Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgeleitete Ansprüche. Gegenseitigkeitsprinzip. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Gegenseitigkeitsprinzip des § 1 Abs 4 OEG schließt die Entschädigungsansprüche bestimmter Ausländergruppen nicht schlechthin aus, sondern bringt sie nur zum Ruhen.
2. Den Ansprüchen deutscher Hinterbliebener eines im Inland getöteten Ausländers steht das Gegenseitigkeitsprinzip nicht entgegen.
Orientierungssatz
1. Hinterbliebenenansprüche nach dem OEG sind sogenannte abgeleitete Ansprüche. Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung im Entschädigungsrecht können nur entstehen, wenn der Geschädigte ein Recht auf Leistung hatte; mag ihm dieses Entschädigungsrecht auch nur im Augenblick der tödlichen Verletzung zugestanden haben. Das entspricht einem ungeschriebenen Rechtsgrundsatz, der im Recht der unerlaubten Handlung uneingeschränkt gilt, der im Recht der Kriegsopferversorgung anerkannt ist und den der Senat auch im Opferentschädigungsrecht angewandt hat (vgl ua BSG vom 23.10.1985 9a RVg 4/83 = SozR 3800 § 1 Nr 5).
2. Zum Sinn und Zweck des völkerrechtlich anerkannten Gegenseitigkeitsprinzips.
3. Es widerspricht dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel in Art 3 GG, einzelne Ausländergruppen unter Hinweis auf das Gegenseitigkeitsprinzip stärker zu belasten, als dies das Gegenseitigkeitsprinzip verlangt.
4. Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG besteht für die deutschen Hinterbliebenen eines durch Gewalttat tödlich verletzten ausländischen Staatsangehörigen (hier: Inder) auch dann, wenn eine Schädigung iS des § 1 Abs 1 und 5 OEG vorgelegen hat, der Anspruch des geschädigten Ausländers jedoch iS des § 1 Abs 4 OEG geruht hätte, solange die Gegenseitigkeit im Verhältnis zum anderen Staat nicht besteht.
Normenkette
OEG § 1 Abs 1; OEG § 1 Abs 4; OEG § 1 Abs 5; GG Art 3 Abs 1
Verfahrensgang
SG Münster (Entscheidung vom 14.08.1984; Aktenzeichen S 13 V 101/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Hinterbliebenenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe eines Inders. Mit ihm führte sie in Niedersachsen einen gemeinsamen Haushalt. Ihrer Ehe mit dem Inder entstammt der 1981 geborene Kläger zu 4). Die beiden 1977 geborenen Kläger zu 2) und 3) sind aus der ersten Ehe der Klägerin zu 1) hervorgegangen und waren von dem Inder in den Haushalt aufgenommen worden.
Am 20. Mai 1982 wurde der Ehemann der Klägerin zu 1) nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung von einem Deutschen mit einem Bajonett tödlich verletzt. Deswegen verurteilte das Landgericht den Täter wegen Totschlags und dessen Ehefrau wegen Beihilfe zum Totschlag rechtskräftig jeweils zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe.
Den Antrag der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG lehnte das Versorgungsamt ab, weil der Geschädigte Ausländer iS des § 1 Abs 4 OEG gewesen und im Verhältnis zu Indien die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet sei (Bescheid vom 21. Juni 1983).
Dagegen hat das Sozialgericht (SG) den Klagen ab Juni 1982 stattgegeben (Urteil vom 17. August 1984): § 1 Abs 4 OEG sei allein ein personenbezogener Anspruchsausschließungsgrund. Auf deutsche Hinterbliebene treffe er nicht zu, selbst wenn der Geschädigte Ausländer gewesen sei.
Mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision rügt der Beklagte die Verletzung des § 1 Abs 4 OEG.
Er meint, das SG habe ein Prinzip des kausalen Entschädigungsrechts verkannt. Hinterbliebenenversorgung setze danach voraus, daß der Anspruch dem Grunde nach in der Person des Geschädigten entstanden sei. Daran aber habe es gefehlt. Die Voraussetzungen des § 1 Abs 4 OEG wirkten vor allem und allein in der Person des Geschädigten anspruchsvernichtend. Seien sie erfüllt, dann könne der Geschädigte kein Opfer iS des OEG mehr sein. Von ihm könnten dann auch keine Hinterbliebenenansprüche mehr abgeleitet werden. Dem entspreche die Gesetzessystematik.
Die Beigeladene schließt sich der Auffassung des Beklagten an.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist unbegründet.
Das SG hat den Klägern zu Recht Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG zugesprochen. Denn die Kläger sind deutsche Hinterbliebene eines Geschädigten iS des OEG, in dessen Person ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG entstanden war (§ 1 Abs 1 und 5 OEG). Die durch den Tod erloschene ausländische Staatsangehörigkeit des verstorbenen Geschädigten kann sich auch nach § 1 Abs 4 OEG nicht zu ihren Lasten auswirken.
Diese Vorschrift: "Ausländer haben keinen Anspruch auf Versorgung, wenn die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet ist", bedarf indessen der Auslegung. Wenn der Wortlaut "haben keinen Anspruch" dahin zu verstehen wäre, daß unter den übrigen Voraussetzungen dieser Vorschrift für den Geschädigten kein Entschädigungsanspruch entstehen könnte, wären auch die Klageansprüche unbegründet.
Das trifft aber nicht zu.
Grundsätzlich - darin ist dem Beklagten zuzustimmen - sind auch die Hinterbliebenenansprüche nach dem OEG sogenannte abgeleitete Ansprüche. Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung im Entschädigungsrecht können nur entstehen, wenn der Geschädigte ein Recht auf Leistung hatte; mag ihm dieses Entschädigungsrecht auch nur im Augenblick der tödlichen Verletzung zugestanden haben. Das entspricht einem ungeschriebenen Rechtsgrundsatz, der im Recht der unerlaubten Handlung uneingeschränkt gilt (Schäfer in Staudinger BGB, 12. Aufl, § 844 Rdn 20; Zeuner in Soergel, BGB, 11. Aufl, § 844 Rdn 2; Thomas in Palandt, BGB, 45. Aufl, § 844 Anm 1), der im Recht der Kriegsopferversorgung anerkannt ist (BSGE 11, 50, 52; BSG vom 9. Dezember 1969 - 10 RV 633/67 - in KOV 1970, 109, 110) und den der Senat auch im Opferentschädigungsrecht angewandt hat (BSGE 49, 104, 106f= SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 57, 168, 169 = SozR 3800 § 2 Nr 5; BSG SozR 3800 § 1 Nr 5). Dieser Rechtsgrundsatz liegt auch dem Zweck der Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG zugrunde.
Das Recht auf Entschädigung entsteht, wenn sämtliche materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen in der Person des Geschädigten erfüllt sind (§ 40 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB 1). Wie der Senat bereits entschieden hat, gehören dazu nicht nur die entschädigungsrechtlich geschützten Tatbestände des § 1 Abs 1 bis 3 OEG, sondern auch die negativen Umstände, daß bei dem Geschädigten persönlich anspruchshindernde Versagensgründe nach § 2 OEG fehlen (BSGE 49, aaO; 57, aaO). Nur für gesundheitliche Schäden unter solchen sachlichen und persönlichen Grundvoraussetzungen wollte der Gesetzgeber einem bestimmten Personenkreis gegenüber die entschädigungsrechtliche Verantwortung übernehmen. Das gilt gleichermaßen für die Person eines Geschädigten wie die eines Hinterbliebenen.
Das SG hat zu Recht entschieden, daß der Geschädigte im vorliegenden Fall alle diese Grundvoraussetzungen eines Leistungsrechts erfüllt hat. Darüber besteht auch kein Streit.
Das Recht auf Entschädigung, bei wiederkehrenden Leistungen das sogenannte Stammrecht, besteht aber, wie beim Ruhen von Ansprüchen und sonstigen rechtshemmenden Tatsachen herausgearbeitet worden ist, getrennt von der weiteren Befugnis, dieses Recht auch durchsetzen und die Gewährung der Leistung verlangen zu können (vgl Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl, § 11 I S 33; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, 13. Aufl, § 2 III S 19 f; Bley, Sozialrecht, 5. Aufl, B IV, S 82; BSGE 20, 161, 163 = SozR Nr 7 zu § 65 BVG; BSGE 20, 209, 214 = SozR Nr 2 zu § 48 BVG; BSGE 44, 226, 228 = SozR 2200 § 1241 Nr 5). So betrifft § 1 Abs 4 OEG nur diese Durchsetzungsbefugnis, während das Recht auf Entschädigung ruht.
Der Gesetzeswortlaut könnte zwar mit dem Begriff "Anspruch" auch den materiell-rechtlichen Anspruch, das Recht auf Entschädigung, ausschließen. Diese Auslegung ist aber nach dem Zweck, der mit dem Gegenseitigkeitsprinzip verfolgt wird, nicht vereinbar. Um dem Gegenseitigkeitsprinzip Geltung zu verschaffen, muß nicht gleich die Entstehung des Rechts auf Entschädigung ausgeschlossen werden. Es reicht stattdessen aus, daß der Durchsetzung dieses Rechts ein vorläufiges (rechtshemmendes) Hindernis entgegengesetzt wird. Der Sinn des völkerrechtlich anerkannten Gegenseitigkeitsprinzips (vgl Schaumann in Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1960, 630 "Gegenseitigkeit"; Verdross und Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl, S 48 ff) besteht darin, Angehörigen anderer Staaten im Inland keine Rechte einzuräumen, die ein Deutscher in ihrem Heimatland nicht genießt. Dieser Grund ist maßgebend für den Zweck, den anderen Staaten die Gleichstellung ihrer Staatsangehörigen als Gegenleistung für eine entsprechende Verstärkung des Schutzes der eigenen Staatsbürger anbieten zu können. Durch Abschluß von Staatsverträgen oder in anderer Weise sollen Regelungen erreicht werden, die für beide Seiten dadurch von Nutzen sind, daß sie den jeweiligen Ausländern "inländergleiche" Rechte verschaffen (BVerfGE 30, 409, 414). Diese Erwägung ist vernünftig und sachlich einleuchtend. Sie entspricht den traditionellen Aufgaben des Staates, auch außerhalb seiner Grenzen den Schutz der eigenen Staatsbürger nach Möglichkeit zu gewährleisten (BVerfGE 30, aaO; BVerfG NVwZ 1983, 89).
Dieser Zweck des § 1 Abs 4 OEG kann am besten dadurch erreicht werden, daß das Recht auf Entschädigung anerkannt wird und die Versorgungsleistungen nur zurückgehalten werden. Denn ein bestehendes Leistungsrecht, das sofort verwirklicht werden könnte, wenn der ausländische Staat die Gegenseitigkeit herstellte, kann eher wie ein "Faustpfand" (vgl BVerfGE 51, 1, 25 = SozR 2200 § 1315 Nr 5) verwendet werden, als ein noch nicht entstandener Anspruch.
Aber auch wenn man den Sinn des Gegenseitigkeitsprinzips nicht für ausreichend halten wollte, den Umfang der Leistungsversagung nach § 1 Abs 4 OEG entsprechend einzuschränken, könnte nicht anders entschieden werden. Denn es würde dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel in Art 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) widersprechen, einzelne Ausländergruppen unter Hinweis auf das Gegenseitigkeitsprinzip stärker zu belasten, als dies das Gegenseitigkeitsprinzip verlangt. Für eine stärkere Belastung, wie sie der Beklagte und die beigeladene Bundesrepublik verlangen, bestünde kein sachlicher Grund.
Trotz der indischen Staatsangehörigkeit ihres getöteten Ehemannes bzw Vaters oder Stiefvaters stehen den deutschen Klägern also die geltend gemachten Hinterbliebenenansprüche zu, weil sein Entschädigungsanspruch durch § 1 Abs 4 OEG nicht ausgeschlossen, sondern nur zum Ruhen gebracht worden wäre.
Das entspricht auch der Gesetzessystematik des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), auf das das OEG weitgehend Bezug nimmt (§ 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 5 OEG). Nach dem BVG sind die Hinterbliebenenansprüche nicht davon abhängig, daß eine persönliche Eigenschaft, wie zB eine bestimmte Staatsangehörigkeit, als Anspruchsvoraussetzung sowohl in der Person des Beschädigten als auch in derjenigen des Hinterbliebenen gegeben ist (vgl zu der Vertriebeneneigenschaft nach § 2 Abs 2 BVG: BSGE 36, 255, 257 = SozR Nr 72 zu § 1251 RVO). Auch die Zugehörigkeit zum versorgungsberechtigten Personenkreis nach § 7 BVG ist von den anspruchsbegründenden Tatbeständen im Sinne der §§ 1 bis 5 BVG (vgl BSGE 30, 115, 116 f = SozR Nr 8 zu § 7 BVG) ebenso wie von den tatsächlichen Umständen, die schon die Entstehung des materiell-rechtlichen Anspruchs hindern, zu unterscheiden; sie muß nur in der Person desjenigen gegeben sein, der für sich Versorgung beansprucht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen