Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 09.08.1989) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. August 1989 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die rechnerische und sachliche Richtigstellung der RVO-Abrechnung der Kläger für das Quartal IV/83 hinsichtlich der Nrn 2113, 2148, 2255 und 2257 neben der Nr 2151 bzw 2152 des Bewertungsmaßstabs für kassenärztliche Leistungen (BMÄ 78), verbunden mit einem Rückforderungsan-spruch der Beklagten in Höhe von 623,– DM.
Die als Orthopäden in München niedergelassenen und zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen Kläger sind als Belegärzte tätig. Ihr Honorar für das Quartal IV/83 wurde durch Honorarbescheid der Beklagten vom 13. April 1984 nach rechnerischer und sachlicher Richtigstellung festgesetzt. Dieser Bescheid enthielt den Zusatz „Berichtigung vorbehalten”.
Am 10. Januar 1985 beantragte die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) München die rechnerische und sachliche Richtigstellung des Honorars der Kläger ua hinsichtlich der streitigen Nummern des BMÄ 78. Dem entsprach die Beklagte am 23. Juli 1985 und belastete die Honorarabrechnung der Kläger für das Quartal I/85. Der hiergegen erhobene Widerspruch der Kläger blieb hinsichtlich der streitigen Nummern des BMÄ 78 erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. November 1986).
Mit ihrer Klage hatten die Kläger in den Vorinstanzen Erfolg. Das LSG ging zwar davon aus, daß der Berichtigungsantrag der AOK München in der Frist des § 10 des Gesamtvertrages gestellt worden sei. Die Berichtigung eines einmal erteilten Honorarbescheides richte sich jedoch nach § 45 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X). Insoweit kämen die Kläger nicht in den Genuß eines Vertrauensschutzes, weil auf dem früheren Bescheid ein Berichtigungsvorbehalt angebracht gewesen sei und ein Kassenarzt mit der Einleitung eines Verfahrens nach § 10 Abs 2 des Gesamtvertrages rechnen müsse. Die Jahresfrist des § 45 Abs 3 SGB X sei gewahrt; denn sie habe mit der Antragstellung durch die AOK München im Januar 1985 begonnen. Indessen sei die Entscheidung über die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dieses habe die Beklagte nicht ausgeübt.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt eine Ver-letzung der §§ 32 und 45 SGB X und trägt dazu vor, der Berichtigungsvorbehalt im Honorarbescheid sei im Hinblick auf das im Gesamtvertrag vorgesehene Antragsrecht der Kranken-kassen auf nachträgliche Richtigstellung unerläßlich und deshalb ein zulässiger Widerrufsvorbehalt. Die §§ 45 ff SGB X seien nicht anwendbar, weil die vertraglichen Regelungen nach § 37 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) den Vorrang hätten. Schließlich komme eine Ermessensausübung hinsichtlich der Anwendung des BMÄ nicht in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. August 1989 und des Sozialgerichts München vom 26. Mai 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. August 1989 zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Das angefochtene Urteil beruht auf einer fehlerhaften Anwendung des § 45 SGB X. Dem Berufungsgericht kann nicht darin gefolgt werden, daß die mit dem Bescheid vom 23. Juli 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1986 vorgenommene sachlich-rechnerische Richtigstellung der Honorarabrechnung der Kläger für das Quartal IV/83 mangels Ausübung eines der Beklagten zustehenden Ermessens oder mangels Mitteilung der für die Ermessensentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte rechtswidrig sei. Die Beklagte hat ein Ermessen nicht ausüben müssen und dürfen.
Mit den angefochtenen Bescheiden hat aufgrund der Beanstandungen der AOK München die Beklagte ihren Honorarbescheid vom 13. April 1984 zum Nachteil der Kläger abgeändert. Dabei handelt es sich um die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes iS des § 45 Abs 1 SGB X. Ein Honorarbescheid ist bezüglich seines bewilligenden Teils ein begünstigender Verwaltungsakt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 16. Januar 1991 – 6 RKa 25/89 – mwN; zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die sachliche und/oder rechnerische Berichtigung von Honorarabrechnungen für die Vergangenheit richtet sich grundsätzlich nach § 45 SGB X (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 9. Mai 1990 – 6 RKa 5/89 und 6/89 –, ersteres abgedruckt in MedR 1990, 363).
Indes gilt dies nicht uneingeschränkt. Die Kläger haben mit ihrer Klage eine Aufhebung des Bescheides vom 23. Juli 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1986 begehrt und damit eine reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) erhoben. Deren Begründetheit ist hier auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung geltenden Rechts zu überprüfen (vgl Hdb SGV-Udsching VI Rn 120). Nach § 37 Satz 1 SGB I in seiner bei Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1986 geltenden Fassung des Art II § 15 Nr 1 Buchst p des Sozialgesetzbuchs, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten, vom 4. November 1982 (BGBl I S 1450) gilt ua das SGB X für alle Sozialleistungsbereiche des SGB, soweit sich aus seinen besonderen Teilen nichts Abweichendes ergibt. Zu den besonderen Teilen gehören das – seinerzeit noch in der Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelte (vgl Art II § 1 Nr 4 SGB I) – Recht der gesetzlichen Krankenversicherung und damit auch das Kassenarztrecht als Teilgebiet der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl Urteil des Senats vom 15. Dezember 1987 – 6 RKa 21/87 – = SozR 1300 § 63 Nr 12). Zum Kassenarztrecht wiederum zählen nicht nur die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen. Vielmehr können auch solche vom SGB X inhaltlich abweichende Vorschriften verdrängende Wirkung haben, die zwar nicht unmittelbar im SGB enthalten sind, aber doch aufgrund einer darin geregelten Ermächtigung erlassen worden sind (vgl Urteil des Senats vom 11. Dezember 1985 – 6 RKa 30/84 – = BSGE 59, 211, 213 = SozR 2200 § 368n Nr 40 S 131).
Soweit nach § 45 Abs 1 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden „darf” und damit die Rücknahme im Ermessen der zuständigen Behörde (§ 45 Abs 5 iVm § 44 Abs 3 SGB X) steht, wird diese Regelung durch die hier noch einschlägigen kassenarztrechtlichen Vorschriften der RVO, insbesondere soweit darin die Modalitäten der Honorarabrechnung geregelt sind, iVm dem Gesamtvertrag verdrängt. Nach diesen Regelungen ist die Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) bei Erfüllung der Voraussetzungen einer rechnerischen und/oder gebührenordnungsmäßigen Berichtigung in diesem Umfange zur Rücknahme des dem betroffenen Kassenarzt erteilten Honorarbescheides auch für die Vergangenheit ohne die Möglichkeit einer Ermessensausübung verpflichtet.
Die Ermächtigung für eine derartige gesamtvertragliche Regelung über die Rücknahme von Honorarbescheiden ergibt sich aus § 368g Abs 1 iVm § 368f Abs 1 RVO. In den Gesamtverträgen ist die kassenärztliche Versorgung zu regeln (§ 368g Abs 1 RVO). Die Verträge sind für die Kassenärzte verbindlich (§ 368a Abs 4 iVm § 368g RVO; für die Zeit ab 1. Januar 1989 vgl § 95 Abs 3 Satz 2 iVm § 83 des Sozialgesetzbuchs, Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung -SGB V-); dh sie werden aus ihnen berechtigt und verpflichtet. Nach § 368f Abs 1 RVO wird die Gesamtvergütung in vertraglicher Höhe mit befreiender Wirkung an die KÄV entrichtet, die ihrerseits den Betrag nach Maßgabe eines Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) unter die Kassenärzte verteilt (vgl nunmehr § 85 SGB V). Die Verteilung der Gesamtvergütung, die die KÄV autonom, wenn auch nach Maßgabe des im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen festgesetzten HVM vornimmt, ist von den Rechtsbeziehungen zwischen der KÄV und den Krankenkassen streng zu trennen (BSGE 31, 23, 28 = SozR Nr 4 zu § 368d RVO). Gleichwohl besteht eine Abhängigheit der Verteilung der Gesamtvergütung von ihrer Leistung. Die KÄV kann nur den Betrag verteilen, den sie von den Krankenkassen zu erhalten hat. Von diesem gesetzlich vorgegebenen Zahlungsablauf her muß die KÄV ein Honorar an den Kassenarzt erst zahlen, wenn die Gesamtvergütung ihrer Höhe nach feststeht. Zu diesem Zweck muß sie berechnet und von der KÄV bei den Kassen angefordert werden.
Dabei darf zwecks Bestimmung der Höhe der Gesamtvergütung den Kassen vertraglich das Recht eingeräumt werden, den angeforderten Betrag sachlich und rechnerisch zu überprüfen. Dieses Recht ist den Ersatzkassen im Arzt-/Ersatzkassen-Vertrag – EKV-Ärzte – (vgl § 13 Nr 4 EKV-Ärzte in der bis zum 30. September 1990 geltenden Fassung; nunmehr § 23 Abs 5 EKV-Ärzte in der ab 1. Oktober 1990 geltenden Fassung) eingeräumt worden. Für den Bereich der Primärkassen ist, wie nunmehr in § 40 Abs 2 des Bundesmantelvertrages-Ärzte (BMV-Ä) in seiner ab 1. Oktober 1990 geltenden Fassung (Dt. Ärztebl 1990, A-3239) ausdrücklich vorgegeben ist, das Nähere über das Antragsrecht der Krankenkassen für nachgehende sachlich-rechnerische Berichtigungen in den Gesamtverträgen zu regeln.
Eine solche Regelung hat im vorliegenden Fall bestanden. Nach den bindenden Feststellungen des LSG existiert zwischen der Beklagten und dem Beigeladenen ein Gesamtvertrag, nach dem eine Krankenkasse unter Beachtung festgelegter Fristen, die einvernehmlich verlängert werden können, die Honoraranforderung eines Kassenarztes nachträglich beanstanden und auf ihre Berichtigung hinwirken darf. Von dieser Möglichkeit hat die AOK München Gebrauch gemacht. Sie hat dabei die zu beachtenden Fristen nach Ansicht des LSG eingehalten. Insoweit ist der Senat an die Rechtsauffassung des LSG gebunden, weil es sich bei dem Gesamtvertrag nicht um revisibles Recht handelt (§ 162 SGG). Es ist auch nicht ersichtlich, daß die im Gesamtvertrag festgelegten Fristen gegen übergeordnetes Bundesrecht verstoßen. Hiernach ist davon auszugehen, daß fristgerecht der Antrag der AOK München gestellt und hierüber gegenüber den Klägern durch Änderung des ursprünglichen Honorarbescheides entschieden worden ist. In diesem Zusammenhang ist gemäß der Ansicht des LSG davon auszugehen, daß eine stillschweigende Fristverlängerung mit dem Gesamtvertrag in Einklang steht.
Aus diesen Regelungen ist herzuleiten, daß ein vor der endgültigen Feststellung der Gesamtvergütung erteilter Honorarbescheid der KÄV unter dem gesetzlichen Vorbehalt einer nachträglichen sachlichen und/oder rechnerischen Berichtigung steht. Erst wenn entweder aufgrund eines Anerkenntnisses der Krankenkasse oder nach Durchführung eines weiteren Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahrens feststeht, welchen Betrag die Kasse der KÄV schuldet, ist die Kasse endgültig zur Zahlung verpflichtet und steht damit ein für die KÄV endgültig verteilungsfähiger Betrag der Gesamtvergütung zur Verfügung. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die den Kassenärzten von der KÄV zu leistenden oder geleisteten Zahlungen lediglich vorläufigen Charakter (vgl Urteil des Senats vom 20. Dezember 1983 – 6 RKa 19/82 – = BSGE 56, 116, 118 f = SozR 1200 § 44 Nr 10). Ein in diesem Stadium erteilter Honorarbescheid besagt allein, daß das vom Kassenarzt angeforderte Honorar aus der Sicht der KÄV sachlich und rechnerisch zutreffend berechnet worden ist (vgl § 34 Abs 1 Buchst a BMV-Ä aF; § 40 Abs 1 BMV-Ä nF). Dessenungeachtet muß der Kassenarzt mit der Möglichkeit nachträglicher Prüfungen in einem vertraglichen Verfahren rechnen, soweit sie sich auf Verträge bzw Vereinbarungen stützen, die er schon aufgrund der regelmäßigen Abrechnung seiner Leistungen mit seiner KÄV kennt oder zumindest für die Ausübung seiner kassenärztlichen Tätigkeit kennen muß. Auf diese Möglichkeiten kann der Kassenarzt im Honorarbescheid durch einen entsprechenden Vorbehalt hingewiesen werden. Zwingend ist dies jedoch nicht, weil der Kassenarzt bei einschlägigen vertraglichen Regelungen wie im vorliegenden Fall dem Gesamtvertrag von einer nachgehenden sachlichen und rechnerischen Nachprüfung seiner Honoraranforderung ausgehen muß. Unter diesen Umständen kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die Beklagte ihren ursprünglichen Honorarbescheid mit einem rechtswirksamen Vorbehalt versehen hat, aufgrund dessen sie zur nachträglichen Berichtigung befugt ist. Ein solcher Vorbehalt besteht schon – wie erwähnt – kraft Gesetzes bzw der darauf beruhenden vertraglichen Regelungen. Danach ist die Rücknahme eines Honorarbescheides jedenfalls insoweit zulässig und geboten, als bei Einzelleistungsvergütung eine Krankenkasse im Rahmen eines gesamtvertraglich geregelten Verfahrens Rückzahlung (eines Teils) der Gesamtvergütung verlangen kann. Ob auch ohne gesamtvertragliche Regelung ein gesetzlicher Vorbehalt für den Fall der Rückforderung der Gesamtvergütung nach allgemeinen Rechtsvorschriften besteht, kann hier dahingestellt bleiben.
Daß im Falle der Berechtigung eines solchen Rückzahlungsverlangens die KÄV gleichwohl den entsprechenden Honorarbescheid des Kassenarztes im Umfange der Berichtigung nicht zurücknehmen muß, sondern lediglich nach ihrem Ermessen zurücknehmen darf, ist nicht ersichtlich. Erweist sich der Antrag der Krankenkasse auf rechnerische und/oder gebührenordnungsmäßige Berichtigung als begründet, so muß die KÄV den daraus resultierenden Erstattungsanspruch der Kasse erfüllen. Um sich die hierfür erforderlichen Mittel zu verschaffen, muß sie bei dem Kassenarzt Rückgriff nehmen, dem diese Mittel vorher zugeflossen sind, weil er insoweit im Ergebnis zu Unrecht an der Verteilung der Gesamtvergütung teilgenommen hat. Für eine irgendwie geartete Ermessensausübung ist dabei kein Raum.
Das angefochtene Urteil kann damit keinen Bestand haben. Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist erheblich, ob die Beanstandungen der AOK München zu Recht erfolgt sind. Hierzu hat das LSG – von seinem Standpunkt aus folgerichtig – Feststellungen nicht getroffen. Diese wird es nachzuholen und in der Sache darüber zu entscheiden haben, ob und inwieweit die Beklagte zu Recht dem Antrag der AOK auf Berichtigung der Honorarforderung der Kläger stattgegeben hat.
Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.
Fundstellen