Leitsatz (amtlich)
Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, die sich mit Zeiten von Berufsunfähigkeit und von deswegen bezogener Rente decken , sind auch dann Ausfallzeiten für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit gleichzeitig eingetreten sind und beide auf denselben Umständen beruhen.
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1253 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Juli 1964 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt die Erhöhung der ihm wegen Erwerbsunfähigkeit gewährten Rente durch Anrechnung einer Ausfallzeit. Für die Entscheidung ist es erheblich, ob eine Ausfallzeit zu berücksichtigen ist, die zwar vor dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit lag, in ihrem Anfang aber mit dem Beginn der Berufsunfähigkeit zusammenfiel.
Am 4. April 1961 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Am Tage zuvor hatte er zuletzt als Kraftfahrer gearbeitet. Da er diese Tätigkeit nach ärztlicher Ansicht - vornehmlich wegen einer Cerebralsklerose - nicht weiterverrichten konnte, hatte die Beklagte den Kläger ebenfalls vom 4. April 1961 an für berufsunfähig gehalten und ihm dementsprechend die Versichertenrente zuerkannt. Der Kläger hatte damals das 55. Lebensjahr bereits vollendet.
Mit Wirkung vom Oktober 1962 an wandelte die Beklagte die Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit um (Bescheid vom 4. Januar 1963 und Ergänzungsbescheid vom 22. April 1963). In die Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente bezog sie eine mit dem 8. September 1961 beginnende Zeit der Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit ein; dies deshalb, weil der Kläger zwischen dem 24. August und dem 7. September 1961 nochmals kurzfristig eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hatte. Dagegen lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger auch die Zeit der Arbeitsunfähigkeit von April bis August 1961 rentensteigernd gutzubringen. Dazu sah sie sich nicht verpflichtet, weil eine während des Bezugs von Berufsunfähigkeitsrente angelaufene Ausfallzeit für die Erwerbsunfähigkeitsrente nur rechtserheblich sein könne, wenn nach dem ersten Versicherungsfall erneut eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen und später durch ein Ausfallzeitgeschehen unterbrochen worden sei.
Der mit dem Ziel der Rentensteigerung erhobenen Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Die einschränkende Interpretation der Beklagten läßt sich ihres Erachtens nicht aus dem Gesetz begründen. Vielmehr sei in § 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ganz allgemein ausgesprochen - was durch die §§ 1253 Abs. 2, 1258 Abs. 4 RVO bestätigt werde -, daß die genügend lange Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung infolge einer durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit für den nächst eintretenden Versicherungsfall in der Rentenversicherung zu bewerten sei. Dafür, daß der Kläger seine Beschäftigung habe unterbrechen müssen, sei nicht seine Berufsunfähigkeit, sondern die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung ursächlich.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt; sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Den Gründen des angefochtenen Urteils stellt sie folgenden Gedankengang entgegen:
Das Gesetz schließe zwar die Berücksichtigung von Ausfallzeiten zwischen den Versicherungsfällen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nicht aus (§ 1253 Abs. 2 RVO). Die Unterscheidung von Versicherungs- und Zurechnungszeiten lasse jedoch erkennen, daß der Eintritt eines Versicherungsfalls für den Versicherungsverlauf einen Einschnitt bedeute. Ein Konvergieren von Rentenbezugszeiten einerseits und Beitragszeiten sowie ihren Surrogaten (Ersatz- und Ausfallzeiten) andererseits gebe es regelmäßig nicht. Rentenbezugszeiten könnten sich bloß mit Zurechnungszeiten decken (vgl. § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO). Deshalb könnten Ausfalltatsachen, die vor oder gleichzeitig mit dem ersten Versicherungsfall entstünden, sich nicht steigernd auf die Rente wegen eines zweiten Versicherungsfalles auswirken. Die Vorschrift des § 1253 Abs. 2 Satz 4 RVO, wonach Versicherungs- und Ausfallzeiten, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegt würden, zusätzlich zu berücksichtigen seien, sei streng ihrem Wortlaut gemäß zu verstehen. Nur wenn eine Beschäftigung oder Tätigkeit nach dem Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit fortgesetzt oder aufgenommen und dann unterbrochen werde, könne der Tatbestand der Ausfallzeit mit der Rechtsfolge des § 1253 Abs. 2 Satz 4 RVO in Betracht kommen. Sonst erleide der Versicherte keinen Ausfall an Beitragszeiten, der nicht bereits durch eine Rente aus der Rentenversicherung ausgeglichen werde. Allein diese Deutung sei mit dem Gedanken der durch den Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit hervorgerufenen Zäsur (§ 1259 Abs. 2 Satz 1 RVO, § 56 Abs. 7 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -) vereinbar.
Der Kläger war im gegenwärtigen Rechtszug durch keinen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Revision ist unbegründet.
Die dem Kläger zunächst wegen Berufsunfähigkeit gewährte Rente ist später in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt worden. Dabei sind Versicherungs- und Ausfallzeiten, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegt wurden, zusätzlich zu berücksichtigen (§§ 1253 Abs. 2, 1259 Abs. 1 RVO). Zu den zu berücksichtigenden Ausfallzeiten gehört im vorliegenden Fall auch die umstrittene Zeit der Arbeitsunfähigkeit, die am 4. April 1961 begonnen hat. Die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist mit Rücksicht auf diese Ausfallzeit zu erhöhen, wie schon das LSG entschieden hat.
Das Begehren des Klägers ist gerechtfertigt, weil seine damals beginnende krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ursächlich war für die Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO) und alle übrigen in dieser Vorschrift geforderten Voraussetzungen - unbestritten - erfüllt sind. Der Ausdruck "Unterbrechung" wird in der Rechtssprache - zB im Prozeß-, Straf- und bürgerlichen Recht - in unterschiedlicher Bedeutung und zum Teil abweichend von der Umgangssprache benutzt. Der Sprachgebrauch des täglichen Lebens verwendet diesen Begriff für ein Dazwischentreten, für das zeitweilige Aussetzen eines Geschehens oder Zustandes, im Gegensatz zu dessen Abschluß. Folgt man für § 1259 Abs. 1 RVO dieser allgemeinen Vorstellung (vgl. BSG 16, 120, 122), so ist in dem Begriff "Unterbrechung" die Möglichkeit eingeschlossen, daß das Unterbrochene, nämlich die versicherungspflichtige Beschäftigung, wieder fortgesetzt wird. Eine solche Möglichkeit war beim Kläger, als er am 4. April 1961 arbeitsunfähig wurde, trotz des gleichzeitigen Eintritts von Berufsunfähigkeit vorhanden. Wenn auch dieselben in der Person des Klägers liegenden Verhältnisse, die seine Berufsunfähigkeit hervorriefen, ebenfalls seine Arbeitsunfähigkeit bewirkten (Arbeitsunfähigkeit in dem zu § 182 RVO entwickelten und für § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO zu übernehmenden Sinne), so war es doch möglich, daß der Kläger nach Fortfall der Arbeitsunfähigkeit wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufnahm. Diese Aussicht genügt, um das Merkmal der Unterbrechung zu verwirklichen.
Der Berücksichtigung des in diesem Streitfall in Frage stehenden Zeitabschnitts steht nicht Absatz 2 Satz 1 des § 1259 RVO entgegen, wonach Ausfallzeiten längstens bis zum Eintritt des Versicherungsfalles zu beachten sind. An dieser Stelle wiederholt das Gesetz lediglich einen Gedanken, den es gleichermaßen andernorts, zB in den §§ 1255 Abs. 8, 1258 Abs. 4 RVO ausgesprochen hat. Danach kann die hier in Rede stehende Ausfallzeit auf die Höhe der Rente wegen Berufsunfähigkeit keinen Einfluß mehr haben. Mehr und anderes ist mit § 1259 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht angeordnet. Eine Ausfallzeit endet nicht mit dem Eintritt jedes Versicherungsfalles, sondern nur mit dem Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalles (so deutlich §§ 50 Abs. 5, 56 Abs. 7 RKG; dazu auch: BSG 14, 220, 222). Das bedeutet, eine Ausfallzeit kann nicht über das Ereignis hinaus andauern, mit dem der Tatbestand erfüllt wird, der den betreffenden Rentenanspruch begründet. Das wäre hier der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit. Darum ist es dem Kläger aber auch nicht zu tun. Die für Ausfallzeiten gezogenen Grenzen decken sich, sofern das Gesetz nicht abweichendes bestimmt, mit den für Versicherungszeiten gezogenen Schranken (§§ 1255 Abs. 8, 1258 Abs. 4 RVO). Im Hinblick auf einen späteren umfassenderen Versicherungsfall - hier: Erwerbsunfähigkeit - können Beiträge auch nach Eintritt eines ersten Versicherungsfalles - hier: Berufsunfähigkeit - gültig erbracht werden. Daß der Versicherte zwischenzeitlich eine Einbuße seines Leistungsvermögens erlitten hat und deshalb sogar eine Rente bezieht, ist rechtlich insoweit unerheblich. Jede Erwerbsarbeit kann - sofern sie der Versicherungspflicht unterliegt - für einen nachfolgenden Versicherungsfall versicherungswirksam sein. Für Ausfallzeiten - den Surrogaten für Versicherungszeiten - gilt nichts abweichendes.
Davon ist auch keine Ausnahme für einen Fall wie den des Klägers zu machen, in dem der Beginn der Berufsunfähigkeit und der Beginn der Arbeitsunfähigkeit zeitlich zusammenfallen. Das kann schon deshalb nicht anders sein, weil die Ursachen der Berufsunfähigkeit und die Gründe für eine Arbeitsunfähigkeit trotz zeitlichen Zusammentreffens nicht stets und notwendig dieselben zu sein brauchen. Die Krankheit, welche Arbeitsunfähigkeit bedingt, kann zwar auch die Berufsunfähigkeit auslösen, braucht es aber nicht. Es kann deshalb nicht gesagt werden, daß die Berufsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeit, wenn beide sich zeitlich überschneiden, mit umfasse und gleichsam konsumiere.
Während der parlamentarischen Beratungen zu den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen ist nun allerdings, was zunächst für die Rechtsansicht der Beklagten sprechen könnte, erwogen worden, daß Rentenbezugszeiten nicht als solche auch Ausfallzeiten sein sollen (Kurzprotokoll des Bundestagsausschusses, 2. Wp. Nr. 116 vom 15.11.1956; Sitzungsniederschrift zur 185. Sitzung des Bundestags vom 17.1.1957 S. 10338 C). Diese Überlegungen haben sich in § 1259 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 Satz 2 RVO niedergeschlagen. Die Zeit eines Rentenempfangs ist danach nur insofern eine Ausfallzeit, als sie mit einer angerechneten Zurechnungszeit identisch ist; und Zeiten der Arbeitslosigkeit, in denen das vorzeitige Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 2 RVO geleistet wird, gelten nicht als Ausfallzeiten. Diesen Rechtssätzen ist indessen nicht zu entnehmen, daß die Gleichzeitigkeit von Ausfallzeit und Rentenbezugszeit rundweg unterbunden sein soll. § 1259 Abs. 2 Satz 2 RVO kann um so weniger als Ausdruck eines über seinen unmittelbaren Wortsinn hinausgehenden Rechtswillens gelten, als dieser Gesetzesbestimmung kaum eine rechtliche Effektivität zukommt. Denn, daß der Bezieher des Altersruhegeldes - und sei es auch der des vorzeitigen Altersruhegeldes - keine Ausfallzeiten mehr erwerben kann, da er weder versicherungspflichtig (§ 1229 Abs. 1 Nr. 1 RVO) noch versicherungsberechtigt (§ 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO) ist, dürfte sich von selbst verstehen. Diese Gesetzesstelle sollte wohl nur der Klarstellung dienen. Das Bedürfnis für einen solchen Gesetzesausspruch ist aus der parlamentarischen Debatte heraus zu verstehen. Ebensowenig ist § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO über seinen Wortlaut hinaus dahin zu verstehen, daß Rentenbezugszeit und Ausfallzeit nicht nebeneinander bestehen können. Im § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO wird dem Ablauf einer Ausfallzeit überhaupt keine Schranke gesetzt, mit dieser Bestimmung wird dem Katalog der gesetzlichen Ausfalltatbestände lediglich noch ein weiterer Tatbestand hinzugefügt. Auch wird an dieser Stelle keine Regelung für die in diesem Rechtsstreit interessierende Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit getroffen; behandelt wird vielmehr die erneute Gewährung einer Rente nach Wegfall einer früheren.
Statt dessen ergeben die §§ 1253 Abs. 2 Satz 4 und 1254 Abs. 2 Satz 2 RVO, daß der Versicherte auch nach dem Eintritt seiner Berufsunfähigkeit, ja sogar noch während der Erwerbsunfähigkeit Ausfallzeiten hinzuerwerben kann. Das hätte zwar bis zum Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 in gewissem Umfang zweifelhaft sein können. In der bis dahin geltenden Fassung hieß es in § 1254 Abs. 2 RVO, daß nur Beiträge, die nach dem Eintritt von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit entrichtet wurden, zusätzlich zu berücksichtigen seien. Von Ausfallzeiten war an dieser Stelle nicht die Rede. Diese Formulierung wurde bereits früher von Jantz/Zweng (Rentenversicherung, 1. Aufl., Anm. II 1 zu § 1254 RVO) als "redaktionell ungenau" bezeichnet; ihr wurde die "korrekte Fassung" in § 1253 Abs. 2 RVO gegenübergestellt, wonach sowohl Versicherungs- als auch Ausfallzeiten zu beachten sind, also die Ausfalltatsachen selbst mit der Erwerbsunfähigkeit keinen Abschluß finden. Diese Auffassung ist in dem Text, den § 1254 Abs. 2 RVO durch das RVÄndG erhalten hat, bestätigt worden.
Hiernach steht dem Kläger unter Berücksichtigung der Ausfallzeit April/August 1961 eine höhere Rente zu.
Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.11.1962 - 1 RA 101/61 - hindert den Senat nicht an dieser Entscheidung. In diesem Urteil wurde zwar ausgesprochen, daß Ausfallzeiten während des Bezugs einer Berufsunfähigkeitsrente nur im Zusammenhang mit einer vom Rentner aufgenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigung erworben werden könnten, doch hat diese Bemerkung nur beiläufigen Charakter. Das zeigen schon die sie einleitenden Worte: "Im übrigen ...". Der Sachverhalt war außerdem von dem vorliegenden wesentlich verschieden. Jenes Urteil beruht also nicht auf einer Rechtsauffassung, die von der im vorliegenden Fall vertretenen abweicht. Der erwähnte Satz des Urteils ist auch in der Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts nicht mit veröffentlicht worden (vgl. BSG 18, 119).
Die angefochtenen Urteile sind daher aufrecht zu erhalten; die Revision der Beklagten ist mit der auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes gestützten Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen