Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitwirkungspflicht des Klägers bei der Sachaufklärung. Folgen einer unzureichenden Mitwirkung
Leitsatz (amtlich)
Zur Belehrungspflicht gegenüber einem Kläger, der an einer notwendigen psychiatrischen Untersuchung mitwirken soll und einer Aufforderung dazu nicht unverzüglich folgt.
Orientierungssatz
§ 66 Abs 3 SGB 1 regelt eine Voraussetzung für die Versagung oder Entziehung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung, ua bei einer ärztlichen Untersuchung (§ 62 SGB 1) im Verwaltungsverfahren (§ 66 Abs 1 und 2 SGB 1). Im Gerichtsverfahren ist hingegen eine Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Sachaufklärung allein bedeutsam für die Beweiswürdigung; sie kann zur Folge haben, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht als erwiesen anzusehen sind (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Dann ist der Klageanspruch nicht begründet. Indes wird auch im Prozeß, ungeachtet des § 66 Abs 3 SGB 1, regelmäßig als Voraussetzung einer solchen Folgerung verlangt, daß das Gericht zuvor den Beteiligten hinreichend über seine Mitwirkungspflicht und über jene Auswirkung einer unbegründeten Weigerung belehrt hat (vgl BSG 11.11.1971 1 RA 63/70 = SozR Nr 55 zu § 103 SGG).
Normenkette
SGG § 103 S 1 Halbs 2, § 128 Abs 1 S 1; SGB 1 § 66 Abs 3
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 29.08.1985; Aktenzeichen L 5 V 564/81) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 03.02.1981; Aktenzeichen S 12 V 878/80) |
Tatbestand
Der Kläger, der in Österreich lebt, war vom 2. Mai bis zum 26. September 1945 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit in jugoslawischer Haft. Auf schädigende Einwirkungen dieses Lageraufenthalts führt er mehrere Gesundheitsstörungen zurück. Sein Versorgungsantrag nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 25. Januar 1979, Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1980, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 3. Februar 1981 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 29. August 1985). Das LSG hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen zahlreichen Gesundheitsstörungen, die der Kläger geltend macht, und Hafteinwirkungen als nicht wahrscheinlich beurteilt. Insbesondere hätte dies nicht für ein Nervenleiden und für Störungen im urologischen Bereich zugunsten des Klägers geklärt werden können. Die vom Urologen für notwendig erachteten Untersuchungen als Grundlage für eine fachliche Begutachtung seien nicht möglich gewesen, weil der Kläger die Mitwirkung daran abgelehnt habe. Das Gericht hat sich mit Gutachten begnügt, die nach Aktenlage erstellt worden sind.
Der Kläger rügt mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung der §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG), des § 1 Abs 3 BVG und des § 66 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1). Das Berufungsgericht hätte ein psychiatrisch-neurologisches und ein urologisches Gutachten auf Grund von Untersuchungen des Klägers einholen müssen. Zwei Sachverständige für diese Fachgebiete hätten in ihren nach Aktenlage erstatteten Gutachten diese Sachaufklärung für erforderlich erklärt. Der Kläger hätte über die Folgen einer Weigerung, bei diesen Beweiserhebungen mitzuwirken, vom Gericht hinreichend belehrt werden müssen. Dies sei nicht geschehen. Deshalb hätte seine Äußerung, er könne sich jetzt aus gesundheitlichen Gründen nicht nochmals untersuchen lassen, nicht als endgültige Weigerung gewertet werden dürfen.
Auf Anfrage des Revisionsgerichts hat der Kläger persönlich ausdrücklich erklärt, er wolle an den notwendigen Untersuchungen mitwirken.
Der Kläger beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist zu gewähren.
In der Sache beantragt er, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Nach seiner Auffassung hat die Revision einen Beweisantrag nicht dargetan.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Dem Kläger war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeten Versäumens der Revisionsfrist zu gewähren (§ 67 SGG); er war wegen der wirtschaftlichen Voraussetzung für eine Prozeßkostenhilfe gehindert, rechtzeitig einen Prozeßbevollmächtigten zu beauftragen.
Die Revision des Klägers hat teilweise Erfolg.
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem BVG wegen verschiedener Gesundheitsstörungen als wahrscheinlichen Folgen seiner jugoslawischen Haft (§ 1 Abs 1 und 2 Buchstaben a und c, Abs 3 Satz 1, § 5 Abs 1 Buchstabe d, § 9 BVG). Soweit es um die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anerkennung von psychiatrisch-neurologischen und von urologischen Störungen als Schädigungsfolgen (BSG SozR Nr 81 zu § 1 BVG) und um einen darauf beruhenden Versorgungsanspruch geht, hat der Kläger formgerecht und zutreffend gerügt, daß das LSG seine Sachaufklärungspflicht (§ 153 Abs 1, §§ 155, 103 Satz 1 Halbs 1 und Satz 2, § 106 Abs 3 Nr 4 SGG) verletzt hat. Damit fehlt es insoweit an verbindlichen tatsächlichen Feststellungen für eine Sachentscheidung (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Bezüglich dieser selbständigen Ansprüche und teilbaren Streitgegenstände (§§ 123, 141 Abs 1 SGG) ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG; stRspr, zB BSGE 41, 80, 81 = SozR 3100 § 35 Nr 2; Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz und seine Anwendung, § 170 Abs 2 und 3, Rz 15b; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, 1981, § 170, Rz 6).
Dem Berufungsgericht hätte es sich auf Grund von Äußerungen des Urologen Dr. S. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13. August 1984 und des Nervenarztes Prof. Dr. F. im Aktengutachten vom 21. Januar 1985 aufdrängen müssen, den Kläger von Sachverständigen dieser beiden Fachgebiete untersuchen und begutachten zu lassen. Die beigezogenen Befundunterlagen und die nach Aktenlage erstatteten Gutachten ergaben kein zureichendes Bild über die beim Kläger im psychiatrisch-neurologischen und im urologischen Bereich bestehenden Gesundheitsstörungen. Erst wenn die Krankheitsbilder auf diesen medizinischen Gebieten durch erforderliche ambulante oder notfalls stationäre Untersuchungen geklärt sind, ließe sich fachärztlich beurteilen, ob die festgestellten Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit durch schädigende Einwirkungen der jugoslawischen Haft als wesentliche Allein- oder Mitbedingung anhaltend verursacht worden sind. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die noch erforderlichen Beweiserhebungen zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis führen. Medizinische Sachverständige könnten den Kläger bei ihren Untersuchungen auch fachlich gezielt nach Haftumständen befragen, die als Krankheitsursachen in Betracht kommen, sowie nach dem Krankheitsbeginn und -verlauf. Diese Aufklärung wäre notwendig als Grundlage für die richterliche Entscheidung, welche Einwirkungen als erwiesen anzusehen sind. Vorab müßte medizinisch geklärt werden, ob nach allgemeiner Erfahrung schwere Belastungen und Schädigungen in einer so kurzen Haft, wie sie der Kläger erlitten hat, schädigende Auswirkungen auf psychiatrisch-neurologischem Gebiet schlechthin nicht erwarten lassen.
Die gebotene Beweiserhebung erübrigte sich nicht deshalb, weil der Kläger nicht in der gebotenen Weise bei den ärztlichen Untersuchungen hätte mitwirken wollen (§ 103 Satz 1 Halbs 2 SGG; Meyer-Ladewig, aaO, § 103, Rz 13 ff; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 103, Anm 3; aA Heinze, SGb 1984, 390, 395 f). Bevor das Gericht aus der Erklärung des Klägers, aus gesundheitlichen Gründen könne er zur Zeit nicht zur ärztlichen Untersuchung erscheinen, folgern durfte, er mache endgültig die gebotene Sachaufklärung unmöglich, hätte es ihn hinreichend über die Folgen eines solchen Verhaltens schriftlich belehren müssen. Das folgt entgegen der Rechtsansicht der Revision nicht aus der Vorschrift des § 66 Abs 3 SGB 1 vom 11. Dezember 1975 (BGBl I 3015), die eine entsprechende Regelung enthält (BSG SozR 1500 § 160 Nr 34; Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 103, Anm 3 S II/74-8f; aA anscheinend Meyer-Ladewig, § 103, Rz 17). Diese Bestimmung regelt eine Voraussetzung für die Versagung oder Entziehung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung, ua bei einer ärztlichen Untersuchung (§ 62 SGB 1) im Verwaltungsverfahren (§ 66 Abs 1 und 2 SGB 1). Im Gerichtsverfahren ist hingegen eine Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Sachaufklärung allein bedeutsam für die Beweiswürdigung; sie kann zur Folge haben, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht als erwiesen anzusehen sind (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Dann ist der Klageanspruch nicht begründet. Indes wird auch im Prozeß, ungeachtet des § 66 Abs 3 SGB 1, regelmäßig als Voraussetzung einer solchen Folgerung verlangt, daß das Gericht zuvor den Beteiligten hinreichend über seine Mitwirkungspflicht und über jene Auswirkung einer unbegründeten Weigerung belehrt hat (BSG SozR Nr 55 zu § 103 SGG; Meyer-Ladewig, aaO). Daran fehlte es im Schreiben des LSG vom 27. Juli 1983, in dem der Kläger bloß gefragt wurde, ob er zur Untersuchung in G. oder in der näheren Umgebung bereit und in der Lage sei. Das Berufungsgericht hat ohne weitere Nachfrage auf Grund der oben zitierten Erklärung des Klägers Begutachtungen nach Aktenlage angeordnet. Der Kläger hat aber im Revisionsverfahren auf genaueres Befragen verbindlich erklärt, er wolle sich den erforderlichen Untersuchungen unterziehen.
Im übrigen ist die Revision nicht zulässig, was für jeden einzelnen selbständigen Anspruch gesondert zu prüfen und zu entscheiden ist (BSGE 7, 35, 38 f). Die Frage, die die Grundlage des gesamten Berufungsurteils betrifft, ob nämlich die mitwirkenden ehrenamtlichen Richter ordnungsmäßig berufen worden waren, ist nicht Gegenstand der Revision. Der Kläger hat ausdrücklich erklärt, eine darauf bezogene Revisionsrüge erhebe er nicht. Diese Frage ist im übrigen inzwischen höchstrichterlich geklärt (Bundesverfassungsgericht SozR 1500 § 13 Nr 1; zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Januar 1986 - 11a RA 46/85 -.
Gegen die Entscheidung über die einzelnen anderen selbständigen Ansprüche, dh bezüglich der Nichtbewertung einzelner anderer Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen sowie des Ausschlusses einer BVG-Entschädigung für die jugoslawische Haft als solche und für eine anschließende Arbeitslosigkeit, hat der Kläger keine Revisionsrügen geltend gemacht. Damit ist insoweit die Revision unzulässig (BSG SozR 1500 § 164 Nr 22) und zu verwerfen (§ 169 Satz 1 und 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen