Leitsatz (amtlich)
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 SGB 10 unterliegt bei fehlender Ermessensentscheidung des Rentenversicherungsträgers allein deswegen der Aufhebung (Anschluß an und Bestätigung von BSG vom 15.10.1987 - 1 RA 37/85 = SozR 1300 § 45 Nr 32; Abgrenzung zu BSG vom 4.2.1988 - 11 RAr 26/87 = SozR 1300 § 45 Nr 34).
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs 1, § 35 Abs 1 S 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.01.1987; Aktenzeichen L 11 Ar 719/85) |
SG München (Entscheidung vom 13.08.1985; Aktenzeichen S 21 Ar 1346/84) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente der Klägerin für die Zeit vom 1. Februar 1984 bis 31. Dezember 1985.
Die Klägerin bezog bis zu ihrer Wiederheirat im Jahre 1969 Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Die zweite Ehe wurde im August 1983 rechtskräftig geschieden. Mit Beschluß vom 17. Oktober 1983 übertrug das Familiengericht im Versorgungsausgleich zugunsten der Klägerin Rentenanwartschaften im Wert von 256,05 DM. Seit Februar 1984 erhält die Klägerin von der Landesversicherungsanstalt (LVA) O. Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 9. April 1984 ab 1. Oktober 1983 wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes in Höhe von 469,80 DM monatlich. Hierauf übersandte die Klägerin der Beklagten mit Schreiben vom 24. April 1984 eine Fotokopie des Versichertenrentenbescheides der LVA O. vom 10. Februar 1984. Mit Schreiben vom 18. Mai 1984 wies sodann die Beklagte die Klägerin darauf hin, daß sie beabsichtigte, die Witwenrente um den in der Versichertenrente enthaltenen Versorgungsausgleich zu kürzen. Die Klägerin widersprach. Durch Bescheid vom 4. Juli 1984 stellte die Beklagte die Witwenrente der Klägerin ab 1. Februar 1984 unter Anrechnung des Versorgungsausgleichs neu auf 199,40 DM monatlich fest. Als daraus errechnete Überzahlung forderte sie zugleich den Betrag von 1.933,56 DM zurück.
Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 13. August 1985 ab. Die Berufung der Klägerin, die nach der Neufeststellung der Witwenrente zum 1. Januar 1986 aufgrund der Neufassung des § 1291 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (Bescheid der Beklagten vom 1. September 1986) auf die Zeit vom 1. Februar 1984 bis 31. Dezember 1985 beschränkt wurde, blieb ebenfalls ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 20. Januar 1987). Das LSG hielt die Klageabweisung gemäß § 45 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch -Verwaltungsverfahren- (SGB 10) für gerechtfertigt. Die hier normierten Voraussetzungen für eine (teilweise) Rücknahme des Bewilligungsbescheids vom 9. April 1984 hätten vorgelegen. Dieser Bescheid sei rechtswidrig iS von § 45 Abs 1 SGB 10 gewesen, weil die Beklagte den in der Versichertenrente der Klägerin enthaltenen Versorgungsausgleich entgegen § 1291 Abs 2 Satz 2 RVO in der bis 31. Dezember 1985 gültigen Fassung nicht berücksichtigt habe. Zu den nach dieser Vorschrift anzurechnenden, infolge der Eheauflösung erworbenen Ansprüchen gehöre auch der auf einem Versorgungsausgleich beruhende Teil einer Versichertenrente. Die rückwirkende Neuberechnung der Witwenrente ab 1. Februar 1984 halte sich im Rahmen des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10; für eine Ermessensausübung der Beklagten sei angesichts der für die Klägerin untergeordneten wirtschaftlichen Folgen kein Raum gewesen. Die Fristen des § 45 Abs 3 Satz 1 und Abs 4 Satz 2 SGB 10 seien gewahrt; die notwendige Anhörung der Klägerin habe stattgefunden. Den infolge der Umrechnung überzahlten Betrag von 1.933,56 DM könne die Beklagte gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zurückfordern.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 1291 RVO aF.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Januar 1987 sowie des Urteils des Sozialgerichts München vom 13. August 1985 und weiterhin des Bescheides vom 4. Juli 1984 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch für die Zeit vom 1. Februar 1984 bis 31. Dezember 1985 die ungekürzte Witwenrente, d.h. ohne Anrechnung des Versorgungsausgleichs zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist im Ergebnis begründet.
Es kann offen bleiben, ob der gemäß § 77 SGG bindend gewordene Bescheid der Beklagten vom 9. April 1984 über die Gewährung der wiederaufgelebten Witwenrente für die Zeit vom 1. Februar 1984 an deshalb rechtswidrig ist, weil in ihm der in der Versichertenrente der Klägerin enthaltene Versorgungsausgleich nicht berücksichtigt ist und die Anrechnung desselben auf die wiederaufgelebte Witwenrente auch nach der bis zum 31. Dezember 1985 gültigen Fassung des § 1291 Abs 2 Satz 2 RVO erfolgen müsse. Unterstellt man insoweit, daß der begünstigende Verwaltungsakt der Beklagten vom 9. April 1984 rückwirkend ab 1. Februar 1984 rechtswidrig ist, so darf er - wie das LSG richtig erkannt hat - nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB 10 ab diesem Zeitpunkt zurückgenommen werden.
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes iS dieser Vorschrift ist indes nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Ermessensentscheidung (vgl übereinstimmend SozR 1300 § 45 Nr 12; BSGE 59, 157, 169 = SozR aaO Nr 19; SozR 1300 § 44 Nr 22; Urteil des 1. Senats vom 15. Oktober 1987 - 1 RA 37/85 -; Urteil des 10. Senats vom 9. Dezember 1987 - 10 RKg 3/86 - und Urteil des 11. Senats vom 4. Februar 1988 - 11 RAr 26/87 -). Zwar hat der 9a Senat des BSG in seinem Urteil vom 25. Juni 1986 (BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24) für den Bereich des Versorgungsrechts die Auffassung vertreten, daß bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 Abs 1 SGB 10 im Regelfall für die Ausübung von Ermessen kein Raum bleibe. Dieser Entscheidung sind indes die für die anderen Rechtsgebiete als dem des Versorgungsrechts zuständigen Senate des BSG nicht gefolgt (vgl die nach der Entscheidung des 9a Senats erlassenen Urteile des 1. und 10. Senats vom 15. Oktober 1987 und 9. Dezember 1987 aaO sowie insbesondere die hierfür vom 11. Senat im Urteil vom 4. Februar 1988 aaO gegebene Begründung).
Schon deswegen ist die - lediglich vom 9a Senat im Urteil vom 25. Juni 1986 aaO für den Bereich des Versorgungsrechts geteilte - Ansicht des LSG, für eine Ermessensausübung der Beklagten bleibe "angesichts der für die Klägerin untergeordneten wirtschaftlichen Folgen" kein Raum, nicht zutreffend. Im übrigen ist nicht ersichtlich, weshalb eine "untergeordnete" wirtschaftliche Folge nur auf Seiten der Klägerin vorliegen soll. Gerade dieser Aspekt kann für die Beklagte Anlaß für eine Ermessensausübung sein.
Die Beklagte hat indes im angefochtenen Bescheid vom 4. Juli 1984, mit dem sie die Witwenrente der Klägerin ab 1. Februar 1984 um den in der Versichertenrente enthaltenen Versorgungsausgleich kürzte und insoweit den die Klägerin begünstigenden Witwenrentenbescheid vom 9. April 1984 zurücknahm, keine Ermessensentscheidung getroffen. Insoweit fehlt es bereits an einer hierfür vorgeschriebenen Begründung iS des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10. Die Begründung des Bescheids vom 4. Juli 1984 beschränkt sich vielmehr darauf, daß der infolge der Auflösung der weiteren Ehe von der Klägerin erworbene Versorgungsausgleich auf die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes anzurechnen "ist". Diese Bescheidbegründung läßt erkennen, daß die Beklagte über die Rücknahme des Bescheides vom 9. April 1984 gerade keine Ermessensentscheidung hat treffen wollen, sondern sich zur Aufhebung dieses Bescheides aufgrund der Annahme eines gebundenen Verwaltungshandelns für verpflichtet gehalten hat.
Mit der Entscheidung des 1. Senats vom 15. Oktober 1987 aaO ist der erkennende Senat der Auffassung, daß in einem derartigen Fall allein die fehlende Ermessensentscheidung zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung des Bescheides führt und bei dieser Sach- und Rechtslage kein Anlaß für eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht zwecks Prüfung der weiteren Rechtsvoraussetzungen des § 45 SGB 10 besteht. Die vom 11. Senat im Urteil vom 4. Februar 1988 aaO für den Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) insoweit vertretene gegenteilige Rechtsauffassung steht der hier getroffenen Entscheidung schon deswegen nicht entgegen, weil sie für den vom 1. Senat im Urteil vom 15. Oktober 1987 entschiedenen und mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbaren Fall eine "Ausnahme" annimmt.
Im übrigen hat es der 7. Senat des BSG, auf dessen Rechtsprechung sich der 11.Senat im Urteil vom 4. Februar 1988 beruft, lediglich in konkreten Einzelfällen aus dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung iS des § 170 Abs 2 Satz 2 SGG für untunlich gehalten, in der Sache selbst zu entscheiden (vgl die Urteile des 7. Senats vom 17. April 1986 - 7 RAr 127/84 - und vom 29. September 1987 - 7 RAr 22/86 -). Dies schließt nicht aus, daß der 1. und 5. Senat es für den Bereich der Rentenversicherung für tunlich halten, bei einer wegen fehlender Ermessensentscheidung des Rentenversicherungsträgers begründeten Revision gemäß § 170 Abs 2 Satz 1 SGG in der Sache selbst zu entscheiden, zumal auch nach der Rechtsprechung des 7. Senats des BSG ein zulässiges Nachschieben von Ermessensgründen im Hinblick auf die in den §§ 35 Abs 1, 41 Abs 2 SGB 10 getroffene Regelung durch eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht nicht erreicht werden könnte (vgl SozR 1300 § 45 Nr 19 S 67 und Urteil vom 17. April 1986 aaO).
Auf die Prüfung der weiteren Rechtsvoraussetzungen des § 45 SGB 10, die nach der Rechtsprechung des 7. und 11. Senats im Einzelfall die Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz rechtfertigen soll, kann es somit bei fehlender Ermessensentscheidung dann nicht mehr ankommen, wenn nunmehr ein Rücknahmebescheid iS des § 45 SGB 10 wegen Ablaufs der Jahresfrist des Absatzes 4 Satz 2 der Vorschrift ohnehin unzulässig wäre. Zwar hat der 11. Senat des BSG mit Urteil vom 26. August 1987 (SozR 1300 § 48 Nr 39) entschieden, daß bei Aufhebung eines ersten Aufhebungsbescheides aus Gründen, die einen zweiten Aufhebungsbescheid nicht ausschließen, die Wahrung der Jahresfrist des § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 im ersten Bescheid auch für den zweiten gelte, wenn er unverzüglich nach Aufhebung des ersten ergehe. Diese in dem genannten Urteil für den Fall einer vor Erlaß des ersten Bescheids unterbliebenen Anhörung des Betroffenen vertretene Rechtsauffassung hat der 11. Senat - wie seinem weiteren Urteil vom 4. Februar 1988 aaO zu entnehmen ist - auch für den Fall einer im ersten Bescheid fehlenden Ermessensentscheidung ohne zusätzliche Begründung bestätigt. Der erkennende Senat hat indes mangels einer entsprechenden Revisionssache bis dato nicht entscheiden können, ob er sich dieser Rechtsauffassung anschließt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen