Berücksichtung einer besonderen beruflichen Betroffenheit – nach einer MdE um 50 vH zu gewähren, weil der Kläger schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Von einem solchen Ausscheiden sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ≪BSGE 74, 195 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10≫ auszugehen, weil die Schwerbehinderung des Klägers wesentlich durch die anerkannten Schädigungsfolgen mitbedingt sei. Die vom BSG aufgestellten Grundsätze zum BSchA bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen Schwerbehinderung seien im Rahmen des § 30 Abs. 2 BVG auch auf die besondere berufliche Betroffenheit anzuwenden.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt im wesentlichen eine Verletzung des § 30 Abs. 2 und 3 BVG und macht geltend, daß ein Sachurteil wegen BSchA nicht hätte ergehen dürfen, weil die Berufung nach § 148 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) a.F. unzulässig gewesen sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1994 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen die Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 1. Dezember 1991 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet.
Sie ist nicht begründet, soweit das LSG den Beklagten verurteilt hat, BSchA zu gewähren. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe verfahrensfehlerhaft durch Sachurteil entschieden, weil die Berufung des Klägers insoweit unzulässig gewesen sei, greift nicht durch.
Nach § 148 Nr. 2 SGG in der bis zum 28. Februar 1993 geltenden Fassung (a.F.) ist in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung die Berufung nicht zulässig, soweit sie nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Nach Art. 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl. I, S 50) ist § 148 Nr. 2 SGG a.F. weiterhin anzuwenden, wenn die mündliche Verhandlung, auf die das anzufechtende Urteil ergangen ist, vor dem 1. März 1993 geschlossen, worden ist. Das ist hier der Fall. Die mündliche Verhandlung vor dem SG hat am 1. Dezember 1992 stattgefunden.
Der Beklagte meint, zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung am 18. Januar 1993 habe bereits festgestanden, daß – wie vom LSG in den Entscheidungsgründen erwähnt – spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn nach § 8 Abs. 1 Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) eine Kürzung des Vergleichseinkommens auf 75 % unumgänglich werde, das derzeitige Bruttoeinkommen des Klägers das Vergleichseinkommen erreiche, und sich damit kein Zahlbetrag für den BSchA mehr ergebe. Sein 65. Lebensjahr habe der Kläger bereits am 8. September 1987 vollendet. Danach habe die Berufung nur Versorgung für einen bereits abgelaufenen Zeitraum betroffen.
Das trifft nicht zu. Ob und in welcher Höhe sich ein Zahlbetrag für BSchA ergibt, hängt von der Entwicklung des Vergleichseinkommens einerseits und des derzeitigen Bruttoeinkommens des Klägers aus Rente und Bezügen von der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder andererseits ab. Da das bruttoberechnete Vergleichseinkommen stärker wächst als die nettoangepaßten Renten, kann es durchaus dazu kommen, daß im Laufe der Zeit sich wieder ein Zahlbetrag für BSchA ergibt, auch wenn nach dem Einschnitt mit dem 65. Lebensjahr sich zunächst kein BSchA mehr errechnete. Nach den vom Kläger mitgeteilten Zahlen hatte er bereits ab 1. Juli 1992 rechnerisch wieder Anspruch auf BSchA. Danach liegen die Voraussetzungen des § 148 Nr. 2 SGG (a.F.) nicht vor.
Ebenfalls ohne Erfolg macht der Beklagte geltend, der Kläger habe keinen Einkommensverlust durch die Schädigungsfolgen erlitten. Er sei nämlich – anders als vom LSG angenommen – nicht schädigungsbedingt vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Diese Voraussetzung hat das LSG zu Recht bejaht. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (zuletzt BSGE 74, 195 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10) ist ein Einkommensverlust „durch” die Schädigungsfolgen i.S. des § 30 Abs. 3 BVG regelmäßig bewiesen, wenn der Beschädigte nur unter Hinweis auf seine schädigungsbedingte Schwerbehinderung sozial gesichert vorzeitig seine Erwerbstätigkeit beenden kann. Der Beweis ist nicht geführt, wenn ein schädigungsfremdes Leiden mit einem Einzel-GdB von 50 oder mehr bewertet oder für die schädigungsfremden Leiden ein Gesamt-GdB in dieser Höhe dokumentiert ist (vgl BSG SozR 3-3100 § 30 Nr. 9 und SozR 3-3642 § 8 Nr. 5). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Beklagte meint zwar, die schädigungsunabhängigen Behinderungen des Klägers in Graden von 5 × 20 und 2 × 10 hätten es für sich genommen zugelassen, ihn als Schwerbehinderten anzuerkennen. Eine solche Einschätzung ist aber niemals vorgenommen worden und deshalb nicht dokumentiert. Sie drängt sich auch nicht nachträglich zwingend auf. Das zeigen schon die Ausführungen des LSG. Danach ist sogar „in keiner Weise vorstellbar”, daß der Kläger, auch bei unterstelltem Wohlwollen, allein wegen seiner schädigungsunabhängigen Behinderungen als Schwerbehinderter anerkannt worden wäre.
Soweit das LSG den Kläger als beruflich besonders betroffen angesehen und den Beklagten deshalb verurteilt hat, Grundrente nach einer um 10 vH auf 50 vH erhöhten MdE zu gewähren, ist die Revision des Beklagten begründet. Der Kläger war bei Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bereits 60 Jahre alt. Ein Beschädigter dieses Alters kann sich regelmäßig nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg darauf berufen, durch die Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen zu sein, weil sie ihn gezwungen hätten, sein Erwerbsleben zu beenden.
Die in § 30 Abs. 1 BVG geregelte MdE hängt nach Grund und Höhe nicht vom Lebensalter des Beschädigten und nicht von der Beeinträchtigung in seinem ausgeübten oder angestrebten Beruf, sondern nur von der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben ab. Eine solche von den persönlichen Verhältnissen unabhängige, sogenannte medizinische MdE kann auch einem Kleinkind zuerkannt werden, das lange vor Eintritt in das Schul- und Berufsleben geschädigt wird. § 30 Abs. 1 Satz 5 BVG stellt klar, daß die MdE bei jugendlichen Beschädigten nach dem Grad zu bemessen ist, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt. Die medizinische MdE verbleibt auch alten Menschen und wird ihnen auch dann erstmals zuerkannt, wenn sie lange nach Ende des Berufslebens als bereits Erwerbsunfähige geschädigt werden. § 31 Abs. 1 Satz 2 BVG sieht für Schwerbeschädigte, die das 65. Lebensjahr bereits vollendet haben, sogar eine – nach MdE-Graden gestaffelte – Erhöhung der Grundrente vor.
Anders als bei Beurteilung der medizinischen MdE nach § 30 Abs. 1 BVG können bei ihrer Höherbewertung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG Beginn und Ende des Berufslebens nicht unberücksichtigt bleiben. Schon aus dem Begriff der besonderern beruflichen Betroffenheit ergibt sich, daß eine Höherbewertung grundsätzlich nur für die Zeit beruflicher Tätigkeit, also während des Erwerbslebens in Betracht kommt. Die MdE ist deshalb noch nicht höher zu bewerten, so lange noch kein Beruf ausgeübt wird oder auch ohne Schädigungsfolgen noch nicht hätte ausgeübt werden können; sie ist nicht mehr höher zu bewerten, nachdem die Berufsausübung mit dem Ende der Erwerbstätigkeit geendet hat. Lediglich der Vorteil einer schon während des Erwerbslebens wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten MdE bleibt dem Beschädigten als Besitzstand auch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben regelmäßig erhalten. Die Voraussetzungen für die Entziehung des auf die berufliche Betroffenheit entfallenden MdE-Anteils sind durch die Beendigung des Berufslebens allein nicht erfüllt (vgl BSGE 14, 172 = SozR § 62 BVG Nr. 11; BSGE 36, 21 = SozR § 30 BVG Nr. 66; BSGE 55, 292 = SozR 1300 § 48 Nr. 6).
Das BSG hat in diesen Urteilen im einzelnen begründet, daß sich die Folgen einer im Berufsleben oft jahrzehntelang erduldeten beruflichen Betroffenheit noch im Ruhestand auswirken können, so daß nicht ohne weiteres erkannt werden kann, daß das Ende jeder beruflichen Tätigkeit auch das Ende der beruflichen Betroffenheit bedeutet. Das Ende der beruflichen Tätigkeit kommt als Grund für die erstmalige Zuerkennung einer beruflichen Betroffenheit aber nur dann in Betracht, wenn es durch die Schädigungsfolgen erzwungen worden ist.
Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor. Beruflich besonders betroffen ist nur, wessen Berufs- und Erwerbsleben durch die Art der Schädigungsfolgen verkürzt wird. Nicht besonders betroffen ist, wer die Erwerbsphase trotz der Schädigungsfolgen voll ausschöpft. Wie lange diese Phase dauern soll, ist zwar eine individuelle Entscheidung. Sie ist in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft durch äußere Vorgaben aber weitgehend standardisiert. Das Berufs- und Erwerbsleben endet allgemein spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Wer zu diesem Zeitpunkt ausscheidet, kann sich nicht darauf berufen, an weiterer Erwerbstätigkeit durch die Schädigungsfolgen gehindert und deshalb beruflich besonders betroffen zu sein. Die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ist keine Prämie für schädigungsbedingten Verzicht auf weitere Berufstätigkeit am Ende eines durch Schädigungsfolgen unbeeinflußten und nach allgemein geltenden Maßstäben vollendeten Berufs- und Erwerbslebens. Dieses endet in einer großen Zahl von Fällen bereits um Jahre vor der allgemeinen Altersgrenze mit einem Alter von Ende 50 oder Anfang 60. Das ergibt sich aus den Rentenstatistiken für Arbeiter und Angestellte. Bei Beginn der Altersversorgung aus der gesetzlichen Rentenversicherung waren danach 1993 etwa ebenso viele Versicherte 60 bis 63 Jahre alt wie 65 Jahre und älter (vgl Statistisches Jahrbuch 1995 für die Bundesrepublik Deutschland, S 467). Je älter der Beschädigte wird, umso schwieriger wird es, den Nachweis schädigungsbedingten Ausscheidens zu erbringen, weil mit zunehmendem Lebensalter auch Nichtbeschädigte aus unterschiedlichen, auch für Beschädigte geltenden Gründen in immer größerer Zahl das Erwerbsleben aufgeben. Etwa mit Erreichen des 60. Lebensjahres verschlechtert sich die Beweislage entscheidend zu Lasten des Beschädigten. Anders als bei einem Beschädigten mittleren Lebensalters fehlen ab dann regelmäßig äußere Anhaltspunkte dafür, daß der schädigungsbedingte Motivanteil für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wesentlich ist, weil sich Beschädigte und Nichtbeschädigte aus den unterschiedlichsten, auch gebündelten Motiven bei diesem Schritt ununterscheidbar gleichförmig verhalten (vgl zur Frage, wann der Zwang zur Anschaffung eines automatischen Kfz-Getriebes noch als schädigungsbedingt angesehen werden kann BSGE 73, 142, 144 = SozR 3-3100 § 11 Nr. 1).
Für die Feststellung schädigungsbedingten Ausscheidens gilt, anders als nach der Rechtsprechung des Senats zum Anspruch auf BSchA, auch keine Beweiserleichterung. Nach dieser Rechtsprechung sind Schädigungsfolgen im allgemeinen schon dann als wesentliche Ursache für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und einen dadurch eingetretenen Einkommensverlust anzusehen, wenn sich der Beschädigte auf eine wesentlich durch Schädigungsfolgen bedingte Schwerbehinderung berufen muß, um gleichzeitig mit dem Ausscheiden eine Altersversorgung zu erlangen (vgl zuletzt BSGE 74, 195 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10). Damit sind Schwerbeschädigte beim Zugang zum kriegsopferrechtlichen Versorgungsfall des BSchA nach § 30 Abs. 3 BVG beweisrechtlich schwerbehinderten Arbeitnehmern und Beamten gleichgestellt, die mit 60 Jahren allein durch ihren Antrag und die Vorlage des Schwerbehindertenausweises den Versicherungsfall oder den beamtenrechtlichen Versorgungsfall herbeiführen können. Schwerbeschädigten wird nicht zugemutet, was Schwerbehinderten nach dem Rentenversicherungs- und Beamtenversorgungsrecht erspart bleibt, und was Verwaltungsbehörden und Gerichte überfordern würde: den Nachweis zu führen, daß schädigungsbedingte gesundheitliche Gründe für die Berufsaufgabe maßgeblich waren, wenn mit 60 Jahren Altersruhegeld vorzeitig in Anspruch genommen worden ist (BSG SozR 3100 § 30 Nr. 78; SozR 3-3642 § 8 Nr. 5).
Daraus folgt aber nicht, daß in solchen Fällen zugleich vermutet werden müßte, der Beschädigte erfülle auch die Voraussetzung schädigungsbedingter Berufsaufgabe (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a BVG) für den Anspruch auf Höherbewertung seiner MdE. Die Beweisschwierigkeiten sind hier wie dort zwar dieselben. Im Unterschied zum Anspruch auf BSchA nach § 30 Abs. 3 BVG lassen sie sich hier jedoch nicht durch eine Beweiserleichterung beheben. Dort konnte der Senat an die im Rentenversicherungs- und im Beamtenrecht vorgezeichnete Beweiserleichterung anknüpfen und sich mit § 8 Abs. 1 Satz 3 BSchAV auf eine Beweisvorschrift aus dem Recht des BSchA stützen (vgl BSGE 74, 195, 198 = SozR 3-3100 § 30 Nr. 10). Eine solche ausdrückliche Beweiserleichterung fehlt bei der Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit. Es ist auch nicht geboten, die für den BSchA geltende Beweiserleichterung hier entsprechend anzuwenden. Sie würde im Unterschied zu dem längstens für fünf Jahre, nämlich vom 60. bis zum 65. Lebensjahr nach dem ungekürzten Vergleichseinkommen zu zahlenden BSchA (vgl die Kürzungsvorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BSchAV) dazu führen, daß die erhöhte MdE auf Dauer erhalten bleibt, ohne daß dem in vielen Fällen nennenswerte Einkommenseinbußen durch die Schädigungsfolgen vorangegangen sind. Die Beweisschwierigkeiten wirken sich deshalb regelmäßig dahin aus, daß es einem 60jährigen Beschädigten mit Anspruch auf Altersruhegeld wegen anerkannter Schwerbehinderung – wie hier – nicht gelingen wird, ein schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nachzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen