Leitsatz (amtlich)
Verfolgungszeiten können bei Anwendung des AVG § 37 Abs 1 (= RVO § 1260 Abs 1) den Pflichtbeitragszeiten nur dann hinzugezählt werden, wenn die durch die Verfolgungszeiten beendete (unterbrochene) rentenversicherungspflichtige Beschäftigung (Tätigkeit) mit Beiträgen belegt ist. Diese Voraussetzung fehlt, wenn die Arbeitnehmeranteile der entrichteten Pflichtbeiträge wegen Heirat erstattet und Beiträge nicht für die Zeit bis zur Verfolgung nachentrichtet worden sind.
Normenkette
AVG § 37 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1260 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; WGSVG § 12
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. September 1973 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob bei der Rentenberechnung eine Zurechnungszeit zu berücksichtigen ist.
Die 1912 geborene Klägerin - anerkannte Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) - war von Mai 1928 bis April 1936 in Deutschland als Kontoristin beschäftigt; im Mai 1936 wanderte sie nach Argentinien aus. Im Juli 1936 ließ sie sich die Arbeitnehmeranteile der zur Rentenversicherung der Angestellten entrichteten Beiträge wegen Heirat erstatten. Im April 1966 wurde die Klägerin berufsunfähig. Seitdem bezieht sie eine Berufsunfähigkeitsrente; hierbei sind die für die Zeit von Juli 1933 bis Oktober 1934 gemäß Art. X BEG-Schlußgesetz nachentrichteten Beiträge und eine verfolgungsbedingte Ersatzzeit von Mai 1936 bis Dezember 1949 berücksichtigt. Im Mai 1972 entrichtete die Klägerin nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG - BGBl I S. 1846) weitere Beiträge für die Zeit von Dezember 1928 bis Dezember 1932 sowie für Oktober 1952 nach. Die Beklagte hatte die Nachentrichtung nach den §§ 8 und 10 WGSVG zugelassen. Mit zwei Bescheiden vom 21. September 1972 berechnete die Beklagte darauf die Rente neu. Die Klägerin beanstandet die Berechnung; sie verlangt die Anrechnung einer Zurechnungszeit (21 Monate).
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt. Das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Nach Ansicht des LSG ist keine Zurechnungszeit zu berücksichtigen, weil die Halbdeckung nach § 37 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) mit nur 66 anzurechnenden Beiträgen nicht erfüllt ist. Die Verfolgtenersatzzeit könne hierbei nicht gemäß § 12 WGSVG als Beitragszeit behandelt werden. Nach der Gesetzessystematik verlange der Gesetzgeber für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung in § 12 WGSVG auch die Entrichtung von Beiträgen. Der Annahme einer Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch Verfolgung stehe daher die Erstattung der Pflichtbeiträge im Jahre 1936 entgegen. Die Klägerin habe für die betroffenen Zeiten Beiträge nicht in vollem Umfang nach dem BEG-Schlußgesetz bzw. dem WGSVG nachentrichtet.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Sie meint, der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung müsse im WGSVG eine einheitliche Bedeutung haben und § 12 WGSVG entsprechend seinem Wortlaut Anwendung finden. Eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung sei einem bestehenden Versicherungsverhältnis nicht gleichzusetzen. Das habe auch die Beklagte bei der Zulassung der Nachentrichtung nach § 10 i. V. m. § 9 WGSVG anerkannt. Im übrigen habe das Versicherungsverhältnis im Zeitpunkt der Emigration noch bestanden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Klägerin kann keine höhere Versichertenrente beanspruchen. Nach der 2. Alternative von § 37 Abs. 1 Satz 2 AVG (die 1. Alternative kommt hier nicht in Betracht) ist eine Zurechnungszeit anzurechnen, wenn die Zeit vom Eintrittsmonat in die Versicherung bis zum Monat des Versicherungsfalls mindestens zur Hälfte mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist (Halbdeckung). Dabei werden allerdings aus der Gesamtzahl der Kalendermonate vom Versicherungseintritt bis zum Versicherungsfall u. a. die Ersatzzeiten nach dem Versicherungseintritt ausgeklammert. Daß bei dieser Berechnung die Halbdeckung nicht erfüllt ist, ist hier nicht zweifelhaft.
Dagegen wäre die Halbdeckung bei Anwendung des § 12 WGSVG erfüllt; dann würden nämlich auf einen Belegungszeitraum von 447 Kalendermonaten außer den 66 Beitragsmonaten noch 164 Monate an Verfolgungszeit entfallen. § 12 WGSVG ist hier aber nicht anwendbar. Nach dieser Vorschrift sind Verfolgungszeiten bei Anwendung des § 37 Abs. 1 AVG den Beitragszeiten hinzuzuzählen, wenn durch die Verfolgungszeiten eine "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" beendet worden ist. Das war hier nicht der Fall.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat wiederholt klargestellt, daß der Begriff "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" im Recht der Rentenversicherung nicht einheitlich ausgelegt werden kann (vgl. BSGE 11, 274; 16, 284; 17, 113; 20, 185). Was darunter zu verstehen ist, muß der jeweiligen Vorschrift entnommen werden. Die hier auszulegende Vorschrift des § 12 Satz 1 WGSVG will Verfolgungszeiten, die eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen bzw. beendet haben, bei der Anwendung des § 37 Abs. 1 AVG den Zeiten mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit hinzuzählen. Soweit das Recht der Rentenversicherung aber bestimmte Zeiten wegen ihres (zeitlichen) Zusammenhangs mit Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit den Beitragszeiten gleichstellt (vgl. § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AVG), setzt das immer voraus, daß die Zeiten der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ihrerseits Beitragszeiten sind. Es wäre auch nicht zu verstehen, inwiefern Zeiten mit Versicherungspflicht, aber ohne Beitragsleistung anderen Zeiten - ganz oder teilweise - die Wirkung von Beitragszeiten verleihen könnten. Insoweit kann für § 12 WGSVG nichts anderes gelten. Zu Unrecht beruft sich die Klägerin demgegenüber auf den Wortlaut von § 9 WGSVG, der in Verbindung mit § 10 u. a. für die Beklagte Grundlage für die Zulassung der Beitragsnachentrichtung war. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es nicht um die Auslegung der §§ 9 und 10 WGSVG; abgesehen davon wäre auch nicht darüber hinwegzusehen, daß die §§ 9 und 10 nicht wie § 12 WGSVG Zeiten ohne Beitragsleistung den Beitragszeiten gleichstellen.
Nach diesen Grundsätzen war die Beschäftigung der Klägerin vor Beginn ihrer Verfolgungszeit keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 12 WGSVG. Die damalige Beschäftigung kann nicht mehr als mit Beiträgen belegt angesehen werden, weil die Arbeitnehmeranteile der hierfür entrichteten Pflichtbeiträge der Klägerin erstattet worden sind und sie Beiträge für die Zeit vor ihrer Verfolgung nur bis Oktober 1934 nachentrichtet hat. Gegenteiliges ist auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang des WGSVG zu folgern. Die unter dem Abschnitt III zusammengefaßten Vorschriften des WGSVG regeln den Ausgleich von Schäden, die Versicherte durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten haben. Ein nach §§ 12 ff WGSVG auszugleichender Schaden liegt grundsätzlich nur vor, wenn Versicherungsverhältnisse betroffen wurden, die durch Beitragsleistungen für eine Beschäftigung oder Tätigkeit begründet waren. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz sind erschöpfend und abschließend in den §§ 7 bis 10 und 14 Abs. 2 WGSVG geregelt. Im übrigen sind die Grundsätze des Rentenrechts, also auch die Verfallswirkung einer vorangegangenen Beitragserstattung zu beachten. Die Bestimmungen der §§ 7 ff WGSVG in Verbindung mit Art. X BEG-Schlußgesetz gehen davon aus, daß in diesem Falle das Versicherungsverhältnis gelöst worden ist. Dem Bestreben, im Wege der Wiedergutmachung den Zustand herzustellen, der ohne Verfolgung bestanden hätte, tragen sie dadurch Rechnung, daß dem Verfolgten die Wiederbegründung des Versicherungsverhältnisses durch nachträgliche Beitragsleistungen ermöglicht wird.
Die Klägerin hat zwar von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und für die Zeit von Dezember 1928 bis Dezember 1932 und Juli 1933 bis Oktober 1934 Beiträge nachentrichtet, die nach § 8 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 WGSVG als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge gelten. Damit kann aber nicht ihre rentenversicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 12 Satz 1 WGSVG als durch ihre Verfolgungszeit beendet angesehen werden. Das Ende der beitragsbelegten versicherungspflichtigen Beschäftigung und der Beginn der Verfolgungsmaßnahmen müssen im zeitlichen Zusammenhang stehen. Das ist nicht der Fall. Selbst wenn ein unmittelbarer Anschluß der Verfolgungszeit an die beitragsbelegte versicherungspflichtige Beschäftigungszeit nicht zu fordern wäre, ist jedenfalls der hier vorliegende Zwischenraum zu groß. Ob (daß) die Klägerin Beiträge auch für die Zwischenzeit von Oktober 1934 bis Mai 1936 hätte nachentrichten können, ist unerheblich, weil es nur auf die tatsächlich nachentrichteten Beiträge ankommt.
Die Revision der Klägerin ist somit unbegründet und muß deshalb zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Fundstellen