Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfolgung. Vorbereitung der Auswanderung. Nachentrichtung von Beiträgen

 

Orientierungssatz

Die Aufgabe des Arbeitsverhältnisses mit dem Ziel die Auswanderung vorzubereiten, stellt einen Verfolgungstatbestand iS des WGSVG § 9 dar.

 

Normenkette

WGSVG § 9 Fassung: 1970-12-22, § 10 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 28.07.1976; Aktenzeichen L 6 J 106/75)

SG Berlin (Entscheidung vom 22.04.1975; Aktenzeichen S 34 J 341/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Juli 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob von der Klägerin Beiträge nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) geändert durch § 19 des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 28. April 1975 (BGBl I 1018, berichtigt 1778) nachentrichtet werden können.

Die Klägerin ist Jüdin. Sie hat 1936 eine Ausbildung zur Kindergärtnerin abgeschlossen. Die anschließende Ausbildung als Säuglingspflegerin mußte aus rassischen Gründen abgebrochen werden Hierfür hat sie eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten.

Ab November 1936 war die Klägerin in Privathaushalten versicherungspflichtig als Kinderpflegerin und Hausgehilfin tätig, zuletzt von August 1937 bis März 1938 in Augsburg im Haushalt des ebenfalls jüdischen Arztes Dr. A. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) beendete die Klägerin dieses Arbeitsverhältnis, um die Auswanderung nach Uruguay vorzubereiten, die im Oktober 1938 erfolgte. In der Zwischenzeit zwischen der Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses und der Auswanderung hat die Klägerin einen Nähkurs der städtischen Frauenfachschule besucht.

Die Beklagte hat die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG zugelassen (Bescheid vom 18. November 1975 in der berichtigten Fassung vom 8. Januar 1976). Den Antrag der Klägerin vom 17. August 1972 auf Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 10 WGSVG lehnte sie jedoch ab (Bescheid vom 17. November 1973). Zur Begründung wurde ausgeführt, daß die Klägerin ihre rentenversicherungspflichtige Tätigkeit nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet habe. Sie habe auch nicht bis zur Auswanderung eine Ausfallzeit zurückgelegt. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1974).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 9, 10 WGSVG zuzulassen (Urteil vom 22. April 1975). Das LSG Berlin hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 28. Juli 1976). Es hat die Auffassung vertreten, daß das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bei Dr. A. im Sinne des § 9 WGSVG aus Verfolgungsgründen beendet worden sei. Es sei zwar kein Anhalt vorhanden, daß der Arbeitsplatz wegen konkreter Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin oder ihren Arbeitgeber aufgegeben werden mußte. Die Klägerin habe jedoch wegen der durch die Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden erforderlichen Auswanderung das Beschäftigungsverhältnis beendet. Hierin liege eine Verknüpfung zwischen Verfolgung und Arbeitsplatzverlust. Des Nachweises einer konkreten individuellen Verfolgung bedürfe es nicht. Das Bundessozialgericht (BSG) habe zu § 1251 Abs 1 Nr 4 Reichsversicherung (RVO) entschieden, daß der Auslandsaufenthalt als verfolgungsbedingt anzusehen sei, wenn er in der Zeit von 1933 bis Kriegsende begonnen wurde, weil § 1251 RVO typische Regelfälle erfasse und entfernt liegende Sachverhalte nicht berücksichtige (BSG, Urteil vom 1. Juli 1970 - 4 RJ 553/69 - SozR Nr 46 zu § 1251 RVO). Brauche aber ein Kollektivverfolgter für die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht darzutun, daß er zum Zeitpunkt der Auswanderung an Leib und Leben gefährdet war, so sei es widersinnig, für die im selben Jahr eben wegen der bevorstehenden Auswanderung erfolgte Aufgabe der Arbeitsstelle einen gesonderten, bestimmten Verfolgungsgrund zu fordern. Als Grund für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses reiche es aus, wenn der Betreffende zur Beendigung der Tätigkeit bewogen worden sei, um eine als Ersatzzeit anerkannte Zeit anzutreten, die ihrerseits als verfolgungsbedingt zu kennzeichnen sei.

Die Rechtsprechung zu § 14 WGSVG könne nicht herangezogen werden, weil es sich dort um einen anderen Sachverhalt handele. Im übrigen zeige die Entstehungsgeschichte des § 9 WGSVG, daß eine umfassende Wiedergutmachung von Schäden in der Sozialversicherung ermöglicht werden sollte.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, daß § 9 WGSVG nur solche Zeiten zwischen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem Beginn der Verfolgung (hier der Auswanderung) einbeziehe, die als Ausfallzeit im Sinne von § 1259 RVO anzusehen seien. Eine solche habe nicht vorgelegen. Auch eine Rückbeziehung des Verfolgungstatbestandes auf den Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses scheide aus. Es sei weder erwiesen, daß die Beschäftigung aus Verfolgungsgründen aufgegeben worden sei, noch, daß die Klägerin an den Nähkursen nur als Vorbereitung zu einer möglichen Auswanderung aus Verfolgungsgründen teilgenommen habe. Allein die Tatsache, daß die Klägerin Jüdin sei, reiche nicht aus, eine Zeitspanne von über einem halben Jahr noch als unschädlich für die Unmittelbarkeit des Anschlusses der Verfolgungszeit an die Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung anzusehen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Beide Beteiligte haben sich mit Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist unbegründet.

Zunächst ist dem LSG darin zu folgen, daß ein Rechtsschutzinteresse der Klägerin für die erhobene Klage nicht dadurch entfallen ist, daß ihr das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 a WGSVG eingeräumt worden ist. Nach dieser Vorschrift können keine Pflichtbeiträge entrichtet werden, und außerdem ist die Beitragsnachentrichtung dort auf Zeiten bis 31. Dezember 1955 begrenzt.

Auch in der Sache selbst hat das LSG zutreffend entschieden. Der Klägerin steht ein Recht zur Entrichtung von Beitragen nach den §§ 9 und 10 WGSVG zu, weil ihr Arbeitsverhältnis aus Verfolgungsgründen geendet hat.

§ 10 WGSVG räumt den Verfolgten, die nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sind, ein besonders gestaltetes Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen ein. § 9 WGSVG macht das Recht zur Weiterversicherung davon abhängig, daß eine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten vorliegt und die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder der Verfolgte bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 1, 2 oder 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zurückgelegt hat. Der erkennende Senat hat diese Vorschrift in seinem Urteil vom 26. Oktober 1976 (- 12/1 RA 81/75 - SozR 5070 § 9 Nr 1) erweiternd dahin ausgelegt, daß ein Nachentrichtungsrecht auch besteht, wenn bis zum Beginn der Verfolgung eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG zurückgelegt worden ist.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß von diesen Alternativen nur die Beendigung oder Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung aus Verfolgungsgründen in Betracht kommen. Es hat ebenso zutreffend angenommen, daß die Aufgabe der versicherungspflichtigen Beschäftigung der Klägerin im Haushalt des Dr. A. aus Verfolgungsgründen erfolgte. Dabei ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß konkrete Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin oder ihren Arbeitgeber im Rahmen von § 9 WGSVG nicht vorausgesetzt werden. Zwar hat das BSG zu § 14 WGSVG entschieden, daß dort konkrete gegen den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer gerichtete Verfolgungsmaßnahmen vorauszusetzen sind (BSG, Urteil vom 27. März 1974 - 1 RA 197/73 - SozR 5070 § 14 Nr 1). Diese Entscheidung kann aber aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils nicht auf § 9 WGSVG übertragen werden. Mit dieser Vorschrift sollen gerade auch die Fälle erfaßt werden, in denen sich die Versicherten aufgrund des allgemeinen Verfolgungsdrucks zur Auswanderung entschlossen haben (s. dazu auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. VI/715 S. 8 I, 1 a und S. 10 zu § 9). Hiervon ist auch der erkennende Senat in seinem bereits zitierten Urteil ausgegangen. In Fortführung dieses Gedankens muß es genügen, wenn wegen des allgemeinen Verfolgungsdrucks schon vor der Auswanderung Maßnahmen ergriffen wurden, die die Beendigung und Unterbrechung der Beschäftigung zur Folge hatten und die dazu dienten, der drohenden Verfolgung zu entgehen.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin das Arbeitsverhältnis bei Dr. A… beendet hat, um die Auswanderung vorzubereiten. Gegen diese Feststellung sind wirksame Verfahrensrügen nicht erhoben worden, so daß der Senat hieran gebunden ist (§ 163 SGG). Der Umstand, daß die der Aufgabe des Arbeitsverhältnisses schon über 6 Monate vor der Auswanderung erfolgte, schließt es nicht aus, den Beginn der Verfolgung schon in der Aufgabe der Arbeitsstelle zu sehen. Entscheidend ist allein, ob die Aufgabe der Arbeitsstelle aus Gründen der verfolgungsbedingten Auswanderung vorgenommen wurde. Die Gründe für eine kürzere oder längere Vorbereitungszeit können vielfältiger Art sein und sind im einzelnen meist schwer nachzuweisen. Es ist auch kein zwingender Grund ersichtlich, im Nachhinein für die Entscheidung des Verfolgten bestimmte Grenzen aufzurichten. Der erkennbare Zweck der §§ 9 und 10 WGSVG liegt doch darin, diejenigen Versicherten, die nach ihrem bisherigen Berufsleben zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen zu rechnen sind, durch die Verfolgung aber derartige Tätigkeiten nicht fortsetzen konnten, durch die Möglichkeit einer Beitragsnachentrichtung zu entschädigen. Dies kommt sehr deutlich in der Begründung des Bundestagsaasschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den §§ 9 und 9a des dort erarbeiteten Vorschlags (BT-Drucks. VI/1494 S 3; s. ferner Begründung der Bundesregierung, BT-Drucks. VI/715 S. 10 zu § 9) zum Ausdruck. Dieser Zweck wird nicht dadurch berührt, daß der Verfolgte eine längere Vorbereitung der Auswanderung für erforderlich hielt. Die Beschränkungen in § 9 dienen demgegenüber lediglich dem Zweck, die Beitragsnachentrichtung denjenigen Personen zu verwehren, die das Arbeitsverhältnis nicht wegen der Verfolgung aufgegeben haben, sondern mit dem Ziel, eine andere nichtversicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen, zB eine Tätigkeit als Selbständiger, als Hausfrau oder eine Ausbildung. Für eine derartige Absicht gibt eine längere Vorbereitungszeit grundsätzlich keinen Anhalt und auch im Falle der Klägerin ist ein solcher Anhalt nicht ersichtlich.

Das LSG ist deshalb zu Recht davon ausgegangen, daß die Aufgabe des Arbeitsverhältnisses mit dem Ziel die Auswanderung vorzubereiten einen Verfolgungstatbestand im Sinne des § 9 WGSVG darstellt. Die weiteren Voraussetzungen der §§ 9 und 10 WGSVG sind ebenfalls gegeben. Die Revision kann deshalb keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653229

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