Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revisionszulassung. Verfahrensmangel. Überschreiten der Grenzen freier Beweiswürdigung. Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung. Kriegsopferversorgung. Widerspruch im ärztlichen Gutachten
Orientierungssatz
1. Das Landessozialgericht überschreitet die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung nach § 128 SGG, wenn es sich im Hinblick auf die gesundheitliche Situation des Untersuchten (hier eines ehemaligen Kriegsgefangenen im Zusammenhang mit der Kriegsopferversorgung) den Ausführungen eines ärztlichen Gutachters anschließt und dabei ein gegen den Befund sprechendes Untersuchungsergebnis übergeht.
2. Ungelöste Widersprüche in medizinischen Gutachten, insbesondere wenn sie den festgestellten Befund betreffen, können dazu führen, dass das Gericht im Rahmen seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 103 SGG einen weiteren Sachverständigen oder einen Obergutachter hören muss.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1, § 103 Sätze 1-2, § 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 28.06.1962) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 1962 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann und Vater der Klägerinnen hatte im Juli 1951 die Gewährung von Versorgung beantragt wegen Angina pectoris, starker Kreislaufstörungen und Rheumatismus als Folgen der Kriegsgefangenschaft, die er in der Zeit von Ostern 1945 bis Februar 1946 in Korsika durchgemacht hatte. Seit dem 1. August 1952 bezog er Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung. Das Versorgungsamt ermittelte die Krankheiten seit 1939, hörte den früheren Lagerarzt, den Facharzt für innere Krankheiten Dr. W, berücksichtigte den Behandlungsbericht des behandelnden Arztes Dr. K vom 2. Dezember 1952, ein EKG dieses Arztes vom 5. März 1952 sowie ein vertrauensärztliches Gutachten vom 25. Februar 1952 und lehnte, gestützt auf das Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. B. vom 10. Januar 1953, durch Bescheid vom 6. März 1953 die Gewährung von Versorgung ab, weil die festgestellten Leiden, nämlich Schlagaderverhärtung, Lebercirrhose und vegetative Dystonie nicht auf Einwirkungen des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien.
Die Berufung nach altem Recht ist als Klage auf das Sozialgericht (SG) übergegangen. Während des Verfahrens ist der Ehemann und Vater der Klägerinnen gestorben. Diese haben als Rechtsnachfolgerinnen den Rechtsstreit fortgesetzt. Die Parteien brachten ärztliche Gutachten, Äußerungen und Stellungnahmen der Ärzte des Krankenhauses Köppern vom 5. März 1954, des praktischen Arztes Dr. L vom 16. Mai 1955 und des Oberregierungsmedizinalrats, Facharzt für innere Krankheiten Dr. B vom 22. Juni 1954 bei. Das SG ließ das Gutachten vom 7. Februar 1954 durch den Facharzt für innere Medizin Dr. W erstatten und holte den Arztbericht des Chefarztes des Krankenhauses Köppern vom 11. Januar 1955 sowie das Gutachten des Prof. Dr. F, Direktor des Instituts für gerichtliche und soziale Medizin der Universität Marburg/L., vom 20. Mai 1955 ein. Durch Urteil vom 21. Juni 1955 wies es die Klage ab, weil nach dem Gutachten des Prof. Dr. F weder die pectanginösen Beschwerden noch die Lebercirrhose auf Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft zurückgeführt werden könnten.
Die Klägerinnen haben Berufung eingelegt und die fachärztliche Stellungnahme des Facharztes für innere Krankheiten Dr. W vom 5. April 1953 beigebracht. Der Beklagte hat die aktenmäßige Äußerung des Facharztes für innere Krankheiten Oberregierungsmedizinalrat Dr. V vom 19. Juni 1962 sowie das Gutachten des Prof. Dr. S vom 2. August 1960 vorgelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat den - bereits vom SG erforderten - Arztbericht der Medizinischen Klinik des Frankfurter Waldkrankenhauses Hospital zum h. G. bei Köppern über die letzte Erkrankung des Ehemannes der Klägerin zu 1) sowie die Äußerung des behandelnden Arztes Dr. L mit einem Röntgenbefund aus dem Januar 1949 beigezogen. Es hat auf Anträge den Klägerinnen gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Gutachten des Oberarztes Dr. K vom 11. November 1958 und des Prof. Dr. H vom 26. März 1961 erstatten lassen und sodann von Prof. Dr. S das Gutachten vom 27. Februar 1962 eingeholt. Die Klägerinnen haben daraufhin eine weitere Begutachtung nach § 109 SGG durch Prof. Dr. R beantragt. Durch Urteil vom 28. Juni 1962 hat das LSG die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen, weil die Leiden des Verstorbenen, nämlich eine Entzündung der Herzinnenhaut auf rheumatischer Grundlage und die Lebererkrankung nach den Gutachten des Prof. Dr. S nicht mit der nach dem Gesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit als Schädigungsfolgen anerkannt werden könnten. Es hat diesem Sachverständigen gegenüber dem Prof. Dr. H den Vorzug gegeben und den Antrag, Prof. Dr. R zu hören, abgelehnt, weil Prof. Dr. H über die gleiche Beweisfrage bereits nach § 109 SGG ein Gutachten erstattet habe.
Die Klägerinnen haben Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hess. Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie haben mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 62, 109 SGG gerügt und geltend gemacht, der Sachverständige Prof. Dr. S habe im Gegensatz zu Prof. Dr. H den EKG-Befund vom 5. März 1952 völlig unberücksichtigt gelassen, dadurch enthalte sein Gutachten Widersprüche.
Der Beklagte beantragt zu erkennen:
Die Revision der Kläger wird als unzulässig verworfen.
Er hält das Verfahren des LSG für fehlerfrei und die Revision, weil sie nicht zugelassen ist, für nicht statthaft.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Klägerinnen haben die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist zwar vom LSG nicht zugelassen worden. Es ist aber statthaft, weil wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt sind und auch vorliegen.
In dem Vorbringen der Klägerinnen, das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. S, auf welches das angefochtene Urteil gestützt ist, enthalte Widersprüche, er habe das am 5. März 1952 hergestellte Elektrokardiogramm nicht berücksichtigt und das weitere am 4. Dezember 1952 gefertigte Elektrokardiogramm nicht übereinstimmend mit dem Sachverständigen Prof. Dr. H gedeutet, kann noch die Rüge einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung erblickt werden. Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Hier hat sich das Berufungsgericht dem Gutachten des Prof. Dr. S angeschlossen und ist mit diesem Sachverständigen davon ausgegangen, daß noch im Dezember 1952 am Herzen ein normaler Befund zu erheben gewesen sei. Mit dem vom behandelnden Arzt Dr. K vorgelegten EKG vom 5. März 1952 hat sich das Berufungsgericht ebensowenig auseinandergesetzt wie Prof. Dr. S. Zwar hat der Oberarzt Dr. K in seinem Gutachten ua ausgeführt, diese Herzstromkurve sei technisch nicht einwandfrei geschrieben und erlaube keine gültige Beurteilung. Dagegen ist Prof. Dr. H dieser Auffassung nicht gefolgt, sondern hat das EKG ohne weiteres verwendet. Prof. Dr. S hat nicht etwa ausgeführt, es dürfe wegen technischer Mängel nicht berücksichtigt werden, sondern hat es übergangen. Da das LSG sich Prof. Dr. S angeschlossen hat und ebenfalls auf das EKG vom 5. März 1952 nicht eingegangen ist, hat es sein Urteil nicht aus dem gesamten Ergebnis des Verfahrens gebildet. Die Rüge der Klägerinnen, § 128 SGG sei verletzt, ist demnach begründet.
Aus dem Gesamtvorbringen der Revision kann weiter noch die Rüge einer unzureichenden Sachaufklärung entnommen werden. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Hierbei ist es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Demnach bestimmt es allein im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die es für die Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet. Sein Ermessen wird allerdings durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Dementsprechend kann es ohne Antrag Beweise erheben oder auch von der Erhebung weiterer Beweise, die ein Beteiligter beantragt hat, absehen. Es kommt darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekannt-gewordenen Tatsachen als ausreichend ansehen durfte, oder sich zu weiteren Ermittlungen hätte veranlaßt sehen müssen. Es hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall eine weitere Beweiserhebung erforderlich ist (BSG 2, 236 ff, 238). So können zB ungelöste Widersprüche in medizinischen Gutachten, insbesondere wenn sie den festgestellten Befund betreffen, dazu führen, daß das Gericht einen weiteren Sachverständigen oder einen Obergutachter hört.
Hier stimmen die beiden Sachverständigen Prof. Dr. H und Prof. Dr. S in den Befunden, die sie verwertet haben, nicht überein. Insbesondere weichen die Darstellungen der seit 1952 erhobenen und von diesen Sachverständigen verwerteten Befunde am Herzen des Ehemannes und Vaters der Klägerinnen voneinander ab. Während Prof. Dr. H auf Grund der beiden Elektrokardiogramme vom 5. März und 4. Dezember 1952 davon ausgegangen ist, daß im Jahre 1952 ein Herzleiden bestanden habe, das auf die - vom LSG unterstellte - Endokarditis in der Kriegsgefangenschaft zu beziehen sei und auch in der Zeit von 1946 bis 1952 laufend Beschwerden verursacht habe, nimmt Prof. Dr. S an, im Dezember 1952 sei der am Herzen zu erhebende Befund noch normal gewesen. Im Hinblick auf diesen Widerspruch in den beiden Gutachten hätte das LSG sich veranlaßt sehen müssen, den Sachverhalt hinsichtlich der Deutung der vorhandenen - und etwa noch heranzuziehenden - Unterlagen über den körperlichen Zustand durch ein weiteres ärztliches Gutachten zu klären. Die Rüge einer Verletzung des § 103 SGG greift demnach ebenfalls durch.
Bei dieser Sachlage kann unerörtert bleiben, ob auch die weitere Rüge einer Verletzung des § 109 SGG begründet ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122) genügt es, wenn einer der gerügten Mängel das Rechtsmittel bereits statthaft macht. Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig angewendet hätte (BSG 2, 197 ff, 201). Die Feststellung des Berufungsgerichts über den ursächlichen Zusammenhang binden vorliegend nach § 163 SGG das Revisionsgericht nicht, weil in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsrügen vorgebracht worden sind. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von dem Ergebnis weiterer Ermittlungen ab. Diese sind dem Senat verwehrt, so daß der Rechtsstreit - wie geschehen - zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden mußte.
In dem weiteren Verfahren wird dieses auch zu prüfen haben, ob in den ärztlichen Gutachten sämtliche Unterlagen über das Herzleiden des Ehemannes und Vaters der Klägerinnen verwendet worden sind und ob noch weitere Unterlagen, beispielsweise aus dem Verfahren betreffend die Bewilligung des Ruhegeldes aus der Angestelltenversicherung oder über den Zustand im Jahre 1949, herangezogen werden können, zumal der behandelnde Arzt Dr. L. einen Röntgenbefund vom Januar 1949, der auch das Herz erwähnt, vorgelegt hat.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen