Leitsatz (amtlich)

Gegen die in Art 2 § 23a ArVNG idF des Haushaltbegleitgesetzes 1983 bestimmte Rückwirkung des § 1279a RVO auf vor dem 1.1.1983 eingetretene Versicherungsfälle, wenn die ausländische Unfallrente bereits für Rentenbezugszeiten vor dem genannten Stichtag berücksichtigt worden ist, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

 

Normenkette

ArVNG Art 2 § 23a Fassung: 1982-12-20; RVO § 1279a Fassung: 1982-12-20, § 1278; GG Art 20 Abs 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.03.1984; Aktenzeichen L 6 Ar 84/80)

SG Augsburg (Entscheidung vom 06.12.1979; Aktenzeichen S 12 Ar-It 634/79)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine Anrechnung seiner belgischen Unfallrente auf seine deutsche Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der 1920 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und wohnt in Italien. Er war dort in der Zeit von September 1939 bis Februar 1963 tätig und legte 765 Wochen Versicherungszeiten zurück. In Belgien arbeitete er von 1948 bis 1952 und entrichtete für 140 Wochen Pflichtbeiträge. In der Bundesrepublik Deutschland war er von 1963 bis 1973 versicherungspflichtig beschäftigt und entrichtete für 112 Monate Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung.

Von der Kasse für Berufskrankheiten in Brüssel bezieht er wegen einer Anthrakosilikose seit Mai 1968 eine Rente aus der belgischen Unfallversicherung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 72 vH. Seit dem 1. August 1973 erhält der Kläger von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid der Beklagten vom 5. April 1977). Die Beklagte rechnete ihm gem § 1278 Reichsversicherungsordnung (RVO) von Anfang an die belgische Unfallrente an.

Mit Bescheid vom 21. Mai 1979 berechnete die Beklagte die dem Kläger zustehende Rente für die Zeit ab 1. April 1975 neu, nachdem sie eine Aufstellung des belgischen Versicherungsträgers über die Höhe der vom 1. Februar 1975 bis 9. Januar 1978 gezahlten belgischen Rente erhalten hatte. Sie stellte ua eine Überzahlung von 5.852,40 DM fest und kündigte einen Rückforderungsbescheid an. Für die Zeit ab 1. Januar 1978 ergab sich kein Zahlbetrag mehr.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben und bestritten, daß wegen der belgischen Rente die deutsche Rente ruhen dürfe. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Mai 1979 verurteilt, dem Kläger ab 1. Juli 1979 die ungekürzte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 6. Dezember 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers die Beklagte verurteilt, an den Kläger ungekürzte Rente bereits ab 1. April 1975 zu zahlen (Urteil vom 27. März 1984). Es hat im wesentlichen ausgeführt: § 1278 RVO sei nicht anzuwenden, weil diese Vorschrift das teilweise Ruhen einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur beim Zusammentreffen mit einer Verletztenrente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung rechtfertige. Auch Art 12 Abs 2 der EWG-Verordnung Nr 1408/71 scheide dafür als Rechtsgrundlage aus, weil die von der Beklagten gezahlte EU-Rente ausschließlich nach deutschen Versicherungszeiten berechnet worden sei. Die Anwendung europäischen Rechts dürfe aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht zu einer Schmälerung ausschließlich nationaler Ansprüche führen. Daran ändere auch der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1982 (HBeglG) eingeführte und ab 1. Januar 1983 geltende § 1279a RVO nichts. Nach Art 2 § 23a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gelte diese Regelung zwar auch für Versicherungsfälle und Rentenbezugszeiten vor dem 1. Januar 1983, aber nur dann, wenn die bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit geleistete Rente bereits für Rentenbezugszeiten vor dem 1. Januar 1983 berücksichtigt worden sei oder eine Berücksichtigung nach dem am 31. Dezember 1982 geltenden über- oder zwischenstaatlichen Recht vorgesehen gewesen sei. Zwar habe die Beklagte die belgische Rente bereits für Rentenbezugszeiten vor dem 1. Januar 1981 berücksichtigt. Diese Anrechnung sei jedoch zu Unrecht erfolgt. Die Auslegung des Art 2 § 23a ArVNG ergebe aber, daß die Rückwirkung nur gelten solle, wenn die rechtmäßige Anwendung der früheren Rechtsvorschriften ein (teilweises) Ruhen der Rente ergeben habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 1279a RVO und des Art 2 § 23a ArVNG.

Sie beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 6. Dezember 1979 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 21. Mai 1979 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 1979 ist unter Berücksichtigung des durch das HBeglG 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) eingeführten § 1279a RVO und der dazu ergangenen Übergangsregelung nicht zu beanstanden. Nach der genannten Vorschrift gelten die Ruhensbestimmungen der §§ 1278, 1279 RVO allgemein seit dem 1. Januar 1983 (Art 19 Nr 37 HBeglG 1983) auch in Bezug auf ausländische Unfallrenten. Gemäß Art 23a ArVNG gilt die neue Vorschrift des § 1279a RVO - ua - aber auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1983, wenn die ausländische Versicherungsrente vom deutschen Versicherungsträger - wie im vorliegenden Fall - tatsächlich bereits für Rentenbezugszeiten vor dem Stichtag berücksichtigt worden ist. Der Gesetzgeber wollte damit eine rückwirkende Gleichbehandlung der Bezieher von inländischen und ausländischen Unfallrenten hinsichtlich der Auswirkungen beim Zusammentreffen mit Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung dadurch erreichen, daß er die diesbezügliche Verwaltungspraxis auch für die Vergangenheit sanktionierte.

Diese Rückwirkung der Norm ist verfassungsgemäß - wie der erkennende Senat bereits zu den vergleichbaren Übergangsregelungen in Art 2 § 14b Abs 2 und Art 2 § 22 ArVNG entschieden hat (vgl Urteil vom 27. März 1984 in SozR 2200 § 1276 Nr 8 und das ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 30. Oktober 1985 - 5b RJ 16/85 -). Auch in den von Art 2 § 23a ArVNG erfaßten Fällen sind die Voraussetzungen erfüllt, unter denen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausnahmsweise echte Rückwirkungen von Gesetzen zuläßt. So steht dem Gesetzgeber bei verworrener oder zumindest unklarer Rechtslage die Befugnis zu, für in der Vergangenheit liegende Tatbestände eine rückwirkende geänderte Rechtsfolge zu statuieren (vgl BSG aaO mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG). Der durch das HBeglG 1983 neu eingeführte § 1279a RVO muß insoweit als Reaktion des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gewertet werden, die die uneingeschränkte Anwendung des § 1278 RVO auf ausländische Unfallrenten nicht gebilligt hatte (vgl SozR 2200 § 1278 Nr 10 mwN). Der Gesetzgeber mußte deshalb klären, ob diese Rechtsprechung seinem Willen entsprach oder ob es lediglich durch Versehen nicht zu einer dem § 1278 RVO entsprechenden Regelung bei ausländischen Unfallrenten gekommen war. Das hat er durch § 1279a und Art 2 § 23a ArVNG getan.

Da die Beklagte hier die Neuberechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers aufgrund einer neuen Aufstellung der belgischen Unfallrentenbeträge erst mit Wirkung vom 1. April 1975 vorgenommen hat, steht dem angefochtenen Bescheid vom 21. Mai 1979 auch das Urteil des erkennenden Senats vom 20. Februar 1980 (SozR 2200 § 1278 Nr 7) nicht entgegen. Danach sind Rentenbescheide selbständig der Bindung zwar insoweit zugänglich, als sie einen Ausspruch dahin enthalten, daß eine mit einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung zusammentreffende Versichertenrente in bestimmter Höhe ruhensfrei sei. Die Eigenschaft dieses Ausspruches als bindungsfähiger Verfügungssatz wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Bescheid unter falscher Anwendung der Ruhensvorschriften zustande gekommen ist. In einem derartigen Fall darf die Ruhensanordnung nicht allein deswegen geändert werden, weil sie der Rechtslage nicht entspricht. Darum handelt es sich hier aber nicht. Die Beklagte hatte neue Informationen über die Höhe der belgischen Unfallrente erhalten und deswegen die Rente neu festgesetzt. Die Beklagte hatte im ersten Bescheid vom 5. April 1977 nur die Rente des Klägers, deren Höhe und den ruhensfreien Teil für die Zeit ab 1. August 1973 festgestellt. Dies hinderte sie nicht, die Erwerbsunfähigkeitsrente neu festzustellen, nachdem sie die die Höhe der ab 1. Februar 1975 gezahlten und den Ruhenstatbestand schaffenden Leistungen erfahren hatte (vgl BSG in SozR aaO S 11). Da insoweit der Neufeststellungsbescheid vom 21. Mai 1979 rechtshängig ist, wurde zugunsten des Klägers hier auch kein Vertrauensschutz begründet, der der rückwirkenden Übergangsregelung des Art 2 § 23 ArVNG entgegenstehen könnte. Die Rentenneufeststellung war auch ohne vorherige Anhörung des Klägers zulässig (§ 34 Abs 2 Nr 5 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - in der vor dem 1. Januar 1981 gültigen Fassung).

Da der vorliegende Rechtsstreit nur um die Frage der Anwendbarkeit des § 1278 RVO überhaupt geführt worden ist, dagegen keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Neuberechnung selbst unter Berücksichtigung der Ruhensvorschriften der Höhe nach unzutreffend ist, mußte - nachdem die Anwendbarkeit des § 1278 RVO durch den Gesetzgeber rückwirkend geklärt ist - die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663928

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