Entscheidungsstichwort (Thema)
Volontärverhältnis ist keine Lehrzeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Redaktionsvolontariat ist keine Lehrzeit iS von AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a).
Leitsatz (redaktionell)
Das Volontariat grenzt sich von der Lehrzeit ua dadurch ab, daß es "keine breit angelegte, länger dauernde Ausbildung zu einem anerkannten Ausbildungsberuf voraussetzt". Die in AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a) erwähnte Lehrzeit ist eine solche in herkömmlichem Sinne, so daß andere Berufsausbildungen hiervon nicht erfaßt werden. Ein Volontärverhältnis stellt daher keine Ausfallzeit dar.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. a; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. a; HGB § 82a Fassung: 1914-06-10; BBiG § 19
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 01.06.1978; Aktenzeichen L 6/An 506/77) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 18.03.1977; Aktenzeichen S 6/An 62/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Juni 1978 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Zeit eines Redaktionsvolontariats als Ausfallzeit rentensteigernd anzurechnen ist.
Der 1911 geborene Kläger arbeitete nach dem Abitur von Mai 1933 bis April 1934 versicherungsfrei als Volontär bei einer Zeitung in E. Anschließend war er dort Redakteur.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 24. Juli 1974 vorzeitiges Altersruhegeld, ohne die vorgenannte Zeit zu berücksichtigen.
In den Vorinstanzen hatte der Kläger keinen Erfolg. Mit Urteil vom 1. Juni 1978 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers gegen das seinen Anspruch verneinende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 18. März 1977 zurückgewiesen und ausgeführt: Die streitige Zeit sei keine Ausfallzeit im Sinne des § 36 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Der in dieser Bestimmung verwendete Begriff "Lehrzeit" erfasse nicht die Zeiten als Praktikant oder Volontär, sondern nur Lehrzeiten im engeren Sinne. Es komme hiernach darauf an, ob der Kläger während seiner Ausbildung zum Redakteur die Rechtsstellung eines Lehrlings gehabt habe. Für den Beruf als Redakteur gebe es keine Bestimmungen über Mindestanforderungen an Fachwissen und Fachkönnen. Die Volontärzeit sei demnach keine systematisch auf das Ziel eines normierten Berufsbildes ausgerichtete Lehre.
Gegen dieses Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, er habe als Volontär in bezug auf den Beruf eines Schriftleiters die gleiche intensive Berufsausbildung durchgemacht wie ein kaufmännischer oder handwerklicher Lehrling. Es sei völlig gleichgültig, ob ein Auszubildender Lehrling oder Volontär genannt werde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Darmstadt vom 1. Juni 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 2. Mai 1933 bis 30. April 1934 als Ausfallzeit anzuerkennen und einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, daß es das Bundessozialgericht (BSG) ausdrücklich abgelehnt habe, jede Ausbildungszeit als Lehrzeit im Sinne des Gesetzes anzusehen. Angesichts der ausdrücklichen Beschränkung der Vergünstigungen des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 a AVG auf Lehrzeiten im eigentlichen Sinn sei eine analoge Anwendung dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt. Das Redaktionsvolontariat sei eine "echte Volontärzeit".
Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -)
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AVG (= § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) sind anrechenbare Ausfallzeiten Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen, nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit (Buchst a) und - im zeitlich beschränkten Umfang - einer weiteren Schulausbildung oder abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung (Buchst b). Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß sich ein Redaktionsvolontariat selbst bei weiter Auslegung des Gesetzes nicht als Schulzeit ansprechen läßt. Auch nach Auffassung des Klägers kann in seinem Fall nur in Betracht kommen, ob er eine "Lehrzeit" im Sinne des Gesetzes zurückgelegt hat. Das ist zu verneinen.
Lehrling im Sinne des bis zum Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 geltenden Rechts war, wer für einen Ausbildungsberuf in Handwerk, Industrie und Verwaltung die vor Ablegung der Gesellen- oder Gehilfenprüfung vorgeschriebene Ausbildung zurücklegte. Lehrling in diesem landläufigen Sinn war der Kläger nicht. Er meint nun, daß er als Redaktionsvolontär in einem weiter verstandenen Sinn Lehrling gewesen sei; in diesem weiten Sinne verstehe auch das Gesetz den Begriff der Lehrzeit. Hierin kann ihm nicht gefolgt werden.
Das BSG hat sich wiederholt mit der Frage befassen müssen, ob § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AVG auf alle Ausbildungsverhältnisse zu erstrecken sei, die zu einem Ausfall von Beiträgen geführt haben. Diese Frage hat das BSG immer verneint und ausgeführt, daß das Gesetz nur ganz bestimmte typische Ausbildungen erfasse; es habe bewußt davon abgesehen, Ausbildungszeiten schlechthin den Charakter von Lehrzeiten beizulegen. Eine entsprechende Anwendung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 a AVG auf andere als die dort bezeichneten Ausbildungen sei nicht statthaft; dann nämlich sei eine Abgrenzung von Ausbildungszeiten schlechthin nicht möglich (vgl BSGE 31, 226, 230 = SozR Nr 30 zu § 1259 RVO; SozR Nr 40 und 46 zu § 1259 RVO; vgl auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Breithaupt 1959, 42). Was speziell den Begriff der Lehrzeit angeht, so hat es das BSG stets abgelehnt, eine als Praktikant verbrachte Zeit als Lehrzeit anzuerkennen (BSG SozR Nr 40 und 47 zu § 1259 RVO). Entsprechend hat das BSG zur kaufmännischen Volontärzeit ausgeführt, daß sie nicht Lehrzeit sein könne, weil das Gesetz den Begriff der Lehrzeit bewußt gewählt habe und eng verstehe, um sogenannte Anlernzeiten auszuschließen (BSG SozEntsch BSG 6 § 36 Nr 34). Dem ist auch für das Redaktionsvolontariat beizupflichten; was zB für einen Praktikanten gilt, kann nicht anders für einen Volontär gelten.
Erstmalig gesetzlich behandelt wurde das Volontärverhältnis in dem 1915 in das Handelsgesetzbuch (HGB) eingeführten § 82 a. In Anlehnung an diese Vorschrift haben Lehre und Rechtsprechung in der Vergangenheit für alle Volontäre bestimmte Grundsätze entwickelt (vgl mit zahlreichen Nachweisen Schmidt, BB 1971, 622). Seit dem Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes ist unstreitig, daß der Volontär zusammen mit dem Anlernling und dem Praktikanten unter die "anderen Vertragsverhältnisse" des § 19 dieses Gesetzes fällt (vgl etwa Herkert, BBiG, § 19, Rd Nrn 1, 4, 7). Wegen der für diese "anderen Vertragsverhältnisse" vorgeschriebenen Nichtanwendung des § 1 Abs 2 BBiG grenzt sich mithin das Volontariat von der Lehrzeit ua dadurch scharf ab, daß es keine breit angelegte, länger dauernde Ausbildung zu einem anerkannten Ausbildungsberuf voraussetzt. § 19 aaO regelt nämlich die zumeist gerade nicht breit angelegte Vermittlung bestimmter Kenntnisse in einem Beruf, der keine Lehre oder Ausbildungszeit im herkömmlichen Sinne fordert. Der Gesetzgeber hat mithin durch § 82 a HGB und § 19 BBiG Vorschriften erlassen, die das Volontariat zusammen mit Praktikum und Anlernzeit ausdrücklich von der - früheren - Lehrzeit abheben und sie eigenständig regeln. Wenn der Gesetzgeber in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a AVG nur von einer Lehrzeit spricht, so versteht er diese offenkundig im herkömmlichen, im engen Sinne in der Absicht, andere Berufsausbildungen nicht zu erfassen. Spätestens seit der Zeit, zu der sich in diesem Sinne - wie zitiert - eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung zu der letztgenannten Vorschrift herausgebildet hatte, hätte der Gesetzgeber Anlaß gehabt, den Wortlaut des Gesetzes im Sinne der Auffassung des Klägers zu ändern und alle Ausbildungsverhältnisse zu erfassen; da er dies nicht getan hat, obschon er noch nach Inkrafttreten des BBiG § 36 Abs 1 AVG wiederholt geändert hat, muß davon ausgegangen werden, daß er diese Rechtsprechung billigt.
Nach alledem hat der Kläger als Redaktionsvolontär keine Lehrzeit im Sinne des Gesetzes zurückgelegt. Das LSG hat hiernach zutreffend entschieden. Die Revision des Klägers ist als unbegründet zurückzuweisen.
Gemäß § 193 des SGG war zu entscheiden, daß außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind.
Fundstellen