Leitsatz (amtlich)
Wenn nicht iS des § 1 Abs 3 S 3 BVG in der vom 1.1.1981 an geltenden Fassung "unzweifelhaft feststeht", daß eine Gesundheitsstörung nicht die Folge einer Schädigung ist, so stand dies auch nicht "außer Zweifel" iS des seit 1.1.1981 nicht mehr geltenden § 41 KOVVfG. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Unrichtigkeit der Anerkennung einer Gesundheitsstörung nicht wegen neuerer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft geltend gemacht wird (Klarstellung des Verhältnisses in BSG vom 13.5. 1987 9a RVi 4/85 und vom 8.10.1987 4b RV 47/86 = SozR 3100 § 1 Nr 38 und Nr 39).
Normenkette
BVG § 1 Abs 3 S 3; SVG § 81 Abs 5 S 3; KOVVfG § 41
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.04.1987; Aktenzeichen L 4 V 88/86) |
SG Mainz (Entscheidung vom 09.06.1986; Aktenzeichen S 4 V 24/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Rücknahmebescheides nach § 81 Abs 5 Satz 3 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG).
Der im Jahre 1949 geborene Kläger leistete von Januar 1971 bis Juni 1972 seinen Grundwehrdienst. Im Verlaufe dieser Zeit wurde er ua wegen eines grippalen Infektes behandelt. 1973 wurde bei ihm eine Niereninsuffizienz festgestellt, die die dauernde Behandlung mit einer künstlichen Niere erforderlich macht. Auf Antrag des Klägers erkannte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 13. September 1976 eine terminale Niereninsuffizienz nach chronischer Glomerulonephritis als Wehrdienstbeschädigung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH an. Grundlage für dieses Anerkenntnis war ein fachinternistisches Gutachten der Universitätsklinik M , in dem es für wahrscheinlich gehalten wurde, daß die beim Kläger festgestellte Nierenerkrankung zur Zeit seines Wehrdienstes durch eine Infektion mit nephritogenen Streptokokken entstanden sei.
Nachdem der ältere Bruder des Klägers und seine Schwester ebenfalls an Niereninsuffizienz erkrankt waren, nahm das Versorgungsamt durch Bescheid vom 21. Mai 1984 den Anerkennungsbescheid und die weiteren Anpassungsbescheide zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, es bestünden jetzt ärztlicherseits keine vernünftigen Zweifel, daß es sich bei der Nierenerkrankung nicht um ein im Wehrdienst erworbenes, sondern um ein anlagebedingtes Leiden handele. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1985).
Das Sozialgericht (SG) Mainz hat durch Urteil vom 9. Juni 1986 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 7. April 1987 das Urteil des SG geändert und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 81 Abs 5 Satz 3 SVG für eine Rücknahme lägen nicht vor. Auch nach den neuen Erkenntnissen stehe nicht außer Zweifel, daß die Gesundheitsstörung nicht Folge einer Wehrdienstbeschädigung sei. Eine hohe Wahrscheinlichkeit reiche zur Rücknahme nicht aus. Aufgrund der ärztlichen Gutachten verbleibe ein Rest an Unsicherheit über die Art und Ursache der Erkrankung des Klägers, der sich nicht ausräumen lasse. Der Rücknahmebescheid lasse sich auch nicht auf § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) stützen, weil § 81 Abs 5 Satz 3 SVG als lex specialis vorgehe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Versorgungsverwaltung weiterhin geltend, es bestünden keine vernünftigen Zweifel daran, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Wehrdienst und Nierenerkrankung nicht bestehe. Das LSG habe die Beweise unzutreffend gewürdigt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. April 1987 zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 9. Juni 1986 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Beklagte die Anerkennung des Nierenleidens als Wehrdienstbeschädigung nicht zurücknehmen durfte.
Die Versorgungsverwaltung hat die angefochtenen Bescheide auf § 81 Abs 5 Satz 3 SVG gestützt. Danach kann die Anerkennung des Versorgungsanspruchs zurückgenommen werden, "wenn unzweifelhaft feststeht, daß die Gesundheitsstörung nicht Folge einer Schädigung ist".
Diese Vorschrift ist ebenso wie die gleichlautenden Vorschriften der anderen Rechtsgebiete des sozialen Entschädigungsrechts (§ 1 Abs 1 Satz 3 des Bundesversorgungsgesetzes -BVG-, § 4 Abs 3 Satz 3 des Häftlingshilfegesetzes, § 47 Abs 6 Satz 3 des Zivildienstgesetzes und § 52 Abs 2 Satz 4 des Bundesseuchengesetzes -BSeuchG-) zusammen mit Artikel 45 SGB 10 am 1. Januar 1981 in Kraft getreten (Art II § 40 Abs 1 SGB 10 vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -). Bis zu diesem Zeitpunkt war die Rücknahme der Anerkennung eines Leidens als Schädigungsfolge nur unter den Voraussetzungen des § 41 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 6. Mai 1976 (BGBl I S 1169 -KOVVfG- zuletzt geändert durch Art II § 16 SGB 10) möglich, der folgenden Wortlaut hatte: "Bescheide über Rechtsansprüche können zu Ungunsten des Berechtigten von der zuständigen Verwaltungsbehörde geändert oder aufgehoben werden, wenn außer Zweifel steht, daß sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind."
Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 13. Mai 1987 - 9a RVi 4/85 - SozR 3100 § 1 Nr 38 - zu der inhaltlich dem § 81 Abs 5 Satz 3 SVG entsprechenden Vorschrift des § 52 Abs 2 Satz 4 BSeuchG ausgeführt, daß sie eine Sonderregelung gegenüber § 45 SGB 10 darstelle, die dazu ermächtige, zweifelsfrei fehlerhafte Bescheide über die Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolge ohne Interessenabwägung im Einzelfall und ohne zeitliche Einschränkung, insbesondere ohne Bindung an bestimmte Fristen, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu der Rücknahmevorschrift des § 45 SGB 10 (vgl Art II §40 Abs 2 Satz 2 SGB 10; dazu Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts -BSG- in BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3) hat der Senat die Rücknahme nach § 52 Abs 2 Satz 4 BSeuchG auch auf die Fälle für anwendbar gehalten, in denen die Anerkennung einer Schädigungsfolge bereits vor dem 1. Januar 1981 erfolgt war.
Der 4b Senat hat hingegen in seinem Urteil vom 8. Oktober 1987 - 4b RV 47/86 =SozR 3100 § 1 Nr 39 - demgegenüber ausgeführt, daß § 1 Abs 3 Satz 3 BVG in der seit dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung gerade nicht auf solche Fälle anzuwenden sei, in denen die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge bereits vor dem 1. Januar 1981 erfolgt ist; in solchen Fällen sei vielmehr nach wie vor § 41 KOVVfG anwendbar. Er hat dies vor allem damit begründet, daß die frühere Regelung die Rücknahme rechtswidriger Bescheide nur unter engeren Voraussetzungen zugelassen habe, für die Betroffenen also günstiger gewesen sei. Günstiger sei sie insofern gewesen, als eine Rücknahme nicht möglich gewesen sei, wenn sich die Unrichtigkeit des früheren Bescheides erst aufgrund späterer Fortschritte der medizinischen Wissenschaft herausgestellt habe, er also zum Zeitpunkt seines Erlasses dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprochen habe (unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des BSG, zB BSGE 29, 37, 39 = SozR Nr 28 zu § 41 VerwVG; BSG SozR 1300 § 45 Nr 5). Nach der Neufassung des § 1 Abs 3 Satz 3 BVG komme es aber nur noch darauf an, wie sich der frühere Bescheid auch unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnisse darstelle. Soweit die Betroffenen bereits nach der früheren Rechtslage eine unangreifbare Rechtsposition erlangt hätten, sei ihr Vertrauen schutzwürdig. Gegen die nachträgliche Entziehung dieser Rechtsposition bestünden auch verfassungsrechtliche Bedenken. Bei verfassungskonformer Auslegung des neuen Rechts sei sein zeitlicher Anwendungsbereich deshalb erst auf nach dem 1. Januar 1981 ergangene Anerkennungsbescheide zu beschränken.
Wenn der 4b Senat diese Rechtsausführungen auch zu § 1 Abs 3 Satz 3 BVG gemacht hat, kann für die gleichlautende Vorschrift des § 81 Abs 5 Satz 3 SVG nichts anderes gemeint sein.
Der erkennende nunmehr für das Recht der sozialen Entschädigung allein zuständige Senat hält diese Ausführung des 4b-Senats für die Fälle beachtlich, in denen sich herausstellt, daß eine vor Inkrafttreten des neuen Verfahrensrechts erfolgte Anerkennung nicht mehr rücknehmbar gewesen wäre, aber nach neuem Verfahrensrecht zurückgenommen werden müßte. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Sowohl nach altem wie auch nach neuem Verfahrensrecht ist die Anerkennung vom 13. September 1976 nicht rücknehmbar.
Für § 41 VerwVfG-KOV müßten die Verhältnisse so sein, daß die Unrichtigkeit der früheren Bescheide "außer Zweifel" steht. Nach § 81 Abs 5 Satz 3 SVG kann nur zurückgenommen werden, wenn die Unrichtigkeit der Kausalitätsfeststellung "unzweifelhaft feststeht". Der Senat sieht keinen Grund dafür, daß beide Vorschriften einen unterschiedlichen Grad der Überzeugung von der Unrichtigkeit der früheren Feststellung festlegen wollen.
Wenn das LSG auch nur § 81 Abs 5 Satz 3 SVG als Ermächtigungsgrundlage geprüft hat, so ist es doch in jedem Fall vom zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen. Es hat geprüft, ob aufgrund der neueren Erkenntnisse, insbesondere der in der Familie des Klägers aufgetretenen anlagebedingten Nierenerkrankungen nunmehr die Unrichtigkeit des früheren Bescheides so feststeht, daß jede, auch fernliegende Möglichkeit, es könne anders sein, ausgeschlossen erscheint (BSGE 6, 106; BSG SozR Nr 30 zu § 41 VerwVG; SozR 3900 § 41 Nr 1).
Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, daß zwar eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit des früheren Bescheides spreche, jedoch die Möglichkeit eines durch den Wehrdienst verursachten Leidens nicht vollständig ausgeräumt sei. Es hat sich dabei auf die vorliegenden medizinischen Gutachten und Ausführungen gestützt und die verbleibenden Zweifel darin gesehen, daß das in der Familie des Klägers aufgetretene Nierenleiden nur 50 % der jeweiligen Nachkommen betreffe und schon von daher die Möglichkeit, daß es sich im Fall des Klägers um ein erworbenes Leiden handele, nicht ausgeschlossen werden könne. Diese Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden. Sie geht von den zutreffenden rechtlichen Voraussetzungen aus, verstößt nicht gegen anerkannte Beweisgrundsätze und auch nicht gegen Denk- und Erfahrungssätze. Nur insoweit ist die Beweiswürdigung im Revisionsverfahren überprüfbar, im übrigen ist sie für die Revisionsinstanz bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Mit seinem Vorbringen, das letztlich nur auf eine andere Beweiswürdigung hinausläuft, kann der Beklagte deshalb im Revisionsverfahren keinen Erfolg haben (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 31; BSG KOV 1959, 150).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen