Entscheidungsstichwort (Thema)
Mündliche Verhandlung. Vertagungsantrag. Terminsverlegung. rechtliches Gehör. Nichtbescheidung des Vertagungsantrages. Verfahrensmangel
Orientierungssatz
1. Der auch für das sozialgerichtliche Verfahren gültige Verhandlungsgrundsatz (SGG § 124 Abs 1) gewährt den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (vgl BSG 1962-04-27 7 RAr 25/60 = SozR Nr 16 zu § 62 SGG).
2. Die Möglichkeit des Vortrages in der mündlichen Verhandlung ist die umfassendste Form der Gewährung des rechtlichen Gehörs. Bestandteil des Anspruches der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (SGG § 62) in der Form einer mündlichen Verhandlung ist auch das Recht auf Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins zur mündlichen Verhandlung, wenn dies aus erheblichen Gründen notwendig ist (ZPO § 227 iVm SGG § 202; vgl BSG 1962-04-27 7 RAr 25/60 = SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Der Beteiligte, der einen Verlegungs- oder Vertagungsantrag stellt und auch dem Verlangen des Vorsitzenden oder des Gerichts auf Glaubhaftmachung der erheblichen Gründe (ZPO § 227 Abs 3) rechtzeitig entspricht, darf darauf vertrauen, daß er noch Gelegenheit zur Äußerung erhält (vgl BVerwG 1961-01-26 III B 289.59 = NJW 1961, 892; BSG 1978-08-01 7 RAr 42/77 = SozR 1500 § 62 Nr 8).
3. Allein die Nichtbescheidung des Vertagungsantrags durch den Vorsitzenden oder des Vertagungsantrages durch das Gericht ist eine Versagung des rechtlichen Gehörs, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (vgl BSG 1962-04-27 7 RAr 25/60 = SozR Nr 16 zu § 62 SGG).
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 3 Fassung: 1976-12-03
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 13.06.1979; Aktenzeichen L 9 Kr 46/78) |
SG Berlin (Entscheidung vom 17.02.1978; Aktenzeichen S 72 Kr 242/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in einem die Beitragseinstufung des Klägers betreffenden Verfahren auch darüber, ob das Landessozialgericht (LSG) einen Antrag des Klägers auf Verlegung oder Vertagung des Termins zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG unzulässig übergangen hat.
Der Kläger bezieht neben einer Beamtenpension ein Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung und Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Er ist freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten und hat bei dieser beantragt, bei der Beitragsbemessung die Versehrtengrundrente und das - an seine Ehefrau abgetretene - Altersruhegeld außer Betracht zu lassen. Die Beklagte hat diesem Begehren nicht entsprochen und den Kläger in die entsprechend höheren Beitragsklassen eingestuft, wobei sie im Laufe des Verfahrens eine teilweise fehlerhafte Einstufung mit Wirkung für die Zukunft korrigiert hat (Bescheide vom 28. Oktober 1976, 13. Januar 1977 und 9. Februar 1978; Widerspruchsbescheid vom 31. März 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Februar 1978). Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und zur Begründung seinen Sachvortrag erster Instanz wiederholt.
Die Benachrichtigung des Vorsitzenden des 9. Senats des LSG Berlin vom 22. Mai 1979 über den Termin zur mündlichen Verhandlung am 13. Juni 1979 ist dem Kläger am 26. Mai 1979 durch Niederlegung beim Postamt Berlin 20 zugestellt worden. Der Kläger hat am 7. Juni 1979 telefonisch beantragt, den Termin wegen seiner Erkrankung zu verlegen. Mit Verfügung vom 8. Juni 1979 hat der Vorsitzende des LSG-Senats dem Kläger mitgeteilt, er könne sich zu einer Terminsverlegung erst dann entschließen, wenn der Kläger durch ein ärztliches Attest nachweise, daß er zum Termin nicht erscheinen könne.
Ebenfalls am 8. Juni 1979 hat der Kläger auch noch schriftsätzlich die Verlegung des Termins beantragt und eine Bescheinigung der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie C P in B vom 8. Juni 1979 eingereicht, in der es heißt, der Kläger stehe seit 1975 in Behandlung, zur Zeit sei eine Verschlechterung des Krankheitszustandes eingetreten, so daß er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, den Termin am 13. Juni 1979 wahrzunehmen.
Der schriftsätzliche Vertagungsantrag des Klägers vom 8. Juni 1979 und das vorgenannte ärztliche Attest ist bis zu der Verkündung des Urteils vom 13. Juni 1979, nicht zu den Akten und zur Kenntnis der entscheidenden Richter des LSG gelangt. Eine Entscheidung des Vorsitzenden über die Verlegung des Termins oder des Gerichts über die Vertagung der mündlichen Verhandlung am 13. Juni 1979 ist nicht ergangen.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil des LSG vom 13. Juni 1979 zugelassen. Der Kläger macht zur Begründung des Rechtsmittels geltend, das LSG habe gegen § 112 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Er habe seine krankheitsbedingte Verhinderung an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 13. Juni 1979 rechtzeitig angezeigt und durch die Vorlage eines ärztlichen Attestes auch glaubhaft gemacht. Deshalb sei entweder die Terminsverlegung durch den Vorsitzenden oder die Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 1979 erforderlich gewesen. Auch in der Sache selbst sei das angefochtene Urteil fehlerhaft, weil das LSG unzutreffend die Abtretung der Rente als unbeachtlich behandelt und nicht berücksichtigt habe, daß die ihn begünstigende fehlerhafte Beitragseinstufung nicht zu seinem Nachteil habe geändert werden dürfen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom
13. Juni 1979 und das Urteil des SG Berlin vom
17. Februar 1978 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 28. Oktober 1976 in der Gestalt des Bescheides
vom 13. Januar 1977 und des Widerspruchsbescheides
vom 31. März 1977 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 19. Februar 1978 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger macht zu Recht einen Verfahrensmangel geltend, auf dem das angefochtene Urteil auch beruht (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hat gegen § 124 Abs 1 SGG verstoßen, weil es den Antrag des Klägers auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung und/oder Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 1979 unbeachtet gelassen hat.
Der auch für das sozialgerichtliche Verfahren gültige Verhandlungsgrundsatz (§ 124 Abs 1 SGG) gewährt den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Die Möglichkeit des Vortrages in der mündlichen Verhandlung ist die umfassendste Form der Gewährung des rechtlichen Gehörs. Bestandteil des Anspruches der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) in der Form einer mündlichen Verhandlung, ist auch das Recht auf Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins zur mündlichen Verhandlung, wenn dies aus erheblichen Gründen notwendig ist (§ 227 ZPO iVm § 202 SGG; BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Über einen Verlegungs- oder Vertagungsantrag des verhinderten Beteiligten haben der Vorsitzende oder das Gericht zu entscheiden (§ 227 Abs 2 Zivilprozeßordnung -ZPO- iVm § 202 SGG). Der Beteiligte, der einen solchen Antrag stellt und auch dem Verlangen des Vorsitzenden oder des Gerichts auf Glaubhaftmachung der erheblichen Gründe (§ 227 Abs 3 ZPO) rechtzeitig entspricht, darf darauf vertrauen, daß er noch Gelegenheit zur Äußerung erhält (BVerwG NJW 1961, 892; BSG SozR 1500 Nr 8).
Weder hat der Vorsitzende des LSG-Senats dem Verlegungsantrag des Klägers entsprochen, noch hat der Senat die Verhandlung vom 13. Juni 1979 vertagt. Allein die Nichtbescheinigung des Vertagungsantrages durch den Vorsitzenden oder des Vertagungsantrages durch das Gericht ist eine Versagung des rechtlichen Gehörs, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). In einem solchen Falle kommt es auch nicht darauf an, daß die Entscheidung unterblieben ist, weil die Antragsschrift des Klägers vom 8. Juni 1979 und das ärztliche Attest von diesem Tage nicht bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung am 13. Juni 1979 zu den Akten gelangt sind; denn die verspätete Aufnahme in die Akten beruht auf einem Bearbeitungsmangel der Gerichtsverwaltung, die dem Kläger nicht angelastet werden kann (BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Ebenso ist unerheblich, daß das Gericht die Sache bereits für entscheidungsreif gehalten hat (BSGE 1, 277, 279; SozR Nr 16 zu § 62 SGG) und es kommt auch nicht darauf an, ob es bei Wahrung des rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre (vgl dazu BVerfGE 18, 384 f mwN; erkennender Senat, Beschluß vom 25. Mai 1974 - 12 BAr 13/77 -, nicht veröffentlicht).
Da nicht ausgeschlossen ist, daß der Vorsitzende dem Verlegungsantrag oder das Gericht dem Vertagungsantrag entsprochen und der Kläger in einem neuen Termin seinen Sachvortrag gerade zu den nicht revisiblen Rechtsfragen erweitert hätte, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Soweit das LSG Ausführungen zu Rechtsfragen gemacht hat, die der Revision unterliegen, hat der Senat keine Bedenken gegen die Richtigkeit der rechtlichen Beurteilung.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen