Leitsatz (amtlich)

Eine Schwangere, die im unmittelbaren Anschluß an den Unterstützungsbezug als Arbeitslose gegenüber der Krankenkasse, bei der sie als Arbeitslose versichert war, Anspruch auf Wochengeld hat, bleibt nach RVO § 311 Mitglied dieser Kasse, auch wenn sie während des Wochengeldbezuges ihren Wohnort in den örtlichen Zuständigkeitsbereich einer anderen Krankenkasse verlegt.

 

Normenkette

RVO § 311 Fassung: 1929-05-18; AVAVG § 117; AVAVG 1927 § 117; AVAVG § 121; AVAVG 1927 § 121

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. November 1958 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Landarbeiterin Marlis D war vom 15. Januar 1952 bis zum 31. Oktober 1953 im Landkreis Gifhorn beschäftigt. Das Dienstverhältnis wurde beendet, nachdem sie schwanger geworden war. Vom 11. November 1953 an erhielt sie vom Arbeitsamt Wolfsburg Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Mit Ablauf des 15. Februar 1954 wurde deren Zahlung eingestellt, weil die Versicherte vom 16. Februar 1954 an Wochengeld bezog. Dieses zahlte die Klägerin als die für den Landkreis Gifhorn zuständige Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK), nachdem der hinzugezogene Arzt als voraussichtlichen Tag der Entbindung den 30. März 1954 bezeichnet hatte. Am 23. Februar 1954 zeigte Marlis D dem Arbeitsamt an, daß sie am 26. Februar 1954 nach Kästorf im Kreise Helmstedt verziehen werde, und bat um Überweisung nach Helmstedt. Daraufhin erklärte das Arbeitsamt Wolfsburg das Arbeitsamt Helmstedt zunächst vom 10. Februar 1954 an und dann später vom 16. Februar 1954 an für zuständig. Am 5. Mai 1954 entband die Versicherte. Sie hat insgesamt 467,19 DM an Wochenhilfe erhalten.

Die Klägerin (AOK in Gifhorn) begehrt von der Beklagten als der für den Kreis Helmstedt zuständigen AOK die Erstattung des verauslagten Betrages; sie trägt dazu vor, Marlis D sei bereits am 10. Februar 1954 nach Kästorf verzogen, so daß sie spätestens vom 16. Februar 1954 an Mitglied der Beklagten gewesen sei. Die Beklagte lehnte die Erstattung ab. Vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg beantragte die Klägerin

festzustellen, daß die Beklagte zur Gewährung von Wochenhilfeleistungen für Marlis D aus Anlaß ihrer Entbindung vom 5. Mai 1954 zuständig ist.

Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage. Die Versicherte sei erst am 1. März 1954 nach Kästorf verzogen. Zu diesem Zeitpunkt habe ein Kassenwechsel nicht mehr eintreten können, weil sie bereits seit dem 16. Februar 1954 vom Arbeitsamt keine Leistungen mehr bezogen, sondern Wochenhilfe erhalten habe.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 24. Januar 1957 als unzulässig abgewiesen. Für die erhobene Feststellungsklage fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, da die Klägerin auf Leistung hätte klagen können und müssen. Im übrigen wäre die Leistungsklage auch unbegründet. Das Arbeitsamt Wolfsburg habe das Arbeitsamt Helmstedt erst ab 16. Februar 1954 für zuständig erklärt. Dieser Verwaltungsakt sei für das SG bindend, da er von den Beteiligten nicht angefochten worden sei. Von dem vom 16. Februar 1954 an zuständigen Arbeitsamt Helmstedt aber habe die Versicherte keine Leistungen bezogen, so daß sie nicht nach § 118 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) aF Mitglied der Beklagten geworden sei, vielmehr sei sie gemäß § 311 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Mitglied der Klägerin geblieben.

Die nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aF zulässige Berufung der Klägerin, die auf Verurteilung der Beklagten zur Erstattung der aus Anlaß der Entbindung vom 5. Mai 1954 entstandenen Aufwendungen gerichtet war, hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 26. November 1958 zurückgewiesen. Das Berufungsgericht sah den Erstattungsanspruch als unbegründet an. Nach § 117 AVAVG aF sei ein Arbeitsloser während des Bezuges von Hauptunterstützung gegen Krankheit versichert gewesen. Das gleiche habe nach § 13 des Anhanges zur Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 117 für den Bezug von Alfu gegolten. Zuständig sei nach § 121 AVAVG aF die AOK des Wohn- und Aufenthaltsortes gewesen, der für die Zuständigkeit zur Gewährung der Unterstützung nach § 168 AVAVG aF maßgebend sei. Bei einem Wechsel des Wohnortes des Arbeitslosen hätte sich damit an sich die Kassenzuständigkeit ändern können. Diese Änderung trete überdies unabhängig von der Überweisung mit dem Zuzug ein. Nach der in den Akten der Beklagten befindlichen gemeindlichen Meldebestätigung sei die Familie D jedoch erst am 1. März 1954 nach Kästorf zugezogen, als die Versicherte keine Unterstützung mehr bezogen habe. Alfu hätte sie damals auch nicht mehr bekommen können, weil sie vom 16. Februar 1954 an der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Nach § 3 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 2 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) vom 24. Januar 1952 (BGBl I 69) hätte sie sechs Wochen vor dem Tage der voraussichtlichen Entbindung ohne ihre ausdrückliche Zustimmung nicht mehr beschäftigt werden dürfen. Die Versicherte sei daher vom 16. Februar 1954 an nicht mehr arbeitslos und damit nicht mehr unterstützungsberechtigt gewesen. Mit Rücksicht hierauf sei Marlis D nicht Mitglied der Beklagten geworden. Aus § 89 AVAVG aF ergebe sich nichts anderes. Zwar würde nach dieser Vorschrift zur Vermeidung von Doppelleistungen Unterstützung vom Arbeitsamt neben Leistungen der Krankenversicherung (KV) nicht gezahlt. Auf Fälle, in denen die Arbeitslosigkeit fortgefallen sei, beziehe sich jedoch § 89 AVAVG aF nicht. Somit sei die Versicherte nach § 311 RVO Mitglied der Klägerin geblieben.

Die Klägerin hat gegen dieses Urteil die vom LSG nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision eingelegt; sie hat beantragt,

die Urteile des LSG Celle vom 26. November 1958 und des SG Lüneburg vom 24. Januar 1957 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Aufwendungen aus Anlaß der Entbindung der Landarbeiterin Marlis D vom 5. Mai 1954 in Höhe von 467,19 DM zu erstatten.

Die Revision trägt vor: Wenn eine Arbeitslose ihren Wohnsitz aus dem Bezirk einer Kasse in den Bezirk einer anderen Kasse während des Bezuges von Wochengeld und vor der Entbindung verlege, so begründe dies einen Kassenwechsel und habe damit einen Leistungsübergang nach § 212 RVO zur Folge. Eine Arbeitslose, die Wochengeld beziehe, erhalte zwar nach § 89 AVAVG aF keine Hauptunterstützung mehr; damit ruhe aber der Anspruch auf Hauptunterstützung nur vorübergehend. Lediglich eine Beendigung der Hauptunterstützung nach § 99 AVAVG aF bewirke ein Ausscheiden aus der KV. Folglich müßten hinsichtlich der Frage der Kassenzugehörigkeit weiterhin die §§ 117, 121 AVAVG aF maßgebend sein. Dies bedeute, daß M. D. auf Grund der Überweisung an das Arbeitsamt Helmstedt zum 10. Februar 1954 und auf Grund ihres Umzuges aus dem Bezirk der Klägerin in den der Beklagten ihre Leistungen von dieser als der Kasse ihres neuen Wohnortes hätte erhalten müssen. Das Berufungsgericht komme allerdings zu der Feststellung, die Versicherte habe ihren Wohnsitz während des Wochengeldbezuges, nämlich am 26. Februar bzw. 1. März 1954 gewechselt. Dem sei jedoch entgegenzuhalten, daß die Meldebestätigung der Gemeinde Kästorf nicht beweise, an welchem Tag der Zuzug tatsächlich erfolgt sei, weil erfahrungsgemäß die polizeiliche Anmeldung oft verspätet erfolge. Selbst wenn aber als Tag der Verlegung des Wohnortes der 16. Februar 1954 in Betracht komme, was von der Beklagten nicht bestritten worden sei, sei - wie dargelegt - deren Zuständigkeit für die Durchführung der Versicherung und für die Gewährung der Wochenhilfeleistungen ab 16. Februar 1954 ebenfalls gegeben gewesen. Aus § 311 RVO ergebe sich nichts anderes.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. § 212 RVO hätte einen Leistungsübergang nicht bewirken können, da die Versicherte vom 16. Februar 1954 an Wochengeld erhalten habe und daher weder arbeitslos noch vermittlungsfähig im Sinne des AVAVG gewesen sei. Wochengeld werde neben Arbeitslosenunterstützung (Alu) und Alfu nicht gezahlt. Das LSG habe überzeugend dargetan, daß die Zuständigkeit in der KV der Arbeitslosen nach Wegfall der Arbeitslosigkeit und des Unterstützungsbezuges nicht mehr hätte verändert werden können.

Die form- und fristgerecht eingelegte und kraft Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat den auf die Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag gestützten Erstattungsanspruch (vgl. hierzu BSG 6, 197 und 15, 56, 57) zu Recht abgewiesen.

Zunächst ist hinsichtlich des Sachverhalts klarzustellen, daß das LSG festgestellt hat, daß die Versicherte am 1. März 1954 von Groß-Oesingen nach Kästorf verzogen ist. Hieran ist der Senat nach § 163 SGG gebunden. Zwar hat die Klägerin dazu noch ausgeführt, die eingeholte Meldebestätigung der Gemeinde Kästorf beweise nicht, an welchem Tage die Familie D zugezogen sei, sondern lediglich den Tag der Anmeldung, weil erfahrungsgemäß die polizeiliche Anmeldung oft verspätet erfolge. Der vom LSG aus der Meldebestätigung gezogene Schluß, daß die Familie D am Tage der Anmeldung umgezogen war, ist jedoch denkgesetzlich nicht zu beanstanden. Nach § 128 SGG hatte es nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Im Rahmen des ihm hiernach eingeräumten Rechts zur freien Beweiswürdigung konnte es zu der getroffenen Feststellung gelangen. Sie steht überdies im Einklang mit den Angaben, welche Marlis D dem Arbeitsamt Wolfsburg gemacht hatte. Dort hatte sie am 23. Februar 1954 angezeigt, daß sie am 26. Februar 1954 umziehen werde, und mit Rücksicht hierauf beantragt, das Arbeitsamt Helmstedt für zuständig zu erklären.

Nach § 117 in Verbindung mit §§ 121, 168 AVAVG aF war Marlis D bei der AOK pflichtversichert, in deren Bezirk sie bei Eintritt der Arbeitslosigkeit ihren Wohnsitz hatte, mithin bei der Klägerin. Als die Versicherte vom 16. Februar 1954 an Wochengeld bezog, blieb ihre Mitgliedschaft bei der Klägerin nach § 311 Satz 2 RVO erhalten. Nach dieser Vorschrift bleiben Schwangere und Wöchnerinnen Mitglieder ihrer bisherigen Kasse, solange sie Anspruch auf Wochen- oder Schwangerengeld haben und nicht gegen Entgelt arbeiten; dabei tritt in der Krankenversicherung der Arbeitslosen der Bezug der Unterstützung an die Stelle der entgeltlichen Beschäftigung (§ 118 AVAVG aF, § 108 AVAVG nF). Wie bereits das Reichsversicherungsamt (RVA) mit Recht entschieden hat (EuM 45, 192), findet eine solche Fortsetzung der Mitgliedschaft auch dann statt, wenn sich - wie im Streitfall - der Anspruch auf Wochengeld unmittelbar an den Unterstützungsbezug anschließt; es würde dem Schutzgedanken des § 311 Satz 2 RVO nicht entsprechen, den Empfängern von Wochengeld den vollen Schutz eines Mitgliedes der Krankenkasse zu versagen und sie gegebenenfalls als Erwerbslose auf die Leistungen nach § 214 RVO zu beschränken, obgleich sich der Anspruch auf Wochengeld unmittelbar an den die Mitgliedschaft nach § 117 AVAVG aF (= § 107 nF) begründenden Unterstützungsbezug anschließt. Marlis D war also seit dem 16. Februar 1954 (Beginn der Wochengeldzahlung) nicht mehr als Arbeitslose nach § 117 AVAVG aF bei der Klägerin versichert, sondern allein nach § 311 RVO wegen ihres Anspruchs auf Wochengeld. Die für die Leistungsgewährung zuständige Kasse bestimmt sich somit von diesem Zeitpunkt an nicht nach §§ 117 AVAVG aF ff, sondern allein nach den Vorschriften der RVO.

Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, wurde das von der Schwangeren nach § 311 Satz 2 RVO bei der Klägerin fortgesetzte Versicherungsverhältnis in der Folgezeit durch den am 1. März 1954 eingetretenen Wechsel ihres Wohnortes nicht berührt. § 311 Abs. 1 RVO bestimmt nicht nur das Fortbestehen eines Mitgliedschaftsverhältnisses, solange die Kasse an Arbeitsunfähige, Schwangere und Wöchnerinnen trotz Beendigung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses oder des Bezuges von Alu Leistungen zu gewähren hat, sondern er enthält auch eine Regelung der örtlichen Kassenzuständigkeit: Solange die Mitgliedschaft - ohne Bestehen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses oder ohne Bezug von Alu - allein auf Grund des § 311 RVO fortgesetzt wird, soll auch bei einer Verlegung des Wohnortes ein Kassenwechsel nicht eintreten (vgl. RVA GE Nr. 4482 AN 1932, 471; Nr. 5251 AN 1939, 41; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 311 RVO Anm. 6). Somit war Marlis D während der ganzen Zeit ihres Wochengeldbezuges bei der Klägerin versichert, diese hat daher das Wochengeld zu Recht gezahlt.

Damit entfällt der geltend gemachte Ersatzanspruch, da die Klägerin leistungspflichtig war und nicht die Beklagte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2000646

BSGE, 143

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