Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der rund 13 Stunden nach der Geburt seines Enkelkindes in einem Krankenhaus stirbt, hat dieses nicht in seinen Haushalt aufgenommen, so daß das Enkelkind keinen Anspruch auf Waisenrente hat.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 8 Fassung: 1964-04-14, § 1267 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 Fassung: 1964-04-14
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Februar 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der am 15. Mai 1969 um 9.00 Uhr geborenen Klägerin M L Waisenrente aus der Versicherung ihres am selben Tage um 21.45 Uhr verstorbenen Großvaters A L zusteht.
Von Ende 1963 bis zu seinem Tode wohnte der Versicherte A L zusammen mit seiner Ehefrau und sieben seiner Kinder, darunter der am 25. Mai 1950 geborenen M L, der Mutter der Klägerin, in der Wohnung K, K. M L gebar ihre Tochter M bei der Hebamme H K in F; einige Tage nach dem Tod des Versicherten kehrte sie mit ihrer Tochter M in die genannte gemeinsame Wohnung zurück.
Am 23. Mai 1969 beantragte die Witwe des Versicherten für ihre Kinder M und M sowie für die Klägerin Waisenrente aus der Rentenversicherung des verstorbenen A L. In ihrem an die Witwe des Versicherten gerichteten Bescheid vom 8. Oktober 1969, in dem die Beklagte die Waisenrenten für deren Kinder M und M bewilligte, lehnte es die Beklagte ab, Waisenrente für die Klägerin zu gewähren, weil die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vor Eintritt des Versicherungsfalles nicht erfüllt seien. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 8. Oktober 1969 verurteilt, der Klägerin aus der Versicherung des verstorbenen Versicherten Waisenrente zu zahlen (Urteil vom 28. Juni 1972). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 8. Februar 1974).
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1267 Abs. 1 i. V. m. § 1262 Abs. 2 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BKGG.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Mit Recht hat das LSG entschieden, daß der Klägerin keine Waisenrente als Enkelkind aus der Versicherung ihres verstorbenen Großvaters (Versicherter) gemäß §§ 1267 Abs. 1 Satz 1, 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO und § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BKGG zusteht.
Die Klägerin gilt als Kind i. S. des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BKGG "wenn diese vor Eintritt des Versicherungsfalls erfüllt worden sind." Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BKGG gehen dahin, daß der Berechtigte den Enkel "in seinen Haushalt aufgenommen hat oder überwiegend unterhält." Ein Enkel eines Versicherten kann demnach nur dann waisenrentenberechtigt sein, wenn dieser im Zeitpunkt seines Todes den Enkel bereits in seinen Haushalt aufgenommen oder überwiegend unterhalten hatte.
Soweit der Waisenrentenanspruch darauf gegründet werden kann, daß der Versicherte den Enkel vor Eintritt des Versicherungsfalls überwiegend unterhalten hat, steht nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG fest, daß der Versicherte vor seinem Tod die Klägerin nicht unterhalten hat. Damit entfällt erst recht die Grundlage für die vom Gesetz verlangte Voraussetzung der überwiegenden Unterhaltsgewährung. Insoweit scheitert der Waisenrentenanspruch der Klägerin.
Die Beteiligten streiten daher vorrangig darüber, ob der Versicherte vor seinem Tod die Klägerin in seinen Haushalt aufgenommen hatte und damit die Voraussetzung des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BKGG erfüllt ist. Mit Recht ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß auch dies nicht der Fall ist.
Der Versicherte hatte die Klägerin vor seinem am 15. Mai 1969 um 21.45 Uhr eingetretenen Tod nicht in seinen Haushalt aufgenommen. Diese Feststellung hat das LSG zu Recht getroffen. Die Aufnahme in den Haushalt bedeutet Aufnahme in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis familienhafter Art (BSGE 20, 91, 93 = SozR Nr. 10 zu § 2 KGG; BSGE 25, 109, 111 = SozR Nr. 14 zu § 2 KGG; BSGE 29, 292, 293 = SozR Nr. 19 zu § 1262 RVO; BSGE 33, 105, 106 f = SozR Nr. 45 zu § 1267 RVO; SozR Nrn 26, 30 und 31 zu § 1262 RVO; SozR Nr. 43 zu § 1267 RVO). Die Aufnahme in die Familiengemeinschaft schließt nicht notwendig die volle, überwiegende oder wesentliche Unterhaltsgewährung mit ein. Es muß aber von dem Versicherten verlangt werden, daß er dem Kind seine Fürsorge zuwendet, indem er es regelmäßig und in nicht unbeachtlichem Ausmaß (mit) beaufsichtigt, erzieht, pflegt oder sich an den dem Kind geltenden Hausarbeiten beteiligt (BSGE 29, 292, 293 = SozR Nr. 19 zu § 1262 RVO). Von alledem kann hier entgegen der Auffassung der Klägerin keine Rede sein. Abgesehen davon, daß die Klägerin zu Lebzeiten des Versicherten sich nicht in dessen Haushalt, sondern bei der Hebamme in F befunden hat - der von der Revision mehrfach angeführte Klinikaufenthalt ist vom LSG ohnehin nicht festgestellt worden -, hatte der Versicherte, wie das LSG zutreffend erkannt hat, während der kaum mehr als 12 Stunden von der Geburt der Klägerin an bis zu seinem Tod keine Gelegenheit und erst recht keine Möglichkeit, anstelle der leiblichen Mutter fürsorgend und betreuend für die Klägerin tätig zu werden.
Die Revision will dieses Ergebnis nicht hinnehmen, weil, so meint sie, nach der Lebensauffassung die Klägerin bereits mit ihrer Geburt in den Haushalt des Versicherten aufgenommen worden sei, wofür vor der Geburt alles vorbereitet gewesen sei; die Klägerin sei gleichsam in den Haushalt des Versicherten hineingeboren worden.
Dieser Gedankengang geht fehl. Er läßt nämlich unberücksichtigt, daß die Haushaltsaufnahme zwingend vor dem Eintritt des Versicherungsfalls - Tod des Versicherten um 21.45 Uhr des 15. Mai 1969 - verwirklicht gewesen sein muß. Daß die Klägerin alsbald danach in den Haushalt der Großmutter aufgenommen wurde, wie dies vor der Geburt und dem Tod des Versicherten zwischen beiden Großeltern und der Kindesmutter verabredet worden war, vermag daran nichts zu ändern. Dies geschah nämlich erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalls. Soweit die Klägerin meint, sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, daß eine räumliche Trennung der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes nicht entgegensteht (BSG SozR Nr. 43 zu § 1267 RVO; BSGE 33, 105, 106 f = SozR Nr. 45 aaO), berufen zu können, verkennt sie die unterschiedlichen tatsächlichen Voraussetzungen. Dort bestanden bereits wegen der Haushaltsaufnahme familienhafte Beziehungen, die bei einer späteren vorübergehenden Trennung fortbestanden. Hier fehlten sie aber von Anfang an.
Das Ergebnis, daß der Klägerin keine Waisenrente zuzuerkennen ist, wird zusätzlich vom Sinn und Zweck der Vorschriften über die Waisenrente getragen: Die Waisenrente soll den Unterhaltsverlust des Kindes ausgleichen. Das Gesetz setzt voraus, daß vor dem Eintritt des Todes als Versicherungsfall der Versicherte dem Kind mit der Haushaltsaufnahme verbundene Dienste wie Versorgung, Betreuung, Beaufsichtigung und Erziehung zugewendet oder das Kind überwiegend unterhalten hat. Durch den Tod des Versicherten fallen diese Leistungen fort (BSGE 29, 292, 293 = SozR Nr. 19 zu § 1262 RVO; SozR Nr. 43 zu § 1267 RVO; BSGE 33, 105, 106 = SozR Nr. 45 zu § 1267 RVO). Insofern sind die Verhältnisse vor dem Tod des Versicherten mit denjenigen nach dessen Tod zu vergleichen. Die Einbuße an den genannten Zuwendungen ist der maßgebliche Umstand dafür, daß nunmehr anstelle des nicht mehr vom Versicherten zu erlangenden Unterhalts die Waisenrente tritt.
Sobald das erste der beiden genannten Vergleichselemente, nämlich die Haushaltaufnahme, fehlt, mangelt es an der bei der Waisenrentenregelung grundsätzlich vorausgesetzten Ausgangslage. Es würde dem Sinn und Zweck des Ausgleichscharakters der Waisenrente widersprechen, Waisenrente auch dann zuzuerkennen, wie dies die Klägerin erstrebt, wenn zwar bis zu dem Tod des Versicherten dieser das Ungeborene natürlicherweise nicht in seinen Haushalt aufnehmen konnte, nach seinem Tod aber mit der Haushaltsaufnahme des Kindes gerechnet werden kann.
Das Waisenrentenbegehren der Klägerin muß auch noch aus einem weiteren Grund scheitern: Die Waisenrentenregelung baut auf der Annahme auf, daß der Versicherte, wäre er nicht gestorben, wie bisher seine Leistungen dem Kind zugewendet hätte. Diese auf die Zukunft gerichtete Annahme gründet sich auf Tatsachen, etwa auf die einer Haushaltsaufnahme. Dabei werden zu erwartende spätere abträgliche Entwicklungen, die sogar zu einem Leistungswegfall führen könnten, bewußt außer acht gelassen. Die Klägerin aber will mit ihren Ausführungen auch auf die der Annahme zukünftiger Leistungen des Versicherten zugrunde liegenden Tatsachen verzichten. Damit verläßt sie den für die Annahme maßgeblichen festen Boden und verweist die Waisenrentengewährung einschränkungslos in einen hypothetischen Bereich. Gerade dies widerspricht der vom Gesetz im bisherigen Verhalten des Versicherten verlangten und tatsächlich feststellbaren Bewährung.
Der auch im Revisionsverfahren wiederholte Hinweis der Klägerin auf das einen Hinterbliebenenanspruch einer geschiedenen Frau aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes (§ 1265 RVO) betreffende Urteil des BSG vom 16. Juni 1961 - 4 RJ 25/59 - (BSGE 14, 255) vermag das Begehren der Klägerin nicht zu stützen. Der Rückgriff auf diese Entscheidung versagt deshalb, weil der Hinterbliebenenrentenanspruch einer geschiedenen Ehefrau nicht unmittelbar mit demjenigen einer Waise vergleichbar ist. Zudem hängt die Waisenrente, worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat, anders als die Hinterbliebenenrente nach den ersten beiden Alternativen des § 1265 Abs. 1 RVO nicht von Unterhaltsverpflichtungen des Versicherten gegenüber dem Rentenantragsteller - darum ging es in BSGE 14, 255 - ab. Bei der Waisenrente ist jedoch allein auf die Tatsachen abzuheben, seien es solche der Haushaltsaufnahme, seien es solche der überwiegenden Unterhaltsleistung, die vor dem Tode des Versicherten vorhanden gewesen sein müssen. Im übrigen bestätigt gerade der am ehesten mit dem Waisenrentenanspruch eines Enkels vergleichbare Hinterbliebenenrentenanspruch einer geschiedenen Ehefrau nach der dritten Alternative des § 1265 Abs. 1 RVO ("wenn er - der versicherte geschiedene Ehemann - im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet hat"), daß auch dort eine vor dem Tod des Versicherten liegende tatsächliche Bewährung in Form einer längeren Unterhaltsleistung vorausgesetzt wird. Damit wird auch hier jener tatsächliche Umstand vorausgesetzt, der für die Beurteilung des streitigen Waisenrentenanspruchs von entscheidender Bedeutung ist.
Angesichts dieser Feststellung kann schließlich die Lösung des vorliegenden Falles entgegen der Auffassung der Klägerin nicht darin gefunden werden, daß die fehlende gesetzliche Regelung als Gesetzeslücke angesehen und im Wege der Analogie durch den Richter geschlossen wird. Zur Lückenfüllung ist der Richter nur dann befugt, wenn eine Gesetzeslücke ungewollt und planwidrig ist (vgl. BSGE 14, 238, 241). Hier ist das Gegenteil festzustellen. Wegen der betonten Anknüpfung an bereits vor dem Tode des Versicherten von diesem erbrachte Leistungen mußte der Gesetzgeber von einer Regelung, wie sie der Klägerin vorschwebt, absehen. Was der Klägerin als lückenhaft erscheint, ist in Wahrheit vom Gesetz gewollt. Der Richter hat dies zu beachten. Ihm ist der Weg der Analogie versperrt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1650239 |
BSGE, 207 |